18. Januar 1912: Als Robert Falcon Scott am Ende seiner unmenschlich strapaziösen Expedition den Südpol erreicht, erblickt er eine Flagge, die seine schlimmste Befürchtung wahr werden lässt: Er hat das Rennen gegen seinen großen Konkurrenten Amundsen verloren. Ranulph Fiennes erzählt die Geschichte von Scotts fataler Antarktis-Expedition mit der Erfahrung und Einfühlung desjenigen, der selbst genau dort war: im Eis und an den Grenzen des Erträglichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2013Die Wahrheit liegt im ewigen Eis
Über die Hölle schreibt am besten nur einer, der selbst dort gewesen ist: Ranulph Fiennes legt eine Biographie über den Polarforscher Robert Scott vor - und greift dessen Kritiker scharf an.
Am 17. Januar 1911 standen fünf Briten am Südpol vor einer norwegischen Fahne. Der Trupp um den Engländer Robert Falcon Scott kam drei Wochen zu spät: Der Norweger Roald Amundsen hatte den Wettlauf zum Südpol gewonnen. Geschlagen machten sich die Briten auf den Rückweg - und fanden den Tod im südpolaren Schelfeis. In der Heimat wurden sie trotzdem als Helden gefeiert. Scotts Tagebuch, das er bis zum bitteren Ende geführt hatte, wurde ein Bestseller. Sein letzter Eintrag vom 29. März - "In Gottes Namen, seht nach unseren Leuten" - machte ihn zum Inbegriff des britischen Gentleman.
Das änderte sich, als 1979 Roland Huntfords Biographie erschien. Der Autor warf Scott Inkompetenz vor und behauptete, der Polarforscher sei ein Stümper gewesen, der die Schuld am Tod seiner Kameraden trage. Diese Sichtweise änderte die Rezeption Scotts in den englischsprachigen Ländern nachhaltig. Huntford war der Meinungsführer, andere Biographen folgten ihm. 1985 vertiefte eine Fernsehdokumentation das Bild Scotts als Pfuscher. Erst im neuen Jahrtausend wurde Kritik an Huntfords "antihistorischem" Urteil laut: Prominentester Huntford-Kritiker ist Sir Ranulph Fiennes, dessen 2003 erschienenes Buch "Scott. Das Leben einer Legende" nun auf Deutsch vorliegt.
Als bekennender Bewunderer Scotts reitet Fiennes darin eine scharfe Attacke auf Huntford und widerlegt dessen Kritik an Scott in einem eigenen Kapitel von knapp vierzig Seiten. Fiennes - derzeit Richtung Antarktis unterwegs, die er ohne Unterstützung auf Skiern durchqueren will - hat als erster Mensch die Welt zu Fuß umrundet. Der Achtundsechzigjährige gilt als größter lebender Forschungsreisender. In der Einleitung stellt er klar, dass er besonders gut in der Lage sei, die Expedition Scotts zu beurteilen: "Keiner der früheren Scott-Biographen hat je einen vollbeladenen Schlitten aus eigener Kraft über die riesigen, von Spalten zerklüfteten Felder des Beardmore-Gletschers gezogen, hat Eisfelder erforscht, die noch kein menschliches Auge gesehen hatte, oder ist tausend Meilen weit mit frostgeschädigten Füßen marschiert. Um über die Hölle zu schreiben, ist es nicht schlecht, schon einmal dort gewesen zu sein."
Das klingt arrogant, aber im Fortgang seiner Mischung aus historischem Sachbuch und Biographie gelingt es Fiennes, anhand eigener Erfahrungen plausibel darzulegen, warum er die Leistung Scotts bewundert. So zitiert er beispielsweise aus den Notizen Scotts, dass dieser schon früh angefangen habe, den Speiseplan der Expedition mit Pinguinfleisch zu bereichern, um Vorhaltungen, Scott habe nicht erkannt, wie wichtig Frischfleisch im Kampf gegen Skorbut sei, als falsch zu entlarven. Ein weiterer Kritikpunkt ist stets gewesen, dass Scott seine Schlitten nicht wie Amundsen von Hunden hat ziehen lassen, sondern auch Menschen und Ponys einsetzte: Er habe Hundeschlitten als unbritisch abgelehnt. Fiennes zeigt jedoch, dass Scott sich darüber Gedanken gemacht und sich über die Möglichkeiten des Fortkommens in Eis und Schnee informiert hat.
Besonderen Eindruck hat ihm der Bericht Ernest Shackletons gemacht, der zwar die erste Etappe der Reise zum Südpol - den er nicht erreichte - mit Hundeschlitten bewältigte, die Tiere dann jedoch aufgrund der Eisverhältnisse töten musste. Auch Scott plante nach bestem Wissen den Einsatz von Zugtieren: Ponys brachten jedoch keinen Erfolg, wie Fiennes einräumt. Aufgrund der Schwäche der Tiere musste ein Depot wesentlich weiter nördlich angelegt werden als zunächst geplant. Außerdem konnte er mit Ponys nicht so früh aufbrechen wie mit Hunden, und diese Zeitverzögerung sollte sich als fatal erweisen.
Scotts Orientierung an Shackleton und sein jubelnder Tagebucheintrag, als er den südlichsten Punkt von dessen Reise überschritt, wurde später oft als schlechtes Verhältnis zwischen den beiden Polforschern ausgelegt. Fiennes erkennt im Verhältnis von Shackleton und Scott zwar Rivalität, aber auch einen ehrenvollen Umgang miteinander. Wie der Autor belegt, schrieben die beiden mit Respekt vor der Leistung des anderen übereinander.
Kein gutes Haar ließen die Kritiker an Scotts Umgang mit seinen Kameraden. Es wurde sogar behauptet, er habe den von Auszehrung und Erfrierungen gezeichneten Lawrence Oates in den Selbstmord getrieben, obschon es dafür keine Beweise gab. Scotts Tagebucheintrag dazu lautet: ",Ich will einmal hinausgehen', sagte er ,,und bleibe vielleicht eine Weile draußen.' Dann ging er in den Orkan hinaus - und wir haben ihn nicht wieder gesehen." Auch von Henry Bowers und Edward Wilson, den letzten Begleitern Scotts, ist nichts überliefert, was Scott belasten würde, obwohl sie bis kurz vor ihrem Tod noch Briefe und Tagebucheinträge verfassten. Der Schriftsteller George Bernard Shaw, der Scott nicht leiden konnte, wiewohl er ihn nicht kannte, ging sogar so weit, sich die Szene auszumalen, wie Scott Oates angestarrt habe, bis dieser freiwillig das Zelt verlassen habe und in den Schneesturm und den sicheren Tod gegangen sei.
Das Wetter spielt eine wichtige Rolle in Fiennes Neubewertung von Scott. Er stützt sich auf Untersuchungen von Susan Solomon aus dem Jahr 2001, die Wetterdaten des Ross-Schelfeises untersucht hat. Im Dezember 1911, noch auf der Hinreise zum Südpol, wurde die Expedition vier Tage von einem Blizzard aufgehalten, der in der berichteten Heftigkeit danach nicht wieder aufgezeichnet wurde. Auch der März des Jahres 1912 sei extrem kalt gewesen - drei Wochen lang hätten die Temperaturen unter dem Durchschnitt verharrt. Die Messstationen haben in den 38 Jahren vor Erscheinen von Solomons Buch einen solchen Kälteeinbruch nur noch ein Mal registriert. Damit widerlegt Fiennes die Behauptung Huntfords, dass die Temperaturen im März 1912 durchaus normal für die Jahreszeit gewesen seien.
Aber auch Fiennes beanstandet manche Entscheidung des Expeditionsleiters. So hätte dieser dafür sorgen müssen, Fleisch in Depots tiefer zu vergraben, damit es nicht von der Sonne verdorben wird. Und er hätte nicht einfach die Rettungsboote auf dem Eis stapeln dürfen, da die Gefahr bestand, dass diese dort zerstört würden. Letztlich müssen die Ausführungen Fiennes' Vermutungen bleiben - denn: "Scott, Bowers, Wilson, Oates und Evans liegen seit dem Tag, an dem ihre Reise endete, immer noch eingefroren im antarktischen Eis. Sie allein kennen die Wahrheit."
OLIVER KÜHN
Ranulph Fiennes: "Scott". Das Leben einer Legende.
Aus dem Englischen von Harald Stadler. Mare Verlag, Hamburg 2012. 672 S., Abb., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Über die Hölle schreibt am besten nur einer, der selbst dort gewesen ist: Ranulph Fiennes legt eine Biographie über den Polarforscher Robert Scott vor - und greift dessen Kritiker scharf an.
Am 17. Januar 1911 standen fünf Briten am Südpol vor einer norwegischen Fahne. Der Trupp um den Engländer Robert Falcon Scott kam drei Wochen zu spät: Der Norweger Roald Amundsen hatte den Wettlauf zum Südpol gewonnen. Geschlagen machten sich die Briten auf den Rückweg - und fanden den Tod im südpolaren Schelfeis. In der Heimat wurden sie trotzdem als Helden gefeiert. Scotts Tagebuch, das er bis zum bitteren Ende geführt hatte, wurde ein Bestseller. Sein letzter Eintrag vom 29. März - "In Gottes Namen, seht nach unseren Leuten" - machte ihn zum Inbegriff des britischen Gentleman.
Das änderte sich, als 1979 Roland Huntfords Biographie erschien. Der Autor warf Scott Inkompetenz vor und behauptete, der Polarforscher sei ein Stümper gewesen, der die Schuld am Tod seiner Kameraden trage. Diese Sichtweise änderte die Rezeption Scotts in den englischsprachigen Ländern nachhaltig. Huntford war der Meinungsführer, andere Biographen folgten ihm. 1985 vertiefte eine Fernsehdokumentation das Bild Scotts als Pfuscher. Erst im neuen Jahrtausend wurde Kritik an Huntfords "antihistorischem" Urteil laut: Prominentester Huntford-Kritiker ist Sir Ranulph Fiennes, dessen 2003 erschienenes Buch "Scott. Das Leben einer Legende" nun auf Deutsch vorliegt.
Als bekennender Bewunderer Scotts reitet Fiennes darin eine scharfe Attacke auf Huntford und widerlegt dessen Kritik an Scott in einem eigenen Kapitel von knapp vierzig Seiten. Fiennes - derzeit Richtung Antarktis unterwegs, die er ohne Unterstützung auf Skiern durchqueren will - hat als erster Mensch die Welt zu Fuß umrundet. Der Achtundsechzigjährige gilt als größter lebender Forschungsreisender. In der Einleitung stellt er klar, dass er besonders gut in der Lage sei, die Expedition Scotts zu beurteilen: "Keiner der früheren Scott-Biographen hat je einen vollbeladenen Schlitten aus eigener Kraft über die riesigen, von Spalten zerklüfteten Felder des Beardmore-Gletschers gezogen, hat Eisfelder erforscht, die noch kein menschliches Auge gesehen hatte, oder ist tausend Meilen weit mit frostgeschädigten Füßen marschiert. Um über die Hölle zu schreiben, ist es nicht schlecht, schon einmal dort gewesen zu sein."
Das klingt arrogant, aber im Fortgang seiner Mischung aus historischem Sachbuch und Biographie gelingt es Fiennes, anhand eigener Erfahrungen plausibel darzulegen, warum er die Leistung Scotts bewundert. So zitiert er beispielsweise aus den Notizen Scotts, dass dieser schon früh angefangen habe, den Speiseplan der Expedition mit Pinguinfleisch zu bereichern, um Vorhaltungen, Scott habe nicht erkannt, wie wichtig Frischfleisch im Kampf gegen Skorbut sei, als falsch zu entlarven. Ein weiterer Kritikpunkt ist stets gewesen, dass Scott seine Schlitten nicht wie Amundsen von Hunden hat ziehen lassen, sondern auch Menschen und Ponys einsetzte: Er habe Hundeschlitten als unbritisch abgelehnt. Fiennes zeigt jedoch, dass Scott sich darüber Gedanken gemacht und sich über die Möglichkeiten des Fortkommens in Eis und Schnee informiert hat.
Besonderen Eindruck hat ihm der Bericht Ernest Shackletons gemacht, der zwar die erste Etappe der Reise zum Südpol - den er nicht erreichte - mit Hundeschlitten bewältigte, die Tiere dann jedoch aufgrund der Eisverhältnisse töten musste. Auch Scott plante nach bestem Wissen den Einsatz von Zugtieren: Ponys brachten jedoch keinen Erfolg, wie Fiennes einräumt. Aufgrund der Schwäche der Tiere musste ein Depot wesentlich weiter nördlich angelegt werden als zunächst geplant. Außerdem konnte er mit Ponys nicht so früh aufbrechen wie mit Hunden, und diese Zeitverzögerung sollte sich als fatal erweisen.
Scotts Orientierung an Shackleton und sein jubelnder Tagebucheintrag, als er den südlichsten Punkt von dessen Reise überschritt, wurde später oft als schlechtes Verhältnis zwischen den beiden Polforschern ausgelegt. Fiennes erkennt im Verhältnis von Shackleton und Scott zwar Rivalität, aber auch einen ehrenvollen Umgang miteinander. Wie der Autor belegt, schrieben die beiden mit Respekt vor der Leistung des anderen übereinander.
Kein gutes Haar ließen die Kritiker an Scotts Umgang mit seinen Kameraden. Es wurde sogar behauptet, er habe den von Auszehrung und Erfrierungen gezeichneten Lawrence Oates in den Selbstmord getrieben, obschon es dafür keine Beweise gab. Scotts Tagebucheintrag dazu lautet: ",Ich will einmal hinausgehen', sagte er ,,und bleibe vielleicht eine Weile draußen.' Dann ging er in den Orkan hinaus - und wir haben ihn nicht wieder gesehen." Auch von Henry Bowers und Edward Wilson, den letzten Begleitern Scotts, ist nichts überliefert, was Scott belasten würde, obwohl sie bis kurz vor ihrem Tod noch Briefe und Tagebucheinträge verfassten. Der Schriftsteller George Bernard Shaw, der Scott nicht leiden konnte, wiewohl er ihn nicht kannte, ging sogar so weit, sich die Szene auszumalen, wie Scott Oates angestarrt habe, bis dieser freiwillig das Zelt verlassen habe und in den Schneesturm und den sicheren Tod gegangen sei.
Das Wetter spielt eine wichtige Rolle in Fiennes Neubewertung von Scott. Er stützt sich auf Untersuchungen von Susan Solomon aus dem Jahr 2001, die Wetterdaten des Ross-Schelfeises untersucht hat. Im Dezember 1911, noch auf der Hinreise zum Südpol, wurde die Expedition vier Tage von einem Blizzard aufgehalten, der in der berichteten Heftigkeit danach nicht wieder aufgezeichnet wurde. Auch der März des Jahres 1912 sei extrem kalt gewesen - drei Wochen lang hätten die Temperaturen unter dem Durchschnitt verharrt. Die Messstationen haben in den 38 Jahren vor Erscheinen von Solomons Buch einen solchen Kälteeinbruch nur noch ein Mal registriert. Damit widerlegt Fiennes die Behauptung Huntfords, dass die Temperaturen im März 1912 durchaus normal für die Jahreszeit gewesen seien.
Aber auch Fiennes beanstandet manche Entscheidung des Expeditionsleiters. So hätte dieser dafür sorgen müssen, Fleisch in Depots tiefer zu vergraben, damit es nicht von der Sonne verdorben wird. Und er hätte nicht einfach die Rettungsboote auf dem Eis stapeln dürfen, da die Gefahr bestand, dass diese dort zerstört würden. Letztlich müssen die Ausführungen Fiennes' Vermutungen bleiben - denn: "Scott, Bowers, Wilson, Oates und Evans liegen seit dem Tag, an dem ihre Reise endete, immer noch eingefroren im antarktischen Eis. Sie allein kennen die Wahrheit."
OLIVER KÜHN
Ranulph Fiennes: "Scott". Das Leben einer Legende.
Aus dem Englischen von Harald Stadler. Mare Verlag, Hamburg 2012. 672 S., Abb., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ranulph Fiennes hat als Erster die Erde zu Fuß umrundet und befindet sich gerade ohne Skier auf dem Weg zum Südpol. Wenn er also dazu berufen und qualifiziert fühlt, die Leistung des legendären Polarforschers Robert Scott zu beurteilen, findet Rezensent Oliver Kühn das plausibel. Mit Interesse verfolgt er Fiennes' Versuch, den Ruf des Abenteurers wiederherzustellen, den Roland Huntford mit seiner Biografie so nachhaltig ramponiert hat. Huntford hatte Scott vorgeworfen, durch seine Unerfahrenheit das Leben der Expeditionsgefährten fahrlässig aufs Spiel gesetzt zu haben. Wie überzeugend Fiennes Ehrenrettung letzten Endes ausfällt, möchte Kühn nicht entscheiden, er verweist lediglich auf die Argumentationslinien in den strittigen Fragen - etwa dass Scott die Schlitten von Ponies statt von Hunden ziehen ließ, nicht genug Fleisch organisiert hatte und eine Mitschuld am Selbstmord von Lawrence Oates trage. Aber am Ende, zuckt der Rezensent etwas unhistorisch mit den Schultern, kennen ja nur die Toten die Wahrheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Fiennes war prädestiniert wie kein anderer, dieses Buch zu schreiben."
The Sunday Times
The Sunday Times