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Wider die Legende vom Schmelztiegel New York: Ein neuer Anlauf, Jerome Charyns Krimis durchzusetzen
Als Jerome Charyn vor mehr als vierzig Jahren damit begann, die Krimilandschaft umzupflügen, war nicht absehbar, wohin die Reise seines Helden Isaac Sidel gehen würde. Heute, nach elf Bänden und reichlich verbrannter Erde, wissen wir: Richtung Weißes Haus. Keine schlechte Bilanz, wenn man bedenkt, dass Sidel zunächst als räudiger Cop durch die Bronx getigert ist, konsequent Kollegen ausgenutzt und sich mit Pläsier in jede Schlägerei geworfen hat.
Los ging alles mit einem literarischen Täuschungsmanöver. Der Protagonist des ersten Bandes "Blue Eyes" (1974) ist der Polizist Manfred Coen; sein einstiger Mentor Sidel taucht zwar manchmal auf, wirkt insgesamt aber wie eine Marginalie. Doch peu à peu dämmert dem Leser: Sidel hat Coen so gemodelt, wie er ihn braucht, und ist durch ihn omnipräsent. Das, was Coen auszeichnet, sein Beruf, seine Aufträge, ja selbst sein Sprachregister, verdankt sich dem Einfluss seines ehemaligen Chefs. Insofern geht es in "Blue Eyes" auch um die Frage, wie gut es ein Krimi verkraftet, wenn Identität und Autonomie der Hauptfigur entschieden zur Disposition stehen.
In "Secret Isaac" (1978), dem vierten Teil der Serie, ist der Chief, wie Sidel von seinem Anhang genannt wird, selbst vom Ich-Verlust bedroht: "Er hatte sich auf zu viele Abwege begeben. Jetzt konnte er das Rätsel seiner eigenen Existenz nicht lösen." Was ist passiert? Man wird sagen müssen: Sidel ist Sidel passiert. Der egomanische Supercop unterwirft alle ihm nahestehenden Menschen einem gnadenlosen Kontrollregime. Das betrifft nicht nur Coen, der deswegen brutal unter die Räder kommt, sondern auch die nächste Verwandtschaft. In Teil zwei der Reihe, "Marilyn the Wild" (1976) - notabene das Prequel zu "Blue Eyes" - macht der Chief seine Tochter so lange zum Opfer väterlicher Obsessionen, bis sie an die Westküste flieht. Sidel konzentriert sich fortan noch stärker auf den Job und zerschlägt im dritten Band, "Patrick Silver" (1976), seinen Lieblingsgegner, einen mit Mädchen handelnden Familienclan.
Nach diesen Eskapaden hat Sidel die Talsohle seiner Existenz erreicht, und "Secret Isaac" ist das Protokoll des Komplettabsturzes. Seelisch wundgescheuert und körperlich verwahrlost, ermittelt er undercover auf dem Straßenstrich. Der letzte gebliebene Vertraute an seiner Seite beziehungsweise in seinem Innern ist ein sich schmerzhaft windender Bandwurm. Eine schöne Idee, denn beide profitieren parasitär vom nächsten Umfeld. "Wo du einfällst", muss sich der Chief einmal sagen lassen, "sterben Menschen."
Dann begegnet Sidel der Prostituierten Annie, die er um jeden Preis vor ihrem unauffindbaren Zuhälter retten will. Die angestellten Recherchen führen den Joyce-Aficionado Sidel nach Dublin, wo er bald auf ein kriminelles Netzwerk stößt, das gemeinsam mit New Yorker Polizisten und Politikern ein faules Süppchen kocht.
Der Sidel-Zyklus ist hierzulande ziemlich verspätet angekommen, in den Achtzigern zunächst bei Heyne, anschließend bei Rotbuch und Piper - ohne den verdienten Erfolg. Jetzt nimmt sich Diaphanes der Sache an und bringt alle bisherigen Bände hintereinander heraus. Ein erfreuliches, vermutlich aber wenig lukratives Unternehmen. Beim breiten Publikum dürfte Charyns Sprache, ein Amalgam aus eleganter Pointiertheit, geschliffener Rotzigkeit und düsterer Poesie, genauso zu Irritation führen wie sein überkolorierter Hybrid-Stil zwischen Kriminal- und Detektivliteratur. Wer gerne miträtselt und sachlichen Realismus surrealer Exuberanz vorzieht, wird Schwierigkeiten mit der Reihe haben, zu schwindelerregend ist die narrative Drift, zu freischwebend sind die Schilderungen.
Beharrlich wirft der Autor ein Schlaglicht auf sozial abstürzende Menschen, die an den Rändern einer ruchlosen Gesellschaft kauern. Genre-Helden mit moralischem Code wie Sam Spade oder Philip Marlowe hätten in Sidels Welt den Anstrich eines Kategorienfehlers. Dennoch geht es auch hier nicht ohne eine wichtige Zutat der Hardboiled-Tradition - den urbanen Raum. Charyns New York ist ein in mythischem Dunst pulsierender Moloch, Differenzen jedweder Couleur bilden dort den Kern der Gewalt atmenden Handlung. Das Nebeneinander von Juden, Iren und Afroamerikanern bleibt in "Secret Isaac" genau das: ein Nebeneinander. Melting Pot? Fehlanzeige.
Charyn Mutter soll bei den Pokerrunden des Gangsterbosses Meyer Lansky die Karten ausgegeben haben, sein Bruder war Polizist in Brooklyn. Er selbst wollte eigentlich Maler werden und skizziert nun seine literarischen Milieudarstellungen mit abwechselnd grobem Pinsel und feinem Strich. Jedes Kapitel in "Secret Isaac" mutet dabei an wie eine in sich geschlossene Einheit. Da drängt sich der Verdacht auf, hier liege, einer Definition E. M. Forsters gemäß, keine Geschichte vor, bei der sich die Ereignisse auseinander ergeben, sondern ein bloßes Geschehen, bei dem sie aufeinander folgen. Tatsächlich jedoch fügen sich die Dinge schließlich zu einem skrupulös gedrechselten Plot, der am Ende aufwallt, um dann antiklimaktisch auszulaufen. Welche Haken wird Sidels Leben künftig noch schlagen? Wir dürfen gespannt sein, der zwölfte Band befindet sich gerade in der Mache.
KAI SPANKE
Jerome Charyn:
"Secret Isaac".
Die Isaac-Sidel-Romane 4/12.
Aus dem Englischen von
Sabine Schulz. Diaphanes Verlag, Zürich / Berlin 2016. 328 S., br., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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