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© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Hallgrímur Helgasons Künstlerkatastrophenroman „Seekrank in München“
1981. Sehr weit weg. Ganz Europa wartet damals auf die Auslöschung durch den Atomkrieg. Helmut Schmidt ist noch Kanzler, eine Taxifahrt durch München kostet sechs Mark und vierzig Pfennig. Und Island ist ein nackter, grauer Steinhaufen, dessen Bewohner noch nicht hippe Designer und Popmusiker sind, sondern sich als schlechtgekleidete Fischer und muffige Kleinbürger vor der subpolaren Kälte wegducken. Im ganzen Land gibt es gerade mal drei Restaurants, nach Europa fliegen kann man nur über Luxemburg: „Die Isländer hatten sich als Einfallstor nach Europa ein Land ausgesucht, das noch kleiner war als das ihre (. . .) Die Winznation aus dem Nordatlantik betrat den Kontinent wie ein Partygast, der durch die Klotür eintritt, niemanden grüßt und so tut, als sei er schon seit langem da. Falls dem überhaupt jemand Beachtung schenkte.“
Dem, der da redet, wird keinerlei Beachtung geschenkt: Ein 22-jähriger Isländer, der nach München kommt, um hier Kunst zu studieren. Er heißt einfach Jung. Als sei er noch gar kein Individuum mit einem Eigennamen, sondern nur ein unerfahrener Mensch und reiner Tor.
Dieser Jung leidet. Er leidet daran, dass er unbedingt Künstler werden will, aber gleichzeitig davon überzeugt ist, dass Marcel Duchamp die Kunst an ihr humorvolles Ende geführt hat; er leidet an der „Nachkriegseinfallslosigkeit“ der bundesrepublikanischen Stadtlandschaften. Und er leidet physisch: Immer wieder muss er sich jählings erbrechen, schwarzes Zeug kommt aus seinem Mund, das sofort erhärtet und Dinge in Brand setzt. Weshalb er irgendwann nur noch mit einem Maßkrug in der Manteltasche ausgeht, in den er sich diskret übergibt, um nicht wieder einen Holzfußboden zu entflammen oder die Kleidung seiner Mitmenschen zu ruinieren. Diese rätselhafte Krankheit macht Jung endgültig zum Außenseiter und das Buch zu einem surrealen Vergnügen inmitten der blassen, kleinmütigen Achtzigerjahre, die selten so genau in den Blick genommen wurden wie in diesem autobiografischen Schelmenroman von Hallgrímur Helgason.
Helgason ist in seinem Heimatland eine der schillerndsten Figuren: Maler, Komiker, Kolumnist, Drehbuch- und Theaterautor. Berühmt wurde er durch seinen Roman „101 Reykjavik“, aber „Seekrank in München“ beweist, dass er seither noch besser geworden ist.
Sein Alter Ego Jung ist eine Art primitiver Ethnologe, ein Provinztölpel, der noch nie zuvor in einem Restaurant oder einer Kneipe war und nun mit seinem fremden Blick diese Stadt beschreibt, wie sie nie zuvor beschrieben wurde: Die Taxis sehen alle aus wie Buttercremeschnitten, die Anzeigetafeln in den U-Bahnhöfen erinnern ihn beim Umklappen der Buchstabentafeln „an das Klopfen von Schwimmhäuten auf einem nachtstillen Hochlandsee“ und das Bairisch seines Mitbewohners klingt in seinen Ohren nach zerhacktem Deutsch.
Dieser Jung hat ein ausgesprochenes Talent dafür, in peinliche Situationen zu geraten, und sein Autor hat die Gabe, diese Situationen zu fast schon qualvoll lustigen Katastrophenkaskaden auszubauen, ohne dass er seinen Jung dabei je zur platten Witzfigur machen würde. Im Gegenteil, sein stiller, schüchterner Student hat gleichzeitig eine naive, große Kraft in sich, der ganze lasche Schwabinger Popkunsthochschulbetrieb läuft völlig an ihm vorbei. Er liest Marcel Duchamp und Halldór Laxness, schwört sich, nie Jeans zu tragen oder den obligatorischen Interrailtrip mit Rucksack zu absolvieren und ist alles in allem „eine seltsame Mischung aus Rebellion und Konservatismus, Johnny Rotten und Ronald Reagan.“
Und sowohl Jung als auch sein Autor Hallgrímur Helgason sind auf jeden Fall enge Seelenverwandte von Jón Gnarr, dem isländischen Komiker und Schauspieler, der als so unkonventioneller wie politisch brillanter Bürgermeister von Reykjavik weltberühmt wurde. Gnarr ist ein Mann, der als Jugendlicher ebenfalls fast an der Rückständigkeit und konservativen Enge seines Landes kaputtgegangen wäre, der sich dann erst mal dem Punk an den ungewaschenen Hals geworfen hat, um später aus Anarchie, Surrealismus und Humor eine große Freiheitsphilosophie und jähe Liebe zum Leben zusammenzuzimmern. Oder wie es Helgasons Jung ausdrückt, als er die Chance zu einer Liebesnacht vergeigt, weil er zu betrunken ist: „Das Leben ist ein sternhagelvoller Clown, der uns die besten Brocken hinwirft, wenn wir am schlechtesten darauf vorbereitet sind.“
ALEX RÜHLE
Hallgrímur Helgason: Seekrank in München. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Tropen Verlag, Stuttgart 2015. 416 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Der lasche Schwabinger
Popkunsthochschulbetrieb
läuft am Helden vorbei
Für Helgasons unerfahrenen Protagonisten Jung ist das Leben
im fremden Deutschland der Achtzigerjahre ein wahres Geduldsspiel
– und alles andere als zauberhaft. Foto: dpa
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