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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Anita Brookner geht im Schreiben verloren
Frances Hinton ist jung, arbeitet in einer Bibliothek und führt ein langweiliges Leben. Sie fühlt sich einsam und ist sich dessen bewusst, will das ändern und schafft es doch nicht. Sie lebt im London der Achtziger zusammen mit ihrer Haushälterin, hat nicht viele Freunde, ist leidensfähig, beobachtet und beschreibt Leute um sie herum. So weit der Rahmen, der zunächst nicht sonderlich abenteuerlich klingt, jedoch Grundlage für einen tief bewegenden Roman ist.
"Seht mich an" ist das dritte Buch von Anita Brookner, bereits 1983 erschienen und nun ins Deutsche übersetzt. Brookner lebte von 1928 bis 2016 und schrieb zwischen 1981 und 2009 insgesamt 24 Bücher, alle mit einer ähnlichen Protagonistin, in Parallelführung zum eigenen Leben der Autorin. Die Icherzählerin Frances aus "Seht mich an" soll ihr am meisten gleichen. Schon die Lebensumstände sind sehr ähnlich: Wie Brookner ist auch Frances Enkelkind osteuropäisch-jüdischer Migranten; wie die Autorin pflegt sie ihre kranke Mutter in London und will durch das Schreiben aus der Einsamkeit ausbrechen - Gemeinsamkeiten, die Daniel Schreiber in seinem Nachwort ganz wunderbar einordnet.
Doch zurück zu Frances Hinton, der Beobachterin. Wir werden gleich zu Beginn in ihren Alltag hineingeführt. Unter den vermeintlichen Nebenfiguren lernt der Leser Alix und Nick kennen, ein extravagantes, dynamisches, glamouröses Paar aus der Oberschicht, das zwar die Handlung diktiert, in einem Abenteuerroman sicherlich aber die oberflächlichen Bösewichte abgäbe. Doch Frances lechzt förmlich nach dem Kontakt zu Nicks Frau Alix, die sie zufällig kennenlernt, als diese ihren Mann bei dessen Recherchen in der medizinischen Bibliothek besucht, in der Frances arbeitet. Außerdem treten auf Olivia, Frances' beste Freundin aus der Bibliothek , auch sie unverheiratet und kinderlos, und Mrs. Halloran, eine weitere Bibliothekarin, die manchmal zu tief ins Glas guckt und in Nick verliebt ist. Es braucht nicht viel, um den Kosmos dieser Bibliothek zu durchschauen, nahezu alle Figuren kennen sich untereinander.
Alix, die schöne laute Frau, die alle Männer um den Finger wickelt und immerzu entscheiden kann, was und wie etwas passieren wird, ist eine Figur, die man kennt. Frances, von Alix despektierlich "kleine Waise Fanny" genannt, ist das Gegenbild zu ihr. Doch Frances sieht sich durch den Kontakt zu Alix von der Last der Einsamkeit befreit; endlich hat sie ein gesellschaftliches Leben, trifft das Ehepaar abends zum Essen und wird in dessen Kreise eingeführt.
Diese Gesellschaft beschreibt Frances detailreich und tiefgründig; dank der feinfühligen Übersetzung von Herbert Schlüter büßt die deutsche Fassung diesbezüglich nichts ein. Frances ist eine überaus selbstreflektierte Figur: "In solchen Fällen Beobachter zu sein, ist nicht immer hilfreich. Zuweilen vermitteln einem die beobachteten Szenen und Menschen auf ihre Weise, dass man von ihnen ausgeschlossen bleibt." Und tatsächlich bekommt auch der Leser durch ihre Beobachtungen den Eindruck, dass Frances oftmals neben sich steht.
Durch Alix und Nick lernt Frances Dr. James Anstey kennen; auch er arbeitet in der Bibliothek. Beide entwickeln unterbewusst Gefühle füreinander (wobei alles von der intriganten Alix gesteuert ist) und repräsentieren dabei Stereotypen von Beziehungen von vor vierzig Jahren: James ist älter, geschieden und wurde in der Vergangenheit von Frauen enttäuscht, bekleidet eine gesellschaftlich höhere Position, ist Frances, wie sie selbst erklärt, in manchen Dingen "überlegen". Das Scheitern der Beziehung ist in seiner Intensität ein Höhepunkt des Romans.
Frances erklärt Alix, dass sie Material für einen satirischen Roman sammele. Für sie bedeutet Schreiben Einsamkeit, aber auch einen Weg, um gesehen zu werden. Sie schreibt, um hart zu werden, will keine Gefühle schonen. Denn diejenigen, die schrieben, seien die Ungesehenen, die in der Gesellschaft Vergessenen. Daniel Schreiber nennt Frances deshalb eine "gloriose Anti-Austen-Heroine": Wie die Figuren Austens sei auch Frances selbstreflexiv, klar und brillant. Aber ihr Ziel sei nun einmal nicht die Heirat. ANNA FLÖRCHINGER
Anita Brookner: "Seht mich an". Roman.
Aus dem Englischen von Herbert Schlüter. Nachwort von Daniel Schreiber. Eisele Verlag, München 2023. 288 S., geb., 22,- Euro.
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