Warum konnten Selfies zum Inbegriff der Bildkultur der Sozialen Medien werden? Wie verhalten sie sich zur Geschichte des Selbstporträts und der Selbstinszenierung? Wolfgang Ullrich schaut zurück und sieht sich in der Gegenwart um – ohne Selfiestick. Selfies sind die bisher erfolgreichste Bildgattung der Sozialen Medien. Dass man ihren Urhebern oft Narzissmus vorhält, wird ihren vielfältigen Funktionen jedoch nicht gerecht. Mit Selfies setzen sich die Akteure der Sozialen Medien vielmehr in jeweils anderen Rollen in Szene: spielerisch, neckisch, provozierend. Die Grimassen und digitalen Nachbearbeitungen von Selfies stehen in einer langen kulturgeschichtlichen Tradition von Masken und Theaterspiel. Mit Selfies machen Personen sich selbst zum Bild; damit entsteht durch sie nicht weniger als eine neue Form von öffentlichem Leben, das in der Moderne – im Anschluss an Richard Sennett – oft totgesagt worden ist. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich zeigt, dass Selfies als erster Typus einer demokratisierten wie auch einer globalisierten Bildkultur gelten können – und dass sich in ihnen lang gehegte Utopien erfüllen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2019Profilpflege
Eine neue Reihe widmet sich der digitalen Bildkultur
In digitalen Kulturen hat man es mit Ausdrucksformen zu tun, die den digital natives als selbstverständlich, banal und natürlich erscheinen. Weshalb es sinnvoll ist, diese Formen für einen Moment der Selbstverständlichkeit zu entziehen, bevor sie durch neue Phänomene ersetzt werden. Zwei Bändchen einer neuen Reihe "Digitale Bildkulturen" proben dieses Verfahren. Annekathrin Kohout widmet sich dem "Netzfeminismus", Wolfgang Ullrich den "Selfies". Digitale Bildkulturen haben viele Voraussetzungen. Eine besteht darin, dass ihre Akteure im Besitz einer Digitalkamera sind. Beide Autoren nehmen diese schlichte, aber bedeutsame Beobachtung zum Ausgangspunkt und zeigen, wie mit der Kamera Themen gesetzt und Stile geprägt werden.
Kohouts Versuch über den "Netzfeminismus" nimmt sich dabei insbesondere die Frage vor, ob eine bestimmte Ästhetik sich bei der Verbreitung von feministischen Anliegen in sozialen Medien ausbildet und verselbständigt. Die vielen spielerischen Zugangsweisen, die Feministinnen wählen, wenn sie ihre Instagram-, Twitter- oder Tumblr-Profile pflegen, sind oft Ziel von Kritik älterer Generationen von Aktivistinnen, die darin die Verflachung eines politischen Kampfes sehen. Dass zu ihm die Aneignung neuer Bildpraktiken gehört, lässt sich Kohouts materialreichem Essay aber sehr wohl entnehmen. Da die Autorin es ablehnt, genauer zu umreißen, was Netzfeminismus ist, bleibt allerdings bis zuletzt unklar, ob dieser Begriff nun vor allem eine demokratisierte Kunstform, populären Aktivismus, einen bestimmten Teil der Kulturindustrie oder all diese Dinge auf einmal bezeichnet.
Ullrichs Essay über Selfies streift diese Bereiche ebenfalls, setzt sich aber eben nur mit der einen Bildgattung auseinander, die so beliebt ist, dass "Kodifizierungen bereits gut erkennbar sind". Diese bestehen, so zeigt Ullrich, weniger darin, eine Stimmung oder ein Gefühl durch Mimik mitzuteilen, sondern darin, sich bereits bekannten Bildern anzuähneln. Dass es sich bei diesen Bildern um Selbstporträts mit einer langen Geschichte handelt, macht der Essay unter Verwendung von Aby Warburgs Begriff der Pathosformel klar. Diese Ausdrucksformen von Affekten sind für Ullrich die wichtigste Analysekategorie, um zu erklären, warum das Selfie innerhalb kurzer Zeit zu einem so erfolgreichen Bildtyp aufsteigen konnte. Wesentlich scheint ihm dafür auch das enorme kommunikative Potential dieser Bilder, die oft wiederum mit Bildern, Emojis nämlich, beantwortet werden. Ullrich führt für die Emojis den Begriff der "mündlichen" Bilder ein, mit denen man sich "ähnlich vielseitig, spontan und geschmeidig artikulieren" könne wie mit Sprache.
Mit Hinweisen auf seine Quellen ist Ullrich sparsam - dadurch entsteht ein Text, der ähnlich wie sein Gegenstand vielseitig, spontan und geschmeidig ist und vor allem Lust darauf weckt, mehr zum Thema nachzulesen. (Nathan Jurgensons gerade erschienenes Buch über "The Social Photo. On Photography and Social Media" könnte hier ein Anfang sein.) Die Bände der neuen Reihe werden übrigens ergänzt durch ein - so das Versprechen - laufend ergänztes Glossar, samt Literaturhinweisen, auf der Website des Verlags.
HANNA ENGELMEIER.
Wolfgang Ullrich: "Selfies".
Wagenbach Verlag, Berlin 2019. 80 S., Abb., br., 10,- [Euro].
Annekathrin Kohout: "Netzfeminismus".
Wagenbach Verlag, Berlin 2019. 80 S., Abb., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine neue Reihe widmet sich der digitalen Bildkultur
In digitalen Kulturen hat man es mit Ausdrucksformen zu tun, die den digital natives als selbstverständlich, banal und natürlich erscheinen. Weshalb es sinnvoll ist, diese Formen für einen Moment der Selbstverständlichkeit zu entziehen, bevor sie durch neue Phänomene ersetzt werden. Zwei Bändchen einer neuen Reihe "Digitale Bildkulturen" proben dieses Verfahren. Annekathrin Kohout widmet sich dem "Netzfeminismus", Wolfgang Ullrich den "Selfies". Digitale Bildkulturen haben viele Voraussetzungen. Eine besteht darin, dass ihre Akteure im Besitz einer Digitalkamera sind. Beide Autoren nehmen diese schlichte, aber bedeutsame Beobachtung zum Ausgangspunkt und zeigen, wie mit der Kamera Themen gesetzt und Stile geprägt werden.
Kohouts Versuch über den "Netzfeminismus" nimmt sich dabei insbesondere die Frage vor, ob eine bestimmte Ästhetik sich bei der Verbreitung von feministischen Anliegen in sozialen Medien ausbildet und verselbständigt. Die vielen spielerischen Zugangsweisen, die Feministinnen wählen, wenn sie ihre Instagram-, Twitter- oder Tumblr-Profile pflegen, sind oft Ziel von Kritik älterer Generationen von Aktivistinnen, die darin die Verflachung eines politischen Kampfes sehen. Dass zu ihm die Aneignung neuer Bildpraktiken gehört, lässt sich Kohouts materialreichem Essay aber sehr wohl entnehmen. Da die Autorin es ablehnt, genauer zu umreißen, was Netzfeminismus ist, bleibt allerdings bis zuletzt unklar, ob dieser Begriff nun vor allem eine demokratisierte Kunstform, populären Aktivismus, einen bestimmten Teil der Kulturindustrie oder all diese Dinge auf einmal bezeichnet.
Ullrichs Essay über Selfies streift diese Bereiche ebenfalls, setzt sich aber eben nur mit der einen Bildgattung auseinander, die so beliebt ist, dass "Kodifizierungen bereits gut erkennbar sind". Diese bestehen, so zeigt Ullrich, weniger darin, eine Stimmung oder ein Gefühl durch Mimik mitzuteilen, sondern darin, sich bereits bekannten Bildern anzuähneln. Dass es sich bei diesen Bildern um Selbstporträts mit einer langen Geschichte handelt, macht der Essay unter Verwendung von Aby Warburgs Begriff der Pathosformel klar. Diese Ausdrucksformen von Affekten sind für Ullrich die wichtigste Analysekategorie, um zu erklären, warum das Selfie innerhalb kurzer Zeit zu einem so erfolgreichen Bildtyp aufsteigen konnte. Wesentlich scheint ihm dafür auch das enorme kommunikative Potential dieser Bilder, die oft wiederum mit Bildern, Emojis nämlich, beantwortet werden. Ullrich führt für die Emojis den Begriff der "mündlichen" Bilder ein, mit denen man sich "ähnlich vielseitig, spontan und geschmeidig artikulieren" könne wie mit Sprache.
Mit Hinweisen auf seine Quellen ist Ullrich sparsam - dadurch entsteht ein Text, der ähnlich wie sein Gegenstand vielseitig, spontan und geschmeidig ist und vor allem Lust darauf weckt, mehr zum Thema nachzulesen. (Nathan Jurgensons gerade erschienenes Buch über "The Social Photo. On Photography and Social Media" könnte hier ein Anfang sein.) Die Bände der neuen Reihe werden übrigens ergänzt durch ein - so das Versprechen - laufend ergänztes Glossar, samt Literaturhinweisen, auf der Website des Verlags.
HANNA ENGELMEIER.
Wolfgang Ullrich: "Selfies".
Wagenbach Verlag, Berlin 2019. 80 S., Abb., br., 10,- [Euro].
Annekathrin Kohout: "Netzfeminismus".
Wagenbach Verlag, Berlin 2019. 80 S., Abb., br., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hanna Engelmeier schaut mit Wolfgang Ullrichs Essay auf das Selfie und seine Kodifizierungen. In die Geschichte des Selbstporträts ordnet Ullrich das Selfie laut Rezensentin unter Verwendung von Warburgs "Pathosformeln" ein. Wie der Autor das Selbstverständliche in seinem Essay neu betrachtet und kenntnisreich erläutert, was das Selfie so attraktiv macht, findet Engelmeier lesenswert, auch wenn der Autor kaum Quellen nennt. So bleibt der Text für Engelmeier "geschmeidig und spontan" - wie ein Selfie - und macht Lust auf mehr zum Thema.
© Perlentaucher Medien GmbH
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