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Ein Liebesroman, ein Kriminalroman, ein philosophischer Roman, eine jüdische Familiensaga. Leo Singer, Philosophiestudent und Sohn jüdischer Eltern, die in der Zeit des Nationalsozialismus nach Brasilien emigrierten, kehrt Anfang der 60er Jahre mit seinen Eltern nach Wien zurück. Er verliebt sich in die Jüdin Judith Katz. Sie soll seine Muse sein im Versuch, die Welt ein letztes Mal in ein philosophisches System zu zwingen. Judiths Tod eröffnet ihm das Geheimnis des Lebens - aber ist sie wirklich tot? Das Leben jedenfalls verläuft in den erstaunlichsten Bahnen.

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Produktbeschreibung
Ein Liebesroman, ein Kriminalroman, ein philosophischer Roman, eine jüdische Familiensaga. Leo Singer, Philosophiestudent und Sohn jüdischer Eltern, die in der Zeit des Nationalsozialismus nach Brasilien emigrierten, kehrt Anfang der 60er Jahre mit seinen Eltern nach Wien zurück. Er verliebt sich in die Jüdin Judith Katz. Sie soll seine Muse sein im Versuch, die Welt ein letztes Mal in ein philosophisches System zu zwingen. Judiths Tod eröffnet ihm das Geheimnis des Lebens - aber ist sie wirklich tot? Das Leben jedenfalls verläuft in den erstaunlichsten Bahnen.


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Autorenporträt
Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den »Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb«. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre - zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie - an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2001

Unter dem Pflaster liegt der Samt
Über die Studentenbewegung als zweite Boheme: Der heilige Intellektuelle Georg Lukács kämpft für Liebe, Sünde und Terror

Nur Renegaten bleiben sich und ihrer Sache allezeit treu: Pentita sempre, e non cangiata mai, "Immerzu reuevoll, und stets unverändert" - die Schlußzeile eines jugendlichen Sonetts von Alessandro Manzoni - könnte gut als Motto über den Biographien mancher Protagonisten von 1968 stehen. So standhaft treu und beständig abtrünnig wie der Philosoph Georg Lukács war jedoch keiner. Vom gefeierten Heidelberger Privatgelehrten wandelte sich der Verfasser der "Theorie des Romans" zum bolschewistischen Berufsrevolutionär. Auch als Marxist umgab ihn der Ruch des Renegatentums, weshalb man ihn im Wechsel der Rechts- und Linksabweichungen bezichtigte. Gleichwohl hatte er sämtliche Wellen des stalinistischen Terrors verhältnismäßig unbeschadet überstanden, als er hochbetagt und hochgeehrt 1971 in seiner Heimatstadt Budapest verstarb.

Unterdessen war eine zweite Blütezeit der intellektuellen Lukács-Rezeption angebrochen. Unter Titeln wie "Wissenschaftliche Intelligenz" (1967), "Die Organisation im Klassenkampf" (1967) und "Organisation und Partei" (1970) erschienen Lukács' Schriften aus den Jahren nach 1917 als Raubdrucke. Sie erörterten Organisationsfragen der kommunistischen Intelligenz, den notwendigen Verrat des Intellektuellen an seiner bürgerlichen Klasse, behandelten ethische und taktische Fragen der Parteiarbeit sowie das Aufgehen des einzelnen Kaders mit seiner ganzen Persönlichkeit und Existenz in das Parteileben. Nach 1968 avancierte "Geschichte und Klassenbewußtsein" zum Schulungstext jesuitischer Neobolschewiki, die das Jahrhundert ins Revolutionsjahr 1917 zurückschrauben und es dort nochmals von neuem beginnen lassen wollten - unter Ausblendung der nachfolgenden Katastrophen und der endlos langen Gegenwart der zweiten Nachkriegszeit. Diese schien so unerträglich lange zu währen wie nur die Belle Époque der Jahrzehnte von 1871 bis 1914, in die Lukács' Kindheit und Jugend fiel, oder wie die nachnapoleonische Ära der tragischen französischen Romanhelden vom Schlage eines Julien Sorel, die schwer unter der mangelnden Übereinstimmung zwischen ihrem heroischen Tatendrang und den kläglichen, unheroischen Zeiten litten.

War es die Liebe, oder war es die Politik? Schon Lukács' Marxismus war in unverbrüchlicher Treue zur eigenen intellektuellen Herkunft von einer Liebesphilosophie der bedingungslosen Hingabe an Höheres beseelt. In der an Tragödien armen Zeit der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, auf dem Höhepunkt einer zweiten Belle Époque, die wie schon die frühere erst mit den Schüssen von Sarajevo ein Ende fand, war mit der Wiederaneignung von Lukács' Lehren das verführerische Angebot an eine neue Generation verbunden, das ennuyante Leben in lange entbehrte tragische Formen zu gießen. War die Politik nur der Vorwand, eine laute Ausrede? Unter dem Pflaster lag der Samt, und der war plüschig und hatte seine Kuschelecken. Nur markierte der "Klassenkampf" für Lukács noch den Endpunkt einer glänzend begonnenen intellektuellen Karriere. Den militanten Kämpfern und Kadern nach '68 war er dagegen das Sprungbrett zu Höherem.

Die Leitfigur aller Generationen, die auf Erlösung aus "transzendentaler Obdachlosigkeit" (Lukács) harrten, war der Florentiner Dante Alighieri, der das biographische Trauma seines Exils auf dem Wege einer fulminanten Autopoiesís bewältigt hatte: Aus unstetem Wanderleben schwang er sich zum persönlichen Helden seines eigenen Epos auf und höher in himmliche Gefilde, wo er seine Liebste wiederfand. Schon im Jugendwerk "Vita nova" schilderte er den "furchtbaren Zustand", in den der "Widerstreit der verschiedenen Gedanken" die "grüblerische Seele" des Dichters versetzte. Auch hier waren Liebe und Entsagung im Spiel: die keusche Liebe zu der holden, außerhalb ihres freundlichen Grußes, den sie dem Sänger bisweilen spendete, unnahbaren Beatrice.

Durch ihren frühen Tod in die ewige Seligkeit entrückt, wurde sie dem Sehnsüchtigen, der ihr Andenken bewahrte, zur Muse: "Ein neuer Geist, den Liebe weinend legt / in ihn, zieht ihn empor zu höhern Gleisen." Auf dem Höhepunkt von Dantes Dichterlaufbahn war das Lebens- und Liebesprojekt des jungen Sängers von der transzendentalen Weltenschau des poetischen Theologen eingelöst worden.

Bekenntnisse sind Bücher des Lebens, der Liebe und der Erinnerung. Wer sie schreibt, wird leicht beim Wort genommen, während er in Wirklichkeit nur eine alte Melodie in eine neue Tonart übersetzt. "Der Geistige lebt im Gleichnis", urteilte Thomas Mann an einer Stelle der "Betrachtungen eines Unpolitischen", die auf "ein schönes, tiefes Buch des jungen ungarischen Essayisten Georg von Lukács, betitelt ,Die Seele und die Formen'", Bezug nahm. Der 1885 in Budapest geborene und in den Jahren vor dem Weltkrieg zum Stern am Heidelberger Intellektuellenhimmel aufgestiegene Philosoph hatte sich in Florenz die Werke Plotins und Meister Eckhards angeeignet und war im Umfeld der kulturphilosophischen Zeitschrift "Logos" wesentlich an der Renaissance der neuplatonischen Ideenlehre und ihrer auf Vergeistigung sinnenden Liebesphilosophie beteiligt. Nur oberflächlich betrachtet, bot das Jugendwerk "Die Seele und die Formen" eine Sammlung literaturkritischer Aufsätze, von Laurence Sterne über Novalis und Kierkegaard bis zu Stefan George, Richard Beer-Hofmann und Rudolf Kassner.

Der Verfasser wollte seine Essays als "intellektuelle Gedichte" verstanden wissen, die eine "Totalität" erlangen sollten, wie auch dem Essay als Form nur eine transitorische Existenz auf dem Weg zu höheren Formen beschieden sei. Sein Thema war das "Verhältnis von Form und Leben" und "das Problem der Lebenskunst". "Lebenskunst" heißt Liebeskunst. Tatsächlich waren die Essays zu einem Buch der Erinnerung geschmiedet, das "Dem Andenken" einer Frau gewidmet war: Irma Seidler, der Jugendliebe des Autors, einer jungen Malerin, die im Frühjahr 1911, wenige Monate vor dem Erscheinen des Buchs, freiwillig aus dem Leben geschieden war.

"Alle meine Gedanken waren Blumen, die ich ihr brachte", notierte Lukács in sein Tagebuch, als ihn in Florenz die Nachricht von Seidlers Tod erreichte. Daraus sprach keine Sentimentalität, sondern gelebte Literatur, denn Blumen heißen auf italienisch "fiori", und "Il Fiore" ist der Titel eines Dante zugeschriebenen Konvoluts allegorischer Liebesdichtungen. Nach dem Vorbild des Florentiners, der in der "Vita nova" davon berichtet, wie er seine Liebe zu Beatrice vor der Öffentlichkeit und vor der Gebenedeiten zu verbergen und in Lieder und Sonette zu verkleiden wußte, sind die Essays als camouflierte Selbstbespiegelungen ihres Autors komponiert.

Wenn Lukács im Essay über Kierkegaard in der paradoxen Manier seines philosophischen Lehrers Georg Simmel dem "Lebenswert einer Geste", die durch Trennung verbindet und durch Verbindung trennt, oder dem "Unterschied zwischen Leben und Leben", ferner dem "Liebesideal der ritterlichen Askese im Mittelalter" nachspürt, so schließt er daran die Gretchenfrage an: "Lieben! Wen kann ich so lieben, daß meiner Liebe der Gegenstand der Liebe nicht im Wege stünde?" Die Antwort heißt "Beatrice" alias "Irma" oder, wie es eine der vielen Dante-Paraphrasen des Lukácsschen Tagebuchs formuliert: "la bella donna della mia mente" - die Frau im Kopf: "Irma ist jetzt bloß ein Name" - aber ein Name, der "alles" um des "Einen" willen bedeutet.

"György Lukács", schrieb dessen Schülerin Agnes Heller, "hat sein Verhältnis zu Irma Seidler gedichtet und immer wieder neu gedichtet." Hellers Interpretation des im Frühwerk ihres Lehrers brodelnden autobiographischen Untergrunds liest sich wie ein postumes offenes Schlußkapitel der Essays über "Die Seele und die Formen". Die traurige Liebesgeschichte zwischen der Malerin und dem Philosophen brachte 1973, zwei Jahre nach Lukács' Tod, ein mit Tagebüchern, Briefen und Manuskripten gefüllter Koffer ans Licht, den sein Besitzer mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor bei einer Heidelberger Bank deponiert und nicht abgeholt hatte.

Im Revolutionsjahr 1917 war Lukács nach Budapest zurückgekehrt, wo er sich ein Jahr darauf der Kommunistischen Partei anschloß, für die er während des Bürgerkriegs als Volkskommissar wirkte, der auch die "Kraft zum Schlechtsein und Hartsein" besaß, um Deserteure standrechtlich erschießen zu lassen. Heller beunruhigte zuletzt die Frage, ob in Lukács' heroisch-stolzer Verneigung vor dem platonischen Liebesgott nicht bereits der "Hochmut" dessen am Werke gewesen sei, der bald seinen "Kopf vor dem Neuen Gott" neigte. "Aber das", so schloß Heller, "gehört nicht mehr in diese Geschichte." Und wenn es doch dazu gehörte? Den tragischen Willen, von dem ihr Lehrer erfüllt war, deutete sie immerhin an: "Georg Lukács hat seine Liebe in sein WERK hineingedichtet, und das war seine Tragödie. Aber diese Tragödie hat er in sein Leben hineingebaut." War Lukács der selbsterwählte Geistesheld eines auf dantesken Unterlagen neu erdichteten und kontinuierlich fortgeschriebenen Epos, das dem "sündigen" bürgerlichen Zeitalter die neue tragische Form liefern sollte, welche die Welt und das Leben wieder in ihrer "Totalität" erfassen würde?

Vor dem Hintergrund von Lukács' Tragödien- und Romantheorien, die die "Sünde" als Bedingung für die Möglichkeit eines neuen tragischen Epos deuteten, erst recht vor dem Hintergrund von Lukács' marxistischer Geschichtsphilosophie der zwanziger Jahre, gerät die Frage unter einen unheimlichen Horizont. Sie läßt den Schluß zu, daß es in Lukács' Biographie und in seinem Werk den Bruch zwischen dem frühen Ästheten und späteren marxistischen Theoretiker nicht gegeben hat. Lukács folgte nur einem strengen Fahrplan des Aufstiegs zur reinen Ideenschau, dessen Stationen und Ziele vorgezeichnet waren. Das "Werk" bestand in der Realisation einer eigenen - dem Tagebuch zufolge -, seit der Zeit der Trennung von Irma Seidler "geplanten ,Vita nuova'" unter wechselnden Namen. Für den Minnesänger des Bolschewismus ließ sich der Name der Frau durch den Namen "Lenin" ersetzen.

Man kann dazu auch die Literatur befragen, denn nur der tragische Held eines selbsterdichteten Lebensromans namens "Werk", das "Tat" sein und zur historischen Tat werden wollte, vermag literaturfähig zu werden. Diese Probe hat Lukács frühzeitig bestanden und seine Position fortan bewahrt, so daß er heute beinahe mehr als literarische Figur denn als Literaturtheoretiker präsent ist. Das Verschwinden des marxistischen Intellektuellen par excellence in die Literatur war in der eigenen Biographie angelegt. Das Phänomen ist um so merkwürdiger, als das Leben von Gelehrten für die Literatur im allgemeinen unergiebig ist. Da der Geistesmensch seine heroischen Taten am Schreibtisch vollbringt, eignet er sich nicht zum Helden eines Romans. Allein Lukács lieferte der Literatur bereits zu Lebzeiten epischen Stoff und bot sich über seinen Tod als dankbare Vorlage für Romanfiguren an. Von Thomas Mann bis zu Robert Menasse ging Lukács wie nur ein Doktor Faustus des vorigen Jahrhunderts unter wechselnden Namen in die Literatur ein.

Thomas Mann hatte der Gestalt des jesuitischen Bolschewiken Naphta im "Zauberberg" die Physiognomie, den Gestus und die dialektische Schärfe des exilierten Intellektuellen unterlegt, dem er zu Beginn der zwanziger Jahre in Wien begegnet und mit dessen Schriften er vertraut war. Danach ist Lukács vor allem in der Literatur seines Heimatlandes präsent geblieben: Anna Lesznai ("Spätherbst in Eden") und Erwin Sinkó ("Die Optimisten", "Roman eines Romans") nahmen ihn in das Personal ihrer historischen Romane auf. Josef Lengyl ("Das unruhige Leben des Ferenc Penn"), Tibor Déry, Gyorgy Dalos ("Der Versteckspieler"), Istváan Eörsi ("Die Stimme seines Herrn") banden seine Figur in fiktive und halbdokumentarische Stoffe ein, und Gyula Kurucz erneuerte im Titel seines Romans "Das Evangelium des Lukács" einen schon vor dem Ersten Weltkrieg unter Heidelberger Intellektuellen verbreiteten Namenwitz.

Doch auch im Politischen bestimmte die Semantik der Liebe die Auseinandersetzungen von Lukács' Zeitgenossen und "Enkeln" mit der Figur des Meisters. Von Liebe und Treue, von Verführung, Verrat und Untreue ist in den Minnegesängen des Marxismus-Leninismus symbolisch und oft wörtlich die Rede; bei Lukács am deutlichsten im Abschnitt "Methodisches zur Organisationsfrage" von "Geschichte und Klassenkampf", darin die regelmäßige "Säuberung" und "Reinigung der Partei" als "intimste innere Parteiangelegenheit" gefordert und als Blaupause für "die intimste innere Beziehung zwischen Partei und Klasse" angesehen wird.

Zuletzt hat Robert Menasse seinen philosophischen Liebesroman "Selige Zeiten, brüchige Welt" beinahe durchgängig auf der Unterlage von Lukács' Jugendbiographie entworfen. Freilich hat er das Lukácssche Epos in das fiktive Leben eines Intellektuellen aus der neuen Belle Époque der sechziger bis achtziger Jahre verlegt. Unter der Zurückverwandlung der Essays aus "Die Seele und die Formen" ins Leben scheitert die Liebesbeziehung zwischen den beiden Protagonisten Leo Singer und Judith Katz, Nachkommen von 1938 aus Österreich geflohenen Juden, oder kommt gar nicht erst zustande.

Als Leo die Nachricht von Judiths Selbstmord erreicht, schreibt er die berühmten Anfangssätze aus der Lukácsschen "Theorie des Romans" nieder: "Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt . . ." Hier greift die Stimme des Erzählers ein und korrigiert: "Selig sind die Zeiten, die er mit Judith verbracht hatte, aber sie waren es nicht, sind es nicht gewesen. Sie sind es jetzt, in seiner Erinnerung . . ." So entstand Leos "kleine Autobiographie, eine ganz private Geistesgeschichte", mit der er "einen wirklich ruchlosen Text" verfaßt habe. Der sich unermüdlich selbst erforschende junge Lukács hätte es sicher vorgezogen, von "Frivolität" zu sprechen, einem Wort, das seine Tagebücher und privaten Briefe wie eine Tonspur durchzieht. Wenn er sein Schreiben "wie ein Schauspiel" betrachte, heißt es im Tagebuch, so stelle sich ihm "die Frage (die, wie es scheint, mir immer eine Hauptfrage sein wird): Ist dies Heroismus oder aber Frivolität? Bei mir neige ich zum zweiten Verdikt, meine aber, theoretisch, sei auch das erste nicht ausgeschlossen."

So sprach nur ein Dandy, den die Sehnsucht nach einer tragischen Existenz antrieb und der zu der Erkenntnis gelangte: "Der Heilige muß Sünder gewesen sein." An dieser Stelle näherten sich die Lebenskrise und das Tagebuch des jungen Lukács ihrem Ende zu und dem erstrebten "rein intelligiblen Zustand" entgegen, auch wenn sich der Schreiber "in der Vorhölle Dantes" zu befinden meinte. Im Bau der "Göttlichen Komödie" war damit allerdings ein Ehrenplatz verbunden, da der Limbus nicht nur der jenseitige Stammsitz der ungetauften Kinder und der Propheten, sondern auch der Ort des Musenbergs, des Parnaß war, wo die antiken Philosophen und Poeten zu Hause sind.

In Lukács' politischen, unter dem Titel "Taktik und Ethik" versammelten Schriften des Jahres 1919 wurde das Problem der Sünde von neuem erörtert, und zwar für jene "tragischen Situationen", in denen es unmöglich sei, "zu handeln, ohne Schuld auf sich zu laden". Der Maßstab, der hier wahlweise an "das richtige und das falsche Handeln" anzulegen sei, hieße "Opfer": "Und so, wie der einzelne, zwischen zwei Arten von Schuld wählend, schließlich dann die richtige Wahl trifft, wenn er auf dem Altar der höheren Ideen sein minderwertiges Ich opfert, besteht eine Kraft darin, dieses Opfer auch für das kollektive Handeln zu ermessen; hier jedoch verkörpert sich die Idee als ein Befehl der welthistorischen Situation, als geschichtsphilosophische Berufung." Nach einer der russischen Literatur entnommenen Veranschaulichung des moralischen Problems des Terrors kommt er zu dem Schluß: "Um diesen Gedanken größter menschlicher Tragik mit den unnachahmlich schönen Worten von Hebbels ,Judith' auszudrücken: ,Und wenn Gott zwischen mich und die mir auferlegte Tat die Sünde gesetzt hätte - wer bin ich, daß ich mich dieser entziehen könnte?'"

Im "seligen" Finale, zu dem Singer nach langer Lebenskrise seine Schreibfähigkeit wiederhergestellt hat und das mit der symbolischen Marke 1968 zusammenfällt, als auch Lukács' Geschichtsphilosophie in Raubdrucken wieder in Umlauf kam, hätte der Roman sein Ende finden müssen. In einem tollkühnen Kunstgriff setzt der Erzähler von neuem an: Alles war nur ein Irrtum, Judith hatte nicht Hand an sich gelegt, sondern lebt und steht vor Leos Tür. Um der Rettung seines Werkes willen bleibt Leo am Ende nichts anderes übrig, als das Opfer der Liebe, die Sünde des Mordes, an Judith zu vollziehen.

VOLKER BREIDECKER

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