Nominiert für die Hotlist 2014 Pit Dörflinger, 32, glaubt, dass er einen Menschen getötet hat. Nur verworren allerdings erinnert er sich an die Umstände. Von Cambridge, Massachusetts, aus, wo er am M.I.T. in einem Artificial-Life-Projekt mitarbeitet, das die elementaren Funktionsprinzipien des menschlichen Bewusstseins rekronstruieren soll, hat er sich auf die weite Reise nach Texas gemacht, um mit seiner Freundin und deren Eltern Weihnachten zu feiern. Ein Telefonat wirft ihn aus der Bahn, er landet bei einem Freund in Mexiko, von wo es ihn weiter nach Kolumbien treibt. Dort verliebt er sich in eine Ex-Guerillera, in deren Leben es erstaunliche Parallelen zu seinem eigenen gibt. Unversehens gerät er in den Sog einer Bewusstseinsforschung ganz anderer Art, die ihn zurück in die Kindheit führt und seine Identität immer fragwürdiger erscheinen lässt. Dörflinger muss sich den Fakten stellen. Nur - was sind die Fakten? Mit seinem gross angelegten, kühn konstruierten Roman »Seltsame Schleife«, der auch in seiner Form eigenwillig daherkommt, meldet sich Rolf Niederhauser nach über zwanzig Jahren Schweigen auf beeindruckende Weise zurück.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Uff, scheint Astrid Kaminski zu sagen. Rolf Niederhausers literarische Rückmeldung nach 20 Jahren Abstinenz hat es in sich. Derart, dass die Rezensentin die sprunghafte Interpunktion, selbst kommentiertes Sprachverhalten des "Halb-Icherzählers", brüchige Grammatik sowie die schiere Dicke des Buches schon fast nebensächlich findet. Wo Erzählebenen drunter und drüber gehen, ihre Konzeptioniertheit und Konstruiertheit alle naslang ausstellen und der Drucksatz in zwei Richtungen fließt, eigentlich kein Wunder. Das metafiktionale Trumm aber beglückt die Rezensentin auch mit ständigen Aha-Erlebnissen, etwa wenn Kaminski feststellt, woher die vielen Namens- und Persönlichkeitsverwandlungen kommen. All die Flucht- und Distanzimpulse, die Kaminski beim Lesen durchaus erfährt, geraten also zur Nebensache. Schließlich bleibt die Rezensentin dran über 727 Seiten! Das liegt, versichert sie, nicht zuletzt an einem wirklich spannenden Plot.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2015Sprachtrudelnder Erzähler im Spiegelkabinett
Schöne neue Überkomplexität: Rolf Niederhausers verrückter Bewusstseinsroman "Seltsame Schleife"
Kindergärten, in denen die Kleinen Zweit- und Drittsprachen per Immersion lernen, sind angesagter denn je, und Englisch gehört inzwischen zum Berufsleben wie der Zweitwagen in manchen Teilen Deutschlands zum Familienglück. Sprache ist Kapital. Wer zwischen zwei oder mehreren Sprachen arbeitet oder lebt, kennt die Folgen: Vor allem im Übermüdungszustand vermischen sich Rechtschreibung, Syntax, Idiomatik. Und unabdingbar ändert sich auch die Ursprungssprache unter Einfluss der häufig benutzten Alltagssprache. So alltäglich solche Erfahrungen inzwischen sind, hat es doch recht lange gedauert, bis sie ins Interesse der Künste gerückt sind. Erst langsam werden sie in der europäischen Literatur, vor allem in der Lyrik, in textbasierter Performancekunst und im Theater zum Thema: von formalen Experimenten über soziologische Fragestellungen bis hin zum Pidgin-Groove. Dennoch: Als Silke Scheuermann in ihrem jüngsten Gedichtband wohl unbewusst in ein leicht anglizistisches "Das macht Sinn" verfiel, da brach so manches Leserherz.
In dem Bewusstseinsroman "Seltsame Schleife", mit dem sich nach über zwanzigjährigem Abtauchen der frühere Bachmann-Preisträger Rolf Niederhauser zurückgemeldet hat, gehören solche Fehler zum Prinzip. Sein in den Vereinigten Staaten arbeitender Erzähler benutzt Formulierungen wie "viel volk war nicht mehr unterwegs", "ich muss zugeben dass nein", "aber wenn so" oder "den flug canceln", und nach dem kausalen "so" steht eher das Subjekt als das Verb. Dabei folgt seine Groß- und Kleinschreibung konsequent, die Interpunktion eher sprunghaft den Regeln für das Englische. Und wie fast alles in diesem Buch wird auch das Sprachverhalten des Halb-Laboranten, Halb-Icherzählers analysiert und kommentiert: "Elefanten oder elephanten? Paket oder packet? Stillstehen oder Still stehen? Dörflingers Rechtschreibung ist korrumpiert, keine Frage. Meist setzt er ja auch kein Komma, wo ein Nebensatz (identifying clause) das Vorhergegangene notwendig ergänzt (als wolle er wenigstens in der Sprache verbinden, was doch zusammen gehört, wie er sehr viel später schreiben wird), aber nicht sehr konsequent. Seine Grammatik bleibt brüchig, aus welchem Grund auch immer." Den Grund dafür erfährt der Leser indessen durch eigene Anschauung: Irgendwann liest sich das Falsche als das Normale. Dafür bietet das buddenbrooksdicke Buch ausreichend Gelegenheit.
Aber nicht nur durch den Umfang des Werks und seinen sprachtrudelnden Erzähler bekennt sich der Autor zum Prinzip der literarischen Zumutung. Jegliche Ebene des Romans ist Konzept und Konstrukt. Der in zwei Leserichtungen fließende Drucksatz erstreckt sich über die schöne Zahl von nicht weniger als 727 Seiten. Davon braucht es 17 Seiten, um einen ersten Hinweis über das Verhältnis zwischen Protagonist und Erzähler zu bekommen. 53 Seiten, um zu erahnen, dass sie partiell identisch sein könnten. 86 Seiten, um durch eine entsprechende Anekdote bestätigt zu werden. Auf Seite 104 schließlich wird klar, woher all die Namens-, und wie sich später zeigt: auch Persönlichkeitsmetamorphosen kommen, nur damit der Leser auf Seite 715 erfährt, dass sämtliche Namen Spielarten eines nomen dubium, eines Pseudonyms innerhalb eines Mockumentary-Scripts, sind - und das im Rahmen eines metafiktionalen Romans, der so tut, als käme er als Drehbuch daher. So wird auch erst ganz zum Schluss klar, woher die zweite Erzählstimme kommt, die zuvor nur ab und zu etwas verschraubt auf sich selbst als "die Bewohner des Global Village" verweist.
Die Konstruktion des Romans lässt aus dem Staunen nicht herauskommen. Ständig Aha-Erlebnisse, die es in sich haben - so etwa in der Mitte, wenn die zwei Erzählzeiten plötzlich aus verschiedenen Richtungen örtlich, in einer kolumbianischen Villa, zusammentreffen. Wie in einem raum-zeitlichen Spiegelkabinett eröffnet sich ein doppelter Blick auf den Protagonisten: einmal noch ohne den Abgrund, der sich in seiner Persönlichkeit aufgetan hat, und einmal mit.
Um ganz in den Strom des Geschehens einzutauchen, muss man aber wohl genauso nerdy sein wie sein Protagonist. Und das will was heißen. Ansonsten will der Antrieb, "Wilhelm Meister" auf Spanisch mitzulesen oder bei jeder Gelegenheit einem Bewusstseinsphilosophiestrom über künstliche Intelligenz zu folgen und nebenbei in innerkolumbianische Angelegenheiten zu Militär, Paramilitär und Guerrilla verwickelt zu werden, nicht immer aufkommen. Auch die weltbürgerliche Auf- bis Abgeklärtheit des Mittdreißigers Pit Dörflinger lässt etwas auf Distanz gehen. Sie ist, selbst für eine schweizerische Sozialisation, etwas überkomplex. Teilweise stellt sich daher die Frage, ob Niederhauser seine ganzen tollen Ideen nicht besser auf zehn Bücher hätte verteilen können.
Aber natürlich steckt gerade in dieser Überkomplexität der Versuch, den verschiedenen Erfahrungsebenen in ihren Dimensionen auf ideale Weise gerecht zu werden. Und dass der Plot wirklich spannend ist, hilft beim Dranbleiben: Dörflinger ist Assistant Professor am Massachusetts Institute of Technology und forscht an einem Roboter mit den kognitiven Fähigkeiten eines Neugeborenen. Statt zur Familienweihnacht in der texanischen Heimat seiner jüdischstämmigen Freundin fährt er über Mexiko nach Kolumbien. Dort kämpft er sich mit einer Frau, der er gefolgt ist, ohne zu wissen, warum, durch den Dschungel, löst sich seine Identität auf, und bevor sie sich neu bilden könnte, isst er, wiederum ohne es zu wissen, von verbotenen Früchten, die seine Mittel zur Kontrolle der Realität vergiften. Er reflektiert die Gewalt nicht mehr, er übt sie aus. Und es erscheint unwahrscheinlich, dass er die Kraft haben wird, diese Erfahrung zu bestehen.
Der Titel "Seltsame Schleife" ist ein feststehender Begriff für Systeme, die durch mehrere gleichwertige Bedingungen gesteuert werden, ohne dass eine Funktionshierarchie ausgemacht werden kann. In Eschers Zeichnungen von Treppen, die zugleich nach oben wie nach unten führen, werden solche Schleifen verbildlicht. Niederhausers Held ergeht es in diesem "loop ad infinitum" prototypisch: Er löst sich auf. Aber das ist nicht das Ende. Denn das ist das Faszinosum an diesem überwältigenden Romankonstrukt: dass es in sich selbst weitergeht.
ASTRID KAMINSKI
Rolf Niederhauser:
"Seltsame Schleife". Roman.
Rotpunkt Verlag, Zürich 2014. 727 S., geb., 37,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schöne neue Überkomplexität: Rolf Niederhausers verrückter Bewusstseinsroman "Seltsame Schleife"
Kindergärten, in denen die Kleinen Zweit- und Drittsprachen per Immersion lernen, sind angesagter denn je, und Englisch gehört inzwischen zum Berufsleben wie der Zweitwagen in manchen Teilen Deutschlands zum Familienglück. Sprache ist Kapital. Wer zwischen zwei oder mehreren Sprachen arbeitet oder lebt, kennt die Folgen: Vor allem im Übermüdungszustand vermischen sich Rechtschreibung, Syntax, Idiomatik. Und unabdingbar ändert sich auch die Ursprungssprache unter Einfluss der häufig benutzten Alltagssprache. So alltäglich solche Erfahrungen inzwischen sind, hat es doch recht lange gedauert, bis sie ins Interesse der Künste gerückt sind. Erst langsam werden sie in der europäischen Literatur, vor allem in der Lyrik, in textbasierter Performancekunst und im Theater zum Thema: von formalen Experimenten über soziologische Fragestellungen bis hin zum Pidgin-Groove. Dennoch: Als Silke Scheuermann in ihrem jüngsten Gedichtband wohl unbewusst in ein leicht anglizistisches "Das macht Sinn" verfiel, da brach so manches Leserherz.
In dem Bewusstseinsroman "Seltsame Schleife", mit dem sich nach über zwanzigjährigem Abtauchen der frühere Bachmann-Preisträger Rolf Niederhauser zurückgemeldet hat, gehören solche Fehler zum Prinzip. Sein in den Vereinigten Staaten arbeitender Erzähler benutzt Formulierungen wie "viel volk war nicht mehr unterwegs", "ich muss zugeben dass nein", "aber wenn so" oder "den flug canceln", und nach dem kausalen "so" steht eher das Subjekt als das Verb. Dabei folgt seine Groß- und Kleinschreibung konsequent, die Interpunktion eher sprunghaft den Regeln für das Englische. Und wie fast alles in diesem Buch wird auch das Sprachverhalten des Halb-Laboranten, Halb-Icherzählers analysiert und kommentiert: "Elefanten oder elephanten? Paket oder packet? Stillstehen oder Still stehen? Dörflingers Rechtschreibung ist korrumpiert, keine Frage. Meist setzt er ja auch kein Komma, wo ein Nebensatz (identifying clause) das Vorhergegangene notwendig ergänzt (als wolle er wenigstens in der Sprache verbinden, was doch zusammen gehört, wie er sehr viel später schreiben wird), aber nicht sehr konsequent. Seine Grammatik bleibt brüchig, aus welchem Grund auch immer." Den Grund dafür erfährt der Leser indessen durch eigene Anschauung: Irgendwann liest sich das Falsche als das Normale. Dafür bietet das buddenbrooksdicke Buch ausreichend Gelegenheit.
Aber nicht nur durch den Umfang des Werks und seinen sprachtrudelnden Erzähler bekennt sich der Autor zum Prinzip der literarischen Zumutung. Jegliche Ebene des Romans ist Konzept und Konstrukt. Der in zwei Leserichtungen fließende Drucksatz erstreckt sich über die schöne Zahl von nicht weniger als 727 Seiten. Davon braucht es 17 Seiten, um einen ersten Hinweis über das Verhältnis zwischen Protagonist und Erzähler zu bekommen. 53 Seiten, um zu erahnen, dass sie partiell identisch sein könnten. 86 Seiten, um durch eine entsprechende Anekdote bestätigt zu werden. Auf Seite 104 schließlich wird klar, woher all die Namens-, und wie sich später zeigt: auch Persönlichkeitsmetamorphosen kommen, nur damit der Leser auf Seite 715 erfährt, dass sämtliche Namen Spielarten eines nomen dubium, eines Pseudonyms innerhalb eines Mockumentary-Scripts, sind - und das im Rahmen eines metafiktionalen Romans, der so tut, als käme er als Drehbuch daher. So wird auch erst ganz zum Schluss klar, woher die zweite Erzählstimme kommt, die zuvor nur ab und zu etwas verschraubt auf sich selbst als "die Bewohner des Global Village" verweist.
Die Konstruktion des Romans lässt aus dem Staunen nicht herauskommen. Ständig Aha-Erlebnisse, die es in sich haben - so etwa in der Mitte, wenn die zwei Erzählzeiten plötzlich aus verschiedenen Richtungen örtlich, in einer kolumbianischen Villa, zusammentreffen. Wie in einem raum-zeitlichen Spiegelkabinett eröffnet sich ein doppelter Blick auf den Protagonisten: einmal noch ohne den Abgrund, der sich in seiner Persönlichkeit aufgetan hat, und einmal mit.
Um ganz in den Strom des Geschehens einzutauchen, muss man aber wohl genauso nerdy sein wie sein Protagonist. Und das will was heißen. Ansonsten will der Antrieb, "Wilhelm Meister" auf Spanisch mitzulesen oder bei jeder Gelegenheit einem Bewusstseinsphilosophiestrom über künstliche Intelligenz zu folgen und nebenbei in innerkolumbianische Angelegenheiten zu Militär, Paramilitär und Guerrilla verwickelt zu werden, nicht immer aufkommen. Auch die weltbürgerliche Auf- bis Abgeklärtheit des Mittdreißigers Pit Dörflinger lässt etwas auf Distanz gehen. Sie ist, selbst für eine schweizerische Sozialisation, etwas überkomplex. Teilweise stellt sich daher die Frage, ob Niederhauser seine ganzen tollen Ideen nicht besser auf zehn Bücher hätte verteilen können.
Aber natürlich steckt gerade in dieser Überkomplexität der Versuch, den verschiedenen Erfahrungsebenen in ihren Dimensionen auf ideale Weise gerecht zu werden. Und dass der Plot wirklich spannend ist, hilft beim Dranbleiben: Dörflinger ist Assistant Professor am Massachusetts Institute of Technology und forscht an einem Roboter mit den kognitiven Fähigkeiten eines Neugeborenen. Statt zur Familienweihnacht in der texanischen Heimat seiner jüdischstämmigen Freundin fährt er über Mexiko nach Kolumbien. Dort kämpft er sich mit einer Frau, der er gefolgt ist, ohne zu wissen, warum, durch den Dschungel, löst sich seine Identität auf, und bevor sie sich neu bilden könnte, isst er, wiederum ohne es zu wissen, von verbotenen Früchten, die seine Mittel zur Kontrolle der Realität vergiften. Er reflektiert die Gewalt nicht mehr, er übt sie aus. Und es erscheint unwahrscheinlich, dass er die Kraft haben wird, diese Erfahrung zu bestehen.
Der Titel "Seltsame Schleife" ist ein feststehender Begriff für Systeme, die durch mehrere gleichwertige Bedingungen gesteuert werden, ohne dass eine Funktionshierarchie ausgemacht werden kann. In Eschers Zeichnungen von Treppen, die zugleich nach oben wie nach unten führen, werden solche Schleifen verbildlicht. Niederhausers Held ergeht es in diesem "loop ad infinitum" prototypisch: Er löst sich auf. Aber das ist nicht das Ende. Denn das ist das Faszinosum an diesem überwältigenden Romankonstrukt: dass es in sich selbst weitergeht.
ASTRID KAMINSKI
Rolf Niederhauser:
"Seltsame Schleife". Roman.
Rotpunkt Verlag, Zürich 2014. 727 S., geb., 37,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main