Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.1996Mutter bei den Skipetaren
Weltläufig: Leon de Winter legt eine Tonspur unter die Geschichte
Dieser Roman, geschrieben für die niederländische Buchwoche 1995, die an das Ende des Zweiten Weltkriegs und an die Befreiung der Niederlande erinnern sollte, wurde in mehreren hunderttausend Exemplaren kostenlos an Buchkäufer verteilt. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Aber was für den beschenkten Niederländer zutreffen mag, kann nicht für den deutschen Leser und schon gar nicht für den Literaturkritiker gelten.
Leon de Winter, 1954 als Sohn niederländischer Juden geboren, hat bei uns in den letzten Jahren mit zwei Romanen an große Erfolge in den Niederlanden anknüpfen können, mit "Hoffmanns Hunger" und "SuperTex". Der Zeit-, Spionage- und Liebesroman "Hoffmanns Hunger" wurde inzwischen mit Elliot Gould und Jacqueline Bisset verfilmt. Das ist kein Zufall. Als Schriftsteller und Filmemacher weiß de Winter, wie man Erzählstoffe auf vielfache Verwendbarkeit hin entwirft. Er ist einer der weltläufigen Schriftsteller, die den intelligenten Teil einer Unterhaltung liefern, nach der ein Medienzeitalter verlangt.
"Serenade Nr. 1" heißt das Musikstück, das im neuen Roman der Komponist von Begleitmusik für Werbespots, Ben Weiss, für seine an Krebs gestorbene Mutter schreibt. Abenteuerliche Wochen sind dem Tod vorausgegangen. Die verwitwete Mutter, die vom Ernst ihrer Krankheit nichts weiß und als Mittsiebzigerin noch einen späten Liebesfrühling erlebt, ist eines Tages spurlos verschwunden. Damit hat dieser Roman seine rätselhafte novellistische Begebenheit und läuft nun nach dem Muster analytischen Erzählens ab. Den Bericht über ihr Leben vor und nach dem Tod ihres Mannes - sie heiratete nach dem Krieg einen jüdischen Heimkehrer, der die deutschen Lager überlebt hatte - begleitet die geheime Frage nach den Beweggründen ihres Verschwindens. Am Ende gibt ein Psychiater, ein Spezialist für Kriegstraumata, die letzte Erklärung.
Einzelheiten der fast kriminalistischen Suche und der Auflösung des Rätsels seien dem Leser nicht verraten. Nur dies: Eine Fernsehreportage über den Krieg im zerfallenen Jugoslawien, genauer der Bericht einer bosnischen Frau über ihr Entkommen aus der Gewalt serbischer Soldaten, hat wieder die Erinnerung der Mutter an ihre eigene Rettung bei einer Razzia für Judendeportationen im Jahre 1942 heraufbeschworen und den Entschluß gezündet, nicht mehr tatenloser Zuschauer zu bleiben, sondern konkrete Unterstützung zu leisten.
Eine Sympathie weckende Selbstironie des Ich-Erzählers Ben, der in seiner Selbstcharakteristik weder das Judenklischee scheut - klein, kraushaarig, semitische Nase - noch das Odium eines Gescheiterten, dessen kühne Komponistenträume im Tonstudio der Werbefilm-Firma begraben wurden, der lockere Causeur-Ton und das spannungsvolle Hinhalten von Erwartungen des Lesers - alles verrät einen versierten Erzähler. Die Verknüpfung von Schicksalen, zumal jüdischen, aus der Besatzungszeit mit neuen aus den Kämpfen in Bosnien, Themen wie Entsorgung von Wirklichkeit in den Medien und Fernsehkonsum als Ersatz für das Tun - in allem beweist der Autor seine Zeitgenossenschaft.
Doch verlieren sich nicht ganz die Spuren einer Auftragsarbeit: in der Konstruktion des Zusammenhangs zwischen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und der Reaktion auf einen neuen Krieg. Und daß die Mutter des Erzählers, um Waffen für die kämpfenden Muslime zu kaufen, nach Split fliegt und von einem Schwindler betrogen wird, muß man wohl aufs Konto einer Abenteuerhandlung buchen, die nicht nur geographisch in der Nähe von Karl Mays "Land der Skipetaren" spielt. WALTER HINCK
Leon de Winter: "Serenade". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 1996. 170 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weltläufig: Leon de Winter legt eine Tonspur unter die Geschichte
Dieser Roman, geschrieben für die niederländische Buchwoche 1995, die an das Ende des Zweiten Weltkriegs und an die Befreiung der Niederlande erinnern sollte, wurde in mehreren hunderttausend Exemplaren kostenlos an Buchkäufer verteilt. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Aber was für den beschenkten Niederländer zutreffen mag, kann nicht für den deutschen Leser und schon gar nicht für den Literaturkritiker gelten.
Leon de Winter, 1954 als Sohn niederländischer Juden geboren, hat bei uns in den letzten Jahren mit zwei Romanen an große Erfolge in den Niederlanden anknüpfen können, mit "Hoffmanns Hunger" und "SuperTex". Der Zeit-, Spionage- und Liebesroman "Hoffmanns Hunger" wurde inzwischen mit Elliot Gould und Jacqueline Bisset verfilmt. Das ist kein Zufall. Als Schriftsteller und Filmemacher weiß de Winter, wie man Erzählstoffe auf vielfache Verwendbarkeit hin entwirft. Er ist einer der weltläufigen Schriftsteller, die den intelligenten Teil einer Unterhaltung liefern, nach der ein Medienzeitalter verlangt.
"Serenade Nr. 1" heißt das Musikstück, das im neuen Roman der Komponist von Begleitmusik für Werbespots, Ben Weiss, für seine an Krebs gestorbene Mutter schreibt. Abenteuerliche Wochen sind dem Tod vorausgegangen. Die verwitwete Mutter, die vom Ernst ihrer Krankheit nichts weiß und als Mittsiebzigerin noch einen späten Liebesfrühling erlebt, ist eines Tages spurlos verschwunden. Damit hat dieser Roman seine rätselhafte novellistische Begebenheit und läuft nun nach dem Muster analytischen Erzählens ab. Den Bericht über ihr Leben vor und nach dem Tod ihres Mannes - sie heiratete nach dem Krieg einen jüdischen Heimkehrer, der die deutschen Lager überlebt hatte - begleitet die geheime Frage nach den Beweggründen ihres Verschwindens. Am Ende gibt ein Psychiater, ein Spezialist für Kriegstraumata, die letzte Erklärung.
Einzelheiten der fast kriminalistischen Suche und der Auflösung des Rätsels seien dem Leser nicht verraten. Nur dies: Eine Fernsehreportage über den Krieg im zerfallenen Jugoslawien, genauer der Bericht einer bosnischen Frau über ihr Entkommen aus der Gewalt serbischer Soldaten, hat wieder die Erinnerung der Mutter an ihre eigene Rettung bei einer Razzia für Judendeportationen im Jahre 1942 heraufbeschworen und den Entschluß gezündet, nicht mehr tatenloser Zuschauer zu bleiben, sondern konkrete Unterstützung zu leisten.
Eine Sympathie weckende Selbstironie des Ich-Erzählers Ben, der in seiner Selbstcharakteristik weder das Judenklischee scheut - klein, kraushaarig, semitische Nase - noch das Odium eines Gescheiterten, dessen kühne Komponistenträume im Tonstudio der Werbefilm-Firma begraben wurden, der lockere Causeur-Ton und das spannungsvolle Hinhalten von Erwartungen des Lesers - alles verrät einen versierten Erzähler. Die Verknüpfung von Schicksalen, zumal jüdischen, aus der Besatzungszeit mit neuen aus den Kämpfen in Bosnien, Themen wie Entsorgung von Wirklichkeit in den Medien und Fernsehkonsum als Ersatz für das Tun - in allem beweist der Autor seine Zeitgenossenschaft.
Doch verlieren sich nicht ganz die Spuren einer Auftragsarbeit: in der Konstruktion des Zusammenhangs zwischen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und der Reaktion auf einen neuen Krieg. Und daß die Mutter des Erzählers, um Waffen für die kämpfenden Muslime zu kaufen, nach Split fliegt und von einem Schwindler betrogen wird, muß man wohl aufs Konto einer Abenteuerhandlung buchen, die nicht nur geographisch in der Nähe von Karl Mays "Land der Skipetaren" spielt. WALTER HINCK
Leon de Winter: "Serenade". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich 1996. 170 S., geb., 32,- DM.
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»Leon de Winter hat etwas zu erzählen, und er tut es so gut, daß man nicht genug davon bekommen kann.« Rolf Brockschmidt / Der Tagesspiegel Der Tagesspiegel