Der neue Roman von Yasmina Reza: „Dieses meisterliche Buch gehört zum Besten, was es derzeit zu lesen gibt.“ Nils Minkmar, Süddeutsche Zeitung
Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existentielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.
Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existentielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Katharina Granzin fühlt sich beim Lesen bestimmter Passagen im Roman "Serge" von Yasmina Reza nicht immer wohl, wenn sie lachen muss. Denn die französische Autorin erzählt darin sowohl ironisch und sarkastisch als auch beklemmend von einer nach der Beerdigung der alten Mutter nach Auschwitz reisenden jüdischen Familie, bestehend aus drei Geschwistern und ihrem Anhang - da wären der mittlere Bruder Jean, in der Rolle des ausgleichenden und unkritischen Ich-Erzählers, der ältere Kotzbrocken-Bruder Serge und deren jüngste Schwester Nana, die als einzige glücklich verheiratet ist, erklärt Granzin. Zunächst scheint Auschwitz das Hauptthema des Buches zu sein, meint die Rezensentin, aber bald erkennt sie, dass es sich hier um eine Erzählung über Familienkonstrukte und die familiäre und jüdische Identitätsfrage handelt. Die Figuren lernt Granzin vor allem durch ihre andeutungsreichen Dialoge kennen. Ein "geistreiches Konversationsdrama in Prosaform", schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2022Das finale Lachen am Abgrund
Erinnern, eine leere Hülle? Yasmina Rezas Roman "Serge" beschreibt die Lebenslügen einer Familie
Alles beginnt mit dem Tod der Mutter, Marta Popper. Man hatte für sie gerade ein funktionales Pflegebett angeschafft, da stirbt sie, vor dem Fernseher, wo die Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt läuft. Von "Andacht" redet die Kommentatorin ständig und sagt dann, das Leben komme wieder zu seinem Recht, auch wenn natürlich nichts so sein werde wie früher. Serge, der älteste Sohn, hat seinen ersten Auftritt: "Doch, du dumme Kuh, sagte Serge, alles wird so sein wie zuvor. Binnen vierundzwanzig Stunden."
Damit ist schon das Feld abgesteckt, auf das sich Yasmina Rezas aktueller Roman begibt, der gerade auf Deutsch erschienen ist. Es geht um den ständig beschworenen Kult eines Erinnerns, das sich nicht aus eigener Erfahrung speisen kann, eines Gedenkens als Forderung, ohne die Fähigkeit eigener Einfühlung. Die Poppers sind eine bürgerliche jüdische Familie in Paris, väterlicherseits aus Wien kommend, die Mutter hat ungarische Vorfahren, die in Auschwitz ermordet wurden. Der Vater, der schon gestorben ist, war glühender Anhänger des Staates Israel. Die Mutter, die seine Meinung nicht teilte, schmähte er als "Antisemitin". Aber geredet wurde in der Familie nie über das Schicksal ihrer Mitglieder.
Yasmina Rezas Buch begleitet die verbliebenen Angehörigen über ein Stück ihres Lebens, auch auf ihrer Reise nach Auschwitz-Birkenau. Serge ist der älteste Sohn, nennt sich Berater, ist eine verkrachte Existenz, ein Versager und Großmaul, das zu viel isst und trinkt. Seine aktuelle Partnerin Valentina hat ihn aus ihrer Wohnung geschmissen, weil er sie betrog. Serges Tochter Joséphine, Anfang zwanzig, die sich als Kosmetikerin erprobt, stammt aus seiner früheren Ehe. Sein jüngerer Bruder Jean hat die Funktion des Icherzählers. Er hat keine Kinder, ist ein ewiger Zögerer, dafür beruflich gesichert, "Experte für Materialleitfähigkeit" erfährt man irgendwann. Die Schwester Anne, genannt Nana, hat den aus Spanien stammenden Arbeiter Ramos Ochoa geheiratet, ein ständiges Ziel des Spotts für die Brüder, was Nana zur Weißglut bringt. Sie hat zwei Kinder, Victor, der Koch gelernt hat, und die noch junge Margot.
Die Geschwister sind alle um die sechzig, ihre Leben sind im Großen und Ganzen gelaufen, festgefahren in Mustern, die ständig aufeinanderprallen. In die Erinnerungslosigkeit der Nachgeborenen bricht bei der Einäscherung der Mutter - ",Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt.' - ,Sie wollte es.'" - Serges Tochter Joséphine mit ihrer Ankündigung ein, sie werde nach "Osvitz" fahren. So kommt es zu dieser Pilgerfahrt, auf der sie Serge, Jean und Nana begleiten. Sie wollen an der Gedenkstätte des Menschheitsverbrechens die Spuren ihrer ermordeten Vorfahren suchen. Doch "Auschwitz, oder nett gesagt, Oswiecim, ist das blumenreichste Städtchen, das ich jemals gesehen habe. Jemals", erläutert Jean seinen ersten Eindruck. Das ehemalige Konzentrationslager in seinem perfekt konservierten Zustand erweist sich als Touristenattraktion, Männer und Frauen in Shorts und ärmellosen T-Shirts, "die fast schon Strandkleidung tragen", "Ausdünstungen von Sonnencreme" im Gedränge.
Am makaber stillgestellten Ort mit gepflegtem Rasen ist es zu heiß für April. Um das schreckliche Gelände herum ist eine Art Jahrmarkt drapiert. Unter dem Druck der angespannten Situation implodiert die ganze Fatalität des Verhältnisses der Geschwister untereinander. Und während Joséphine ständig alles mit ihrem Handy fotografiert, ergeht sich ihr Vater in zynischen Bemerkungen und rabiater Verweigerung, seine Schwester wird wütend: "Du wolltest nicht in die Gaskammern, du hast die Judenrampe nicht sehen wollen, es war Ehrensache für dich, die ungarische Ausstellung zu boykottieren, jetzt noch die Sauna! Es wäre wirklich nett, Serge, wenn du hin und wieder im Leben über dein kleines Ich hinwegsehen und dich einer Gruppe anpassen könntest, und sei es auch nur für einen Tag, deiner Tochter zuliebe!"
Serges Boykott gilt zugleich der gesamten Geschichte seiner Familie, bis in die Gegenwart, er verweigert diese versuchte Gemeinschaft im Gedenken. Das Erinnern wird als eine leere Hülle demaskiert. Die melancholischen Einlassungen des Erzählers Jean registrieren das ohne Sentimentalität. Dahinter ist vielleicht Rezas eigene Stimme zu vernehmen: "Erneutes Herumirren draußen, über die Wege des Lagers. Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein." Reza macht sich mit keinem Wort über Auschwitz lustig. Der souveräne Umgang mit Sprache, das Gefühl für den Rhythmus des Erzählens erlauben ihr die Balance zwischen - manchmal boshafter - Komik und feinem Taktgefühl.
Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels", ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung. Als "Serge" vor einem Jahr in Frankreich erschien, sagte Reza im Interview mit "Le Monde", das Lachen über die Katastrophe sei immer perfekt, es sei das "finale Lachen". Es ist das Lachen, um leerem Pathos zu entkommen, angesichts der Trostlosigkeit der menschlichen Kondition.
Reza hat in "Serge" über die Zeit und den Tod geschrieben. Der Tod ist der Abgrund, in den sie auch die alternden "Popper-Kinder" blicken lässt - und uns mit ihnen. Reza operiert mit "Serge" einmal mehr hart an der Wirklichkeit. Und sie weiß, worüber sie schreibt in dieser Familiengeschichte. Das autobiographische Moment ist ihre eigene verstreute jüdische Herkunft, ihr Vater war Iraner, ihre Mutter Ungarin, sie selbst wuchs in Paris auf. Doch die Poppers, so befremdlich, manchmal erschreckend sie erscheinen mögen, muten zugleich so vertraut an, in ihren mehr oder weniger bourgeoisen Verhältnissen, mit ihrem notorischen Abweichler. Serge, dessen Name dem Buch seinen Titel gibt, steht im Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn er nicht auf der Szene ist. Denn in seiner grotesk verkommenen Existenz, mit seinem unangemessenen Benehmen verkörpert er das unauflösbare Dilemma, seine Wehleidigkeit markiert die völlige Ausweglosigkeit. Um ihn herum brechen die Lebenslügen der anderen auf wie giftige Früchte. Dank Rezas hoher Schreibkunst wird er trotzdem sympathisch, wenigstens beinah.
Am Ende sitzen die drei Geschwister im Warteraum eines Hospitals, sie begleiten Serge zur Computertomographie seiner Lunge. "Nana sagt, zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen, und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen." Dann wird Serge ins Untersuchungszimmer gerufen: "Er hinterlässt zwischen uns eine bläuliche Lücke." Dieser großartige Roman öffnet die Tür einen Spalt breit, eine Trauer könnte beginnen, vielleicht sogar ein Gedenken. ROSE-MARIA GROPP
Yasmina Reza: "Serge". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2022. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnern, eine leere Hülle? Yasmina Rezas Roman "Serge" beschreibt die Lebenslügen einer Familie
Alles beginnt mit dem Tod der Mutter, Marta Popper. Man hatte für sie gerade ein funktionales Pflegebett angeschafft, da stirbt sie, vor dem Fernseher, wo die Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt läuft. Von "Andacht" redet die Kommentatorin ständig und sagt dann, das Leben komme wieder zu seinem Recht, auch wenn natürlich nichts so sein werde wie früher. Serge, der älteste Sohn, hat seinen ersten Auftritt: "Doch, du dumme Kuh, sagte Serge, alles wird so sein wie zuvor. Binnen vierundzwanzig Stunden."
Damit ist schon das Feld abgesteckt, auf das sich Yasmina Rezas aktueller Roman begibt, der gerade auf Deutsch erschienen ist. Es geht um den ständig beschworenen Kult eines Erinnerns, das sich nicht aus eigener Erfahrung speisen kann, eines Gedenkens als Forderung, ohne die Fähigkeit eigener Einfühlung. Die Poppers sind eine bürgerliche jüdische Familie in Paris, väterlicherseits aus Wien kommend, die Mutter hat ungarische Vorfahren, die in Auschwitz ermordet wurden. Der Vater, der schon gestorben ist, war glühender Anhänger des Staates Israel. Die Mutter, die seine Meinung nicht teilte, schmähte er als "Antisemitin". Aber geredet wurde in der Familie nie über das Schicksal ihrer Mitglieder.
Yasmina Rezas Buch begleitet die verbliebenen Angehörigen über ein Stück ihres Lebens, auch auf ihrer Reise nach Auschwitz-Birkenau. Serge ist der älteste Sohn, nennt sich Berater, ist eine verkrachte Existenz, ein Versager und Großmaul, das zu viel isst und trinkt. Seine aktuelle Partnerin Valentina hat ihn aus ihrer Wohnung geschmissen, weil er sie betrog. Serges Tochter Joséphine, Anfang zwanzig, die sich als Kosmetikerin erprobt, stammt aus seiner früheren Ehe. Sein jüngerer Bruder Jean hat die Funktion des Icherzählers. Er hat keine Kinder, ist ein ewiger Zögerer, dafür beruflich gesichert, "Experte für Materialleitfähigkeit" erfährt man irgendwann. Die Schwester Anne, genannt Nana, hat den aus Spanien stammenden Arbeiter Ramos Ochoa geheiratet, ein ständiges Ziel des Spotts für die Brüder, was Nana zur Weißglut bringt. Sie hat zwei Kinder, Victor, der Koch gelernt hat, und die noch junge Margot.
Die Geschwister sind alle um die sechzig, ihre Leben sind im Großen und Ganzen gelaufen, festgefahren in Mustern, die ständig aufeinanderprallen. In die Erinnerungslosigkeit der Nachgeborenen bricht bei der Einäscherung der Mutter - ",Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt.' - ,Sie wollte es.'" - Serges Tochter Joséphine mit ihrer Ankündigung ein, sie werde nach "Osvitz" fahren. So kommt es zu dieser Pilgerfahrt, auf der sie Serge, Jean und Nana begleiten. Sie wollen an der Gedenkstätte des Menschheitsverbrechens die Spuren ihrer ermordeten Vorfahren suchen. Doch "Auschwitz, oder nett gesagt, Oswiecim, ist das blumenreichste Städtchen, das ich jemals gesehen habe. Jemals", erläutert Jean seinen ersten Eindruck. Das ehemalige Konzentrationslager in seinem perfekt konservierten Zustand erweist sich als Touristenattraktion, Männer und Frauen in Shorts und ärmellosen T-Shirts, "die fast schon Strandkleidung tragen", "Ausdünstungen von Sonnencreme" im Gedränge.
Am makaber stillgestellten Ort mit gepflegtem Rasen ist es zu heiß für April. Um das schreckliche Gelände herum ist eine Art Jahrmarkt drapiert. Unter dem Druck der angespannten Situation implodiert die ganze Fatalität des Verhältnisses der Geschwister untereinander. Und während Joséphine ständig alles mit ihrem Handy fotografiert, ergeht sich ihr Vater in zynischen Bemerkungen und rabiater Verweigerung, seine Schwester wird wütend: "Du wolltest nicht in die Gaskammern, du hast die Judenrampe nicht sehen wollen, es war Ehrensache für dich, die ungarische Ausstellung zu boykottieren, jetzt noch die Sauna! Es wäre wirklich nett, Serge, wenn du hin und wieder im Leben über dein kleines Ich hinwegsehen und dich einer Gruppe anpassen könntest, und sei es auch nur für einen Tag, deiner Tochter zuliebe!"
Serges Boykott gilt zugleich der gesamten Geschichte seiner Familie, bis in die Gegenwart, er verweigert diese versuchte Gemeinschaft im Gedenken. Das Erinnern wird als eine leere Hülle demaskiert. Die melancholischen Einlassungen des Erzählers Jean registrieren das ohne Sentimentalität. Dahinter ist vielleicht Rezas eigene Stimme zu vernehmen: "Erneutes Herumirren draußen, über die Wege des Lagers. Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein." Reza macht sich mit keinem Wort über Auschwitz lustig. Der souveräne Umgang mit Sprache, das Gefühl für den Rhythmus des Erzählens erlauben ihr die Balance zwischen - manchmal boshafter - Komik und feinem Taktgefühl.
Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels", ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung. Als "Serge" vor einem Jahr in Frankreich erschien, sagte Reza im Interview mit "Le Monde", das Lachen über die Katastrophe sei immer perfekt, es sei das "finale Lachen". Es ist das Lachen, um leerem Pathos zu entkommen, angesichts der Trostlosigkeit der menschlichen Kondition.
Reza hat in "Serge" über die Zeit und den Tod geschrieben. Der Tod ist der Abgrund, in den sie auch die alternden "Popper-Kinder" blicken lässt - und uns mit ihnen. Reza operiert mit "Serge" einmal mehr hart an der Wirklichkeit. Und sie weiß, worüber sie schreibt in dieser Familiengeschichte. Das autobiographische Moment ist ihre eigene verstreute jüdische Herkunft, ihr Vater war Iraner, ihre Mutter Ungarin, sie selbst wuchs in Paris auf. Doch die Poppers, so befremdlich, manchmal erschreckend sie erscheinen mögen, muten zugleich so vertraut an, in ihren mehr oder weniger bourgeoisen Verhältnissen, mit ihrem notorischen Abweichler. Serge, dessen Name dem Buch seinen Titel gibt, steht im Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn er nicht auf der Szene ist. Denn in seiner grotesk verkommenen Existenz, mit seinem unangemessenen Benehmen verkörpert er das unauflösbare Dilemma, seine Wehleidigkeit markiert die völlige Ausweglosigkeit. Um ihn herum brechen die Lebenslügen der anderen auf wie giftige Früchte. Dank Rezas hoher Schreibkunst wird er trotzdem sympathisch, wenigstens beinah.
Am Ende sitzen die drei Geschwister im Warteraum eines Hospitals, sie begleiten Serge zur Computertomographie seiner Lunge. "Nana sagt, zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen, und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen." Dann wird Serge ins Untersuchungszimmer gerufen: "Er hinterlässt zwischen uns eine bläuliche Lücke." Dieser großartige Roman öffnet die Tür einen Spalt breit, eine Trauer könnte beginnen, vielleicht sogar ein Gedenken. ROSE-MARIA GROPP
Yasmina Reza: "Serge". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2022. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.01.2022Schwarze Sonne
In ihrem neuen Roman „Serge“ geht Yasmina Reza der Erinnerung an den Holocaust nach.
Sie liefert den Trost, dass man mit der Unbeholfenheit nicht alleine ist
VON NILS MINKMAR
Zwei widersprüchliche Studien wurden vor dem diesjährigen Holcoaust-Gedenktag veröffentlicht. Die eine, vom World Jewish Congress und seinem Präsidenten Ron Lauder beauftragt, gibt Grund zur Sorge. Nach ihr sind viele Deutsche noch antisemitisch eingestellt und wissen schlicht zu wenig über den Massenmord an europäischen Juden. Außerdem habe die Corona-Pandemie schlummernde Ressentiments geweckt und alte Muster von internationalen Dunkelmännerverschwörungen, etwa den ominösen „Globalisten“, wiederbelebt.
Eine andere, vom Kölner Rheingold Institut im Auftrag der Erinnerungszentrum Arolsen Archives durchgeführt, kommt zu einem etwas anderen Ergebnis. Danach sind gerade junge Menschen zwischen 16 und 25 besonders daran interessiert, sich mit diesem Kapitel der Geschichte zu beschäftigen. Sie sehen darin einen moralischen Auftrag jenseits postmoderner Beliebigkeit und fragen sich, welche Lehren sich daraus für die Gegenwart ergeben. Was stimmt denn nun?
Am Ende beides: Es gibt noch zu viele Reservate des Antisemitismus und zugleich den Wunsch einer jungen Generation, mehr zu erfahren und aus der Geschichte eine moralisch relevante und verbindliche Lehre zu ziehen. Die Ratlosigkeit im Umgang mit diesen Taten wird weiter zunehmen. Nun kommen die Gedenktage, an denen kaum noch Überlebende des Vernichtungswahns selbst Zeugnis ablegen können. Wie hält man die Erinnerung lebendig – so, dass sie uns auch fordert? In der öffentlichen Rhetorik haben sich lauter Begriffe eingeschlichen, die uns den Horror vom Leibe halten. Man sagt dann Zivilisationsbruch der Shoah und ähnliche Formeln, die einst wegweisend waren, heute aber nur Fachleuten einleuchten.
So bleibt immer mehr im Ungefähren guter Absichten. Lange schon hat es keine populäre Darstellung des Massenmords an den europäischen Juden gegeben. Die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“, der Film „Schindlers Liste“ und Claude Lanzmanns Dokumentation „Shoah“ sind alles Werke aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts. In der Gegenwart ist da nichts und es ist zweifelhaft, ob es je wieder eine umfassende Darstellung geben wird. Die Wahrheit über diese Taten ist weit unerträglicher als die bislang zumutungsreichsten Arbeiten. Sie sprengen den Rahmen dessen, was einem heutigen Publikum dargestellt werden kann, und die Gefahr besteht, dass jede noch so gut gemeinte Repräsentation nicht respektvoll, sondern obszön wirkt.
Und was ist, wenn man lachen muss? Wenn eine Lehrerin, die ihre Klasse durch eine Gedenkstätte am Ort eines ehemaligen Vernichtungslagers führt, plötzlich, wenn abermals von den dort stattgefundenen Gräueln die Rede ist, so loslachen muss wie noch nie und sich nicht mehr beruhigt, bis sie den Raum verlassen muss? Lachen in Auschwitz. Über die Gravitas, die aufgesetzten Mienen, die improvisierte Feierlichkeit der Besuchergruppen, für die alles, auch diese irdische Hölle, Tourismus ist.
Die französische Autorin Yasmina Reza stellt solche Szenen und diese Frage in den Mittelpunkt ihres neuen Romans „Serge“. Die meisterliche, weltweit gefeierte Dramatikerin betrachtet in diesem dichten, nicht allzu langen Buch eine Familie von heute. Zwei Brüder und eine Schwester in den besten Jahren, jüdische Vorfahren, kompliziertes Privatleben – der ganz normale Wahnsinn des Alltags im Großraum Paris. Sie alle sind nicht gerade in ihrer persönlichen Bestform, aber es könnte schlimmer sein, nämlich so, wie es den Alten im Roman ergeht. Die Legenden ihrer Kindheit verlieren Glanz und Kraft, werden bettlägerig und kraftlos, noch dazu bevormundet. Die greise Mutter der drei wird sogar dazu überredet, nach einem ohne Sport verbrachten Leben auf ein Trainingsrad zu steigen, auf dem sie die Haltung der Tour de France-Fahrer einnimmt, weil sie keine andere kennt. Viel vermochte sie zuletzt nicht mehr, aber sie hielt, bis zu ihrem Tod im Kontext der Anschaffung eines monströsen Metallkrankenbetts, mit ihren sonntäglichen Mittagessen doch die Familie zusammen. Und nun? Als wäre die Lage der Familie nicht komplex genug, lassen sie sich dazu überreden, gemeinsam nach Polen zu reisen, um die Gedenkstätte Auschwitz zu besuchen.
Reza beweist ihre atemberaubende Virtuosität, indem sie aus diesem von Anfang an schrägen Vorhaben nicht allein wirklich komische Literatur macht, sondern noch mehr. Es ist eine Art Meditation über die Ungeschicklichkeit des Menschen auf Erden. Ihr Ansatz hat etwas von der Existenzphilosophie des vorigen Jahrhunderts, von Edmund Husserl, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Denn die hehren Absichten, die sich das Bewusstsein so zurechtlegt, kontrastieren mit den Stimmungen, Launen und Befindlichkeiten des im schwitzenden oder frierenden, hungrigen oder nervösen Körper verhafteten Menschen. Man möchte sich als guter Mensch, als, wie Sartre sagen würde, in seiner Existenz irgendwie „begründeter“ moralischer Agent seiner Zeit sehen – aber dann ist man genervt von den anderen Touristen, kann das Thema nicht mehr hören und hat Durst oder Sehnsucht nach zuhause.
In der Gedenkstätte soll man empfinden, erkennen, sich verändern – aber die ProtagonistInnen dieses Buchs stolpern über das Gelände wie durch ihren Alltag. Serge, der ältere Bruder, trägt einen Anzug, obwohl es in jenem April sommerlich warm ist. Zugleich ist er nicht in Form, möchte gerne abnehmen und fühlt sich bedrängt, gestresst. Seine Tochter Joséphine, die den Besuch gewünscht und organisiert hatte, ist enttäuscht, dass er die Räume immer sofort verlässt, weil es ihm zu warm wird. Sie fragt „Ist es Dir nicht zu heiß, Papachen, in deinem Anzug?“ – „Doch, doch, aber in Auschwitz werde ich mich nicht beklagen!“ Später fürchtet er, einen Infarkt zu erleiden und zündet sich zur Beruhigung erstmal eine Zigarette an. Die einen Mitglieder der familiären Reisegruppe wetteifern darum, wer am schnellsten hintereinander unfassbar oder schrecklich sagen kann, die anderen verwiesen darauf, dass es das alles doch immer noch gibt, in den Knästen von Syrien oder Pakistan.
Um einen so unterhaltenden, schimmernden und immer wieder überraschenden literarischen Effekt zu erzielen, legt Reza wie eine japanische Lackkünstlerin unendlich viele Schichten übereinander. Da ist die Nostalgie nach der Generation der Eltern, in dieser Geschichte sind es jüdische Veteranen des einstigen Mitteleuropas. Ihr Lebensthema war die Vielfalt, die verkörperte Diversität an Kulturen und Nationen, der Zukunftsoptimismus, die Reisen. Doch die jüngeren Mitglieder der Familie suchen Identität, eine Geschichte und möchten ihr ganz persönliches Ding machen. Auschwitz, auch wenn der Besuch als touristische Groteske beschrieben wird, die zugleich enttäuscht und überfordert, ist die schwarze Sonne, unter der sich alles abspielt. Es ist wie in dem eindrucksvollen Roman „Monster“ des israelischen Schriftstellers Yishai Sarid aus dem Jahr 2019, in dem ein Fremdenführer in der Gedenkstätte Auschwitz einen deutschen Dokumentarfilmer mit einem Faustschlag umhaut – die Erinnerung ist nicht zu bändigen, sondern entwickelt auch all die Jahre danach eine Energie, die uns überfordert.
Reza gelingt ein Meisterwerk: die tröstlich gemeinten, oft allzu naiven Erzählungen, mit denen wir uns über den Alltag retten, dekonstruiert sie komisch, aber gründlich. Es gibt keine dem Grauen der Shoah angemessene moralische Empfindung, keine Lebensreform, die davon entbinden würde, sich immer wieder an eine Interpretation der Taten und ihrer Folgen wagen zu müssen. Sie begegnen uns in den Nachrichten, im alltäglichen Antisemitismus, bewegen zu Fragen, sogar zu historischen Untersuchungen der Familie und der Nachbarschaft. „Serge“ hat für sein Publikum keinen Ausweg parat, keine zehn tollen Tipps für ein Leben nach dem Holocaust und dem Versterben der Zeitzeuginnen, aber gerade in dem Yasmina Reza lustvoll die Vergeblichkeit aller Strategien, damit klar zu kommen demonstriert, indem sie alle postmodernen Identitätssuchen souverän im Abseits enden lässt, eröffnet sie einen eigenen Weg, den der Literatur. Dieses meisterliche Buch über eine belastete, verwirrte und sympathische Familie gehört zum Besten, was es derzeit zu lesen gibt. Reza erinnert an unsere irdische Unbeholfenheit, unsere Überforderung und Ratlosigkeit und indem sie das tut, mit den Mitteln der Sprache – kongenial ins Deutsche übertragen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel– spendet sie Trost: Es geht allen so, Du bist nicht allein.
Es ist eine Art Meditation
über die Ungeschicklichkeit
des Menschen auf Erden
Dieses meisterliche Buch
gehört zum Besten,
was es derzeit zu lesen gibt
Die meisterliche, weltweit gefeierte Dramatikerin
Yasmina Reza betrachtet in ihrem neuen, nicht allzu
langen Buch eine Familie
von heute.
Foto: Pascal Victor/ArtcomArt
Yasmina Reza:
Serge. Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Heibert, Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser 2022. 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem neuen Roman „Serge“ geht Yasmina Reza der Erinnerung an den Holocaust nach.
Sie liefert den Trost, dass man mit der Unbeholfenheit nicht alleine ist
VON NILS MINKMAR
Zwei widersprüchliche Studien wurden vor dem diesjährigen Holcoaust-Gedenktag veröffentlicht. Die eine, vom World Jewish Congress und seinem Präsidenten Ron Lauder beauftragt, gibt Grund zur Sorge. Nach ihr sind viele Deutsche noch antisemitisch eingestellt und wissen schlicht zu wenig über den Massenmord an europäischen Juden. Außerdem habe die Corona-Pandemie schlummernde Ressentiments geweckt und alte Muster von internationalen Dunkelmännerverschwörungen, etwa den ominösen „Globalisten“, wiederbelebt.
Eine andere, vom Kölner Rheingold Institut im Auftrag der Erinnerungszentrum Arolsen Archives durchgeführt, kommt zu einem etwas anderen Ergebnis. Danach sind gerade junge Menschen zwischen 16 und 25 besonders daran interessiert, sich mit diesem Kapitel der Geschichte zu beschäftigen. Sie sehen darin einen moralischen Auftrag jenseits postmoderner Beliebigkeit und fragen sich, welche Lehren sich daraus für die Gegenwart ergeben. Was stimmt denn nun?
Am Ende beides: Es gibt noch zu viele Reservate des Antisemitismus und zugleich den Wunsch einer jungen Generation, mehr zu erfahren und aus der Geschichte eine moralisch relevante und verbindliche Lehre zu ziehen. Die Ratlosigkeit im Umgang mit diesen Taten wird weiter zunehmen. Nun kommen die Gedenktage, an denen kaum noch Überlebende des Vernichtungswahns selbst Zeugnis ablegen können. Wie hält man die Erinnerung lebendig – so, dass sie uns auch fordert? In der öffentlichen Rhetorik haben sich lauter Begriffe eingeschlichen, die uns den Horror vom Leibe halten. Man sagt dann Zivilisationsbruch der Shoah und ähnliche Formeln, die einst wegweisend waren, heute aber nur Fachleuten einleuchten.
So bleibt immer mehr im Ungefähren guter Absichten. Lange schon hat es keine populäre Darstellung des Massenmords an den europäischen Juden gegeben. Die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“, der Film „Schindlers Liste“ und Claude Lanzmanns Dokumentation „Shoah“ sind alles Werke aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts. In der Gegenwart ist da nichts und es ist zweifelhaft, ob es je wieder eine umfassende Darstellung geben wird. Die Wahrheit über diese Taten ist weit unerträglicher als die bislang zumutungsreichsten Arbeiten. Sie sprengen den Rahmen dessen, was einem heutigen Publikum dargestellt werden kann, und die Gefahr besteht, dass jede noch so gut gemeinte Repräsentation nicht respektvoll, sondern obszön wirkt.
Und was ist, wenn man lachen muss? Wenn eine Lehrerin, die ihre Klasse durch eine Gedenkstätte am Ort eines ehemaligen Vernichtungslagers führt, plötzlich, wenn abermals von den dort stattgefundenen Gräueln die Rede ist, so loslachen muss wie noch nie und sich nicht mehr beruhigt, bis sie den Raum verlassen muss? Lachen in Auschwitz. Über die Gravitas, die aufgesetzten Mienen, die improvisierte Feierlichkeit der Besuchergruppen, für die alles, auch diese irdische Hölle, Tourismus ist.
Die französische Autorin Yasmina Reza stellt solche Szenen und diese Frage in den Mittelpunkt ihres neuen Romans „Serge“. Die meisterliche, weltweit gefeierte Dramatikerin betrachtet in diesem dichten, nicht allzu langen Buch eine Familie von heute. Zwei Brüder und eine Schwester in den besten Jahren, jüdische Vorfahren, kompliziertes Privatleben – der ganz normale Wahnsinn des Alltags im Großraum Paris. Sie alle sind nicht gerade in ihrer persönlichen Bestform, aber es könnte schlimmer sein, nämlich so, wie es den Alten im Roman ergeht. Die Legenden ihrer Kindheit verlieren Glanz und Kraft, werden bettlägerig und kraftlos, noch dazu bevormundet. Die greise Mutter der drei wird sogar dazu überredet, nach einem ohne Sport verbrachten Leben auf ein Trainingsrad zu steigen, auf dem sie die Haltung der Tour de France-Fahrer einnimmt, weil sie keine andere kennt. Viel vermochte sie zuletzt nicht mehr, aber sie hielt, bis zu ihrem Tod im Kontext der Anschaffung eines monströsen Metallkrankenbetts, mit ihren sonntäglichen Mittagessen doch die Familie zusammen. Und nun? Als wäre die Lage der Familie nicht komplex genug, lassen sie sich dazu überreden, gemeinsam nach Polen zu reisen, um die Gedenkstätte Auschwitz zu besuchen.
Reza beweist ihre atemberaubende Virtuosität, indem sie aus diesem von Anfang an schrägen Vorhaben nicht allein wirklich komische Literatur macht, sondern noch mehr. Es ist eine Art Meditation über die Ungeschicklichkeit des Menschen auf Erden. Ihr Ansatz hat etwas von der Existenzphilosophie des vorigen Jahrhunderts, von Edmund Husserl, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Denn die hehren Absichten, die sich das Bewusstsein so zurechtlegt, kontrastieren mit den Stimmungen, Launen und Befindlichkeiten des im schwitzenden oder frierenden, hungrigen oder nervösen Körper verhafteten Menschen. Man möchte sich als guter Mensch, als, wie Sartre sagen würde, in seiner Existenz irgendwie „begründeter“ moralischer Agent seiner Zeit sehen – aber dann ist man genervt von den anderen Touristen, kann das Thema nicht mehr hören und hat Durst oder Sehnsucht nach zuhause.
In der Gedenkstätte soll man empfinden, erkennen, sich verändern – aber die ProtagonistInnen dieses Buchs stolpern über das Gelände wie durch ihren Alltag. Serge, der ältere Bruder, trägt einen Anzug, obwohl es in jenem April sommerlich warm ist. Zugleich ist er nicht in Form, möchte gerne abnehmen und fühlt sich bedrängt, gestresst. Seine Tochter Joséphine, die den Besuch gewünscht und organisiert hatte, ist enttäuscht, dass er die Räume immer sofort verlässt, weil es ihm zu warm wird. Sie fragt „Ist es Dir nicht zu heiß, Papachen, in deinem Anzug?“ – „Doch, doch, aber in Auschwitz werde ich mich nicht beklagen!“ Später fürchtet er, einen Infarkt zu erleiden und zündet sich zur Beruhigung erstmal eine Zigarette an. Die einen Mitglieder der familiären Reisegruppe wetteifern darum, wer am schnellsten hintereinander unfassbar oder schrecklich sagen kann, die anderen verwiesen darauf, dass es das alles doch immer noch gibt, in den Knästen von Syrien oder Pakistan.
Um einen so unterhaltenden, schimmernden und immer wieder überraschenden literarischen Effekt zu erzielen, legt Reza wie eine japanische Lackkünstlerin unendlich viele Schichten übereinander. Da ist die Nostalgie nach der Generation der Eltern, in dieser Geschichte sind es jüdische Veteranen des einstigen Mitteleuropas. Ihr Lebensthema war die Vielfalt, die verkörperte Diversität an Kulturen und Nationen, der Zukunftsoptimismus, die Reisen. Doch die jüngeren Mitglieder der Familie suchen Identität, eine Geschichte und möchten ihr ganz persönliches Ding machen. Auschwitz, auch wenn der Besuch als touristische Groteske beschrieben wird, die zugleich enttäuscht und überfordert, ist die schwarze Sonne, unter der sich alles abspielt. Es ist wie in dem eindrucksvollen Roman „Monster“ des israelischen Schriftstellers Yishai Sarid aus dem Jahr 2019, in dem ein Fremdenführer in der Gedenkstätte Auschwitz einen deutschen Dokumentarfilmer mit einem Faustschlag umhaut – die Erinnerung ist nicht zu bändigen, sondern entwickelt auch all die Jahre danach eine Energie, die uns überfordert.
Reza gelingt ein Meisterwerk: die tröstlich gemeinten, oft allzu naiven Erzählungen, mit denen wir uns über den Alltag retten, dekonstruiert sie komisch, aber gründlich. Es gibt keine dem Grauen der Shoah angemessene moralische Empfindung, keine Lebensreform, die davon entbinden würde, sich immer wieder an eine Interpretation der Taten und ihrer Folgen wagen zu müssen. Sie begegnen uns in den Nachrichten, im alltäglichen Antisemitismus, bewegen zu Fragen, sogar zu historischen Untersuchungen der Familie und der Nachbarschaft. „Serge“ hat für sein Publikum keinen Ausweg parat, keine zehn tollen Tipps für ein Leben nach dem Holocaust und dem Versterben der Zeitzeuginnen, aber gerade in dem Yasmina Reza lustvoll die Vergeblichkeit aller Strategien, damit klar zu kommen demonstriert, indem sie alle postmodernen Identitätssuchen souverän im Abseits enden lässt, eröffnet sie einen eigenen Weg, den der Literatur. Dieses meisterliche Buch über eine belastete, verwirrte und sympathische Familie gehört zum Besten, was es derzeit zu lesen gibt. Reza erinnert an unsere irdische Unbeholfenheit, unsere Überforderung und Ratlosigkeit und indem sie das tut, mit den Mitteln der Sprache – kongenial ins Deutsche übertragen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel– spendet sie Trost: Es geht allen so, Du bist nicht allein.
Es ist eine Art Meditation
über die Ungeschicklichkeit
des Menschen auf Erden
Dieses meisterliche Buch
gehört zum Besten,
was es derzeit zu lesen gibt
Die meisterliche, weltweit gefeierte Dramatikerin
Yasmina Reza betrachtet in ihrem neuen, nicht allzu
langen Buch eine Familie
von heute.
Foto: Pascal Victor/ArtcomArt
Yasmina Reza:
Serge. Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Frank Heibert, Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser 2022. 22 Euro.
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"Klug, witzig und erstaunlich leicht." Novina Göhlsdorf, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.07.22
"Ein heiterer Roman über den Besuch einer jüdischen Familie in Auschwitz: das gelingt in unserer Gegenwartsliteratur niemand so stilsicher wie Yasmina Reza. Innerfamiliäre Konflikte und welthistorische Bruchlinien ambivalent, komplex und doch unterhaltend darzustellen: Das schafft große Literatur. Bravo!" Denis Scheck, Tagesspiegel, 27.03.22
"Dieser melancholische Roman ist ein vor Lebensweisheit schimmernder Edelstein, der sich in ein ruppig ironisches Gewand gehüllt hat, und in dieser Verkleidung nur umso ergreifender. Die fabelhafte Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert geht jeden von Yasmina Rezas Schritten mit, aus dem Leichten ins Schwere, aus dem Groben ins Zarte und wieder retour, und macht ein bezwingendes, idiomatisches Deutsch daraus." Eva Menasse, Der Spiegel, 12.02.22
"Ein tragikomischer, tief berührender Roman. ... Was Jasmina Reza wagt - und kann -, muss man in deutscher Sprache lange und vergeblich suchen. Einzigartig ist unter anderem ihre Fähigkeit, Sarkasmus an der Oberfläche mit tiefer Zuneigung zu ihren Figuren zu verbinden." Marin Ebel, Tages-Anzeiger, 01.02.22
"Ein prächtig abschnurrender, kompakter Gesellschaftsroman rund um eine temperamentvolle bürgerliche Familie und ihre illustren Freunde, darunter neunundneunzigjährige sterbensbereite Spaßvögel und Charakterköpfe. ... Ein defitges, zugleich leichtes und vor allem befreiendes Buch." Margarete Affenzeller, Der Standard, 27.01.22
"Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in 'Kunst' oder 'Der Gott des Gemetzels', ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung ... ein großartiger Roman ..." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.22
"Ein grandioser Roman ... Falls man sich generell mal nicht sicher sein sollte, ob die Bücher, die man liest, gut sind, dann kann man einfach diesen neuen Roman danebenlegen, um den Unterschied zu erkennen. 'Serge' zeigt, was einen Roman ausmacht. Ist auf eine so elegante Weise böse und witzig zugleich, hält die Balance zwischen den Wünschen und den Fehlern seiner Figuren, ohne sie für eine Pointe oder eine billige Erkenntnis zu verraten." Tobias Rüther, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.22
"Ein großartiger, tragikomischer Roman, der von der Unmöglichkeit des Erinnerns handelt ... Ihr vielleicht bester Roman." Iris Radisch, Die Zeit, 20.01.22
"Ein heiterer Roman über den Besuch einer jüdischen Familie in Auschwitz: das gelingt in unserer Gegenwartsliteratur niemand so stilsicher wie Yasmina Reza. Innerfamiliäre Konflikte und welthistorische Bruchlinien ambivalent, komplex und doch unterhaltend darzustellen: Das schafft große Literatur. Bravo!" Denis Scheck, Tagesspiegel, 27.03.22
"Dieser melancholische Roman ist ein vor Lebensweisheit schimmernder Edelstein, der sich in ein ruppig ironisches Gewand gehüllt hat, und in dieser Verkleidung nur umso ergreifender. Die fabelhafte Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert geht jeden von Yasmina Rezas Schritten mit, aus dem Leichten ins Schwere, aus dem Groben ins Zarte und wieder retour, und macht ein bezwingendes, idiomatisches Deutsch daraus." Eva Menasse, Der Spiegel, 12.02.22
"Ein tragikomischer, tief berührender Roman. ... Was Jasmina Reza wagt - und kann -, muss man in deutscher Sprache lange und vergeblich suchen. Einzigartig ist unter anderem ihre Fähigkeit, Sarkasmus an der Oberfläche mit tiefer Zuneigung zu ihren Figuren zu verbinden." Marin Ebel, Tages-Anzeiger, 01.02.22
"Ein prächtig abschnurrender, kompakter Gesellschaftsroman rund um eine temperamentvolle bürgerliche Familie und ihre illustren Freunde, darunter neunundneunzigjährige sterbensbereite Spaßvögel und Charakterköpfe. ... Ein defitges, zugleich leichtes und vor allem befreiendes Buch." Margarete Affenzeller, Der Standard, 27.01.22
"Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in 'Kunst' oder 'Der Gott des Gemetzels', ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung ... ein großartiger Roman ..." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.22
"Ein grandioser Roman ... Falls man sich generell mal nicht sicher sein sollte, ob die Bücher, die man liest, gut sind, dann kann man einfach diesen neuen Roman danebenlegen, um den Unterschied zu erkennen. 'Serge' zeigt, was einen Roman ausmacht. Ist auf eine so elegante Weise böse und witzig zugleich, hält die Balance zwischen den Wünschen und den Fehlern seiner Figuren, ohne sie für eine Pointe oder eine billige Erkenntnis zu verraten." Tobias Rüther, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.22
"Ein großartiger, tragikomischer Roman, der von der Unmöglichkeit des Erinnerns handelt ... Ihr vielleicht bester Roman." Iris Radisch, Die Zeit, 20.01.22