Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Silke Scheuermann ist nach Asien gereist und mit einem Roman zurückgekommen: "Shanghai Performance" erzählt vom Drama einer erfolgreichen Künstlerin, die sich für den Erfolg tief in Schuld verstrickt. Die wahre Heldin der Geschichte aber ist die Megametropole.
Schanghai zwingt jeden in die Knie. Wer in jüngster Zeit einmal dort gewesen ist, hat diesen Sog am eigenen Leib gespürt. Diese Stadt ist eine einzige Fortschrittsphantasmagorie aus Stein und Stahl. Sie raubt einem den Schlaf, sie ist der in Stein gehauene Größenwahn, denn Schanghai erschafft sich ununterbrochen neu, für zwanzig, dreißig, vierzig Millionen Menschen, und jeden Morgen hat die Stadt ein neues Antlitz, weil sie nachts nicht schläft, sondern in die Höhe schießt, so schnell, dass man meint, beim Häuserwachsen zusehen zu können.
Auch die junge Kunsthistorikerin Luisa aus Frankfurt wird von ihren ersten rauschhaften Momenten in der Stadt erschüttert. Sie ist zusammen mit Margot Winkraft als Assistentin dieser berühmten deutschen Künstlerin nach Asien gereist. "Hinter der Bebauung war immer noch mehr Bebauung", sinniert Luisa, als sie von einer Bar hoch oben in einem Hochhaus hinabschaut auf den Huangpu, der wie ein tiefblaues, fast schwarzes Glitzerband unter ihr liegt. Dass ganze Stadtteile Schanghais ausgelöscht werden ohne ein Moment des Bedauerns, weil sich die Mächtigen hier der Zukunft versprochen haben - dieser "stumme Kampf" gegen das Gestern beeindruckt die junge Deutsche, "man kann ihm zusehen wie einem Spielfilm".
Wie ein mitreißender Film liest sich auch der neue Roman von Silke Scheuermann, die 2008 einige Monate in der asiatischen Millionenmetropole verbracht hat. In "Shanghai Performance" erzählt sie mitleidlos und aus kühl-ironischer Distanz von der tragischen Verstrickung zweier Frauen, eben Luisa und Margot, die in Schanghai eskaliert. Im Kern geht es um eine Frage, die freilich an jedem Ort der Welt spielen könnte, nämlich die, welches Opfer ein Mensch, genauer: eine Künstlerin, für ihr Werk bringen darf. Rechtfertigt der Dienst an der hehren Kunst menschliche Grausamkeit? Erzählt wird dies allzu menschliche Lehrstück aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Luisa. Zurück in Frankfurt, erinnert sie sich an die schreckensvollen Ereignisse, von denen sie sich längst nicht erholt hat. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen.
Luisa war allenfalls skeptisch, als die vergötterte Margot, über die sie schon ihre Doktorarbeit geschrieben hatte und die mit Models auf der ganzen Welt arbeitete, beschloss, ausgerechnet das Angebot einer unbekannten Galerie in Schanghai anzunehmen. Luisa kann dem Projekt nicht viel abgewinnen, zumal China in ihren Augen als Kunstmarkt längst wieder passé ist. In der chinesischen Galeristin wähnt die junge Deutsche gar Konkurrenz. Doch als Margot, ein fast schon zwanghafter Kontrollfreak, sich in Schanghai von Tag zu Tag seltsamer verhält, kann Luisa das bald nicht mehr bloß mit der Hitze und der Fremdheit der Stadt erklären.
Eine "Angestellte des Lichts" - so nennt sich Margot selbst gern. Ausgerechnet in Schanghai aber wird sie in die dunkelsten Abgründe ihres Selbst gestoßen. Denn hier trifft Margot ihre uneheliche und inzwischen erwachsene Tochter, die heute in der Stadt lebt. Winonas Vater, ein chinesischer Geschäftsmann, hatte Margot einst in Amerika getroffen - und ihn samt Baby bald wieder verlassen, um sich als upcoming star der internationalen Kunstszene ganz auf ihr Werk konzentrieren zu können.
Margot ist in ihrer Selbstbezogenheit so naiv, dass sie glaubt, ihre Tochter Winona könnte sich womöglich für das Kunstprojekt bewerben, das Margot in Schanghai plant. In der Figur der Margot Winkraft lässt sich unschwer das reale Vorbild Vanessa Beercroft erkennen. Genau wie die in Amerika lebende Künstlerin arrangiert Margot in ihren Performances weibliche Körper zu lebenden Kunstwerken und setzt sich wie besessen mit der Schönheit des Körpers und seiner Vergänglichkeit auseinander. Mehr oder weniger bekleidete Frauen plaziert sie nach einem bestimmten System in Museums- oder Galerieräumen, wo die Mädchen dann stumm bis zur Erschöpfung stehen und die Blicke und Kommentare der Besucher scheinbar ignorieren.
Die Begegnung mit der fremden Tochter lassen in der Erzählerin das idealisierte Bild von Margot, mit der sie sich identifiziert, für die sie alles getan hat, zerplatzen. Luisa, die ewige Assistentin, erzählt ihre Geschichte auch als die Emanzipation einer Dienerin - auch als Vertreterin einer Generation der um die Dreißigjährigen, die davon überzeugt sind, dass es in unserer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten sonst keine Sicherheit geben kann.
Aus der atmosphärisch dicht beschriebenen Spannung der beiden Frauen zieht Silke Scheuermann psychologisch nachvollziehbare Schlüsse. Die junge Autorin, die als Lyrikerin bekannt wurde, erzählt ihre Geschichte mit geradezu offensiver Konventionalität. Das Ergebnis wirkt nicht nur wegen der aktuellen Quotendebatte sehr nah: Margot ist das Paradebeispiel für einen Menschen, in dessen Lebensentwurf Berufung und Familie sich ausschließen. Die Jüngere wird andere Konsequenzen aus dem Leben ziehen. Eine große Künstlerin, so viel steht fest, wird sie jedoch niemals sein. So herrschen und zerbrechen in dieser irritierenden Stadt Bindungen, und es werden künstlerische Freiheiten und menschliche Abhängigkeiten durchprobiert. Margot geht für ihr Werk über Leichen, und in beißenden Dialogen lässt Silke Scheuermann den globalen Kunst-Jetset zu Wort kommen, der tiefschürfende Platituden austauscht, was angesichts der Dramatik der realen Ereignisse zuerst nur ironisch, dann auch verstörend klingt.
Wie schon in ihrem kurzen Romandebüt "Die Stunde zwischen Hund und Wolf" beweist die Autorin einen wachen Blick und Sinn für knappe Ironie. In dem nunmehr fast doppelt so umfangreichen neuen Werk verkneift sie sich jegliche Gefühligkeit und jeden Weltschmerz - auch angesichts der Megametropole Schanghai, die hier niemand verstehen kann und die einen doch das Fürchten lehrt. Vor diesem Hintergrund wirken Silke Scheuermanns Frauenfiguren in diesem packenden Roman noch heimatloser, als sie es innerlich ohnehin schon sind. Luisa und Margot sind Streuner. Gefühle sind ihnen nicht fremd, aber suspekt. Wie unterschiedlich beide damit umgehen, erzählt viel über moderne weibliche Biographien.
SANDRA KEGEL
Silke Scheuermann: "Shanghai Performance". Roman.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2011. 312 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH