Vielleicht hilft es, wenn man „Shanghai Story“ direkt anders betrachtet: Nicht als Roman, sondern als Kurzgeschichtensammlung. Als Roman scheitert das Experiment, eine Familiengeschichte von 2040 in Richtung Vergangenheit zu erzählen, am fehlenden roten Faden. Auf der anderen Seite: die
unterschiedlich langen Episoden aus dem Leben der Familie Yang sind wirklich gut.
Juli Min nimmt die…mehrVielleicht hilft es, wenn man „Shanghai Story“ direkt anders betrachtet: Nicht als Roman, sondern als Kurzgeschichtensammlung. Als Roman scheitert das Experiment, eine Familiengeschichte von 2040 in Richtung Vergangenheit zu erzählen, am fehlenden roten Faden. Auf der anderen Seite: die unterschiedlich langen Episoden aus dem Leben der Familie Yang sind wirklich gut.
Juli Min nimmt die Leser:innen mit in das Leben einer asiatischen Familie mit chinesisch-japanischen Wurzeln. Wobei Grenzen eigentlich keine Rolle spielen. Zwei der drei Kinder studieren in den Staaten, die Eltern haben lange in Frankreich gelebt, man jettet zu jeder Gelegenheit rund um den Globus. Aber auch das Leben in der Shang-High Society hat seine Schattenseiten – und die Autorin beleuchtet diese grandios.
Eheprobleme, Abtreibung, illegale Autorennen, Prostitution, ja, selbst Corona sind Elemente, die in den einzelnen Geschichten vorkommen. Zu Beginn sitzt Leo, der Familienvater, im Hochgeschwindigkeitszug vom Flughafen zurück in die Stadt und reflektiert den aktuellen Status seiner Ehe. Und auch andere Figuren tauchen auf, nehmen die Lesenden mit in ihre Gedankenwelt. Damit beginnt das Experiment, denn: „Shanghai Story“ ist rückwärts erzählt. Man wird nie erfahren, was aus Juli Mins Figuren wird. Aber kleiner, enttäuschender Spoiler: Man erfährt größtenteils auch nicht, worin die Wurzeln ihrer Gedanken, ihrer Lebenssituationen sind. Denn nur wenig ist miteinander verwoben.
Eigentlich enttäuschend, sollte man meinen. Viele Nebenfiguren, die in den Geschichten auftauchen, sind gut gezeichnet, man möchte mehr über sie erfahren, aber nein, um sie soll und wird es nur am Rande gehen. Und auch die vielen Erlebnisse der Familie Yang sind größtenteils nur kleine Spotlights, die einmal aufglühen und danach nicht mehr thematisiert werden. Viel Potenzial verschenkt, „Shanghai Story“ hätte zu einem epochalen Werk werden können.
Aber: Die Geschichten sind schon gut. Liest man sie für sich und macht sich keine Hoffnung, dass Plots wieder aufgegriffen werden, sind es wirklich starke, spannende Episoden rund um das Leben der Familie und der Personen, die ihnen nahestehen. Besonders berührend die über das Kindermädchen der Familie, fast schon herzzerreißend die Begegnungen und Abschiede rund um ihr vormals betreutes Kind.
Kritzelt man also dieses Wort „Roman“ vom Cover, ändert den Titel minimal auf „Shanghai Stories“, dann ist Juli Mins Debüt wirklich richtig gelungen. So bleibt ein fader Beigeschmack, dass mehr möglich gewesen wäre. Schon schade. Aber lesenswert allemal.