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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Vergebung ist machbar, Herr Nachbar? William Boyles neuer Brooklyn-Roman sucht Wege aus dem zerstörten Leben.
Wie jede Geschichte hat auch diese eine Vorgeschichte. Im Juli 1996 werfen zwei dumme Jungs "irgendwelches Zeugs auf die Autos, die beim Caesar's Bay Shopping Center auf den Bay Parkway abfahren". Kann schon mal ein Stein sein. Der vierzehnjährige Bobby Santovasco und sein Freund Zeke spielen dieses blöde Spiel, das tödlich enden wird. Bobby trifft durchs offene Fenster Amelia Cornacchia, die den Anschlag nicht überlebt. "Auf so jemand hatten sie es nicht abgesehen. Sie ist keines von diesen Arschlöchern." Aber die Neunzehnjährige ist tot, und ihr Geist steht im Zentrum des neuen Romans von William Boyle, dessen Titel einen Song von Garland Jeffreys zitiert.
Fünf Jahre später, im Sommer, den der 11. September für immer verdüstern wird, treffen wir Bobby wieder. Er ist davongekommen, die Tat wurde nicht aufgeklärt. Natürlich ist nichts Rechtes aus ihm geworden. Er verdingt sich als Helfer eines gewissen Max Berry, der mit einem Schneeballsystem arme Leute aus dem Viertel noch ärmer macht. Diesen Typen gab es wirklich, Boyle kannte ihn, behält dessen Namen aber für sich. Berry trinkt nur Milch, er selbst und sein Büro sind heruntergekommen, es gibt Gerüchte, dass er für die Mafia arbeitet.
Als Figur in einem Kriminalroman wirkt Jack Cornacchia herausfordernd - er ist der Geist, der stets das Gute will, aber gelegentlich das Böse tut. Jack hat nach seiner Mutter seine Frau verloren und schließlich seine Tochter, ebenjene Amelia. Er lebt in einem heruntergekommenen Haus und hat sich in der Nachbarschaft einen Namen gemacht als jemand, der Gerechtigkeit herstellt, mit Worten, einem Baseballschläger oder einer Waffe. Selbstjustiz in einem Paralleluniversum namens Brooklyn, in dem die Polizei eine Nebenrolle spielt. Die Beamten vom 62. Polizeirevier haben kein großes Interesse, die Fälle gründlich zu untersuchen. Im Zweifelsfall gilt: Mafia-Interna, besser nicht einmischen. Recht und Ordnung als Staubteilchen einer Grauzone.
Lily, die Halbschwester von Bobby, hat ihren Bruder aus den Augen verloren. Als sie ihn wiedertrifft, im bluttriefenden Finale, hat sie Halt gefunden bei einem neuen, liebenden Ersatzvater. Denn Jack, der ein Schreibseminar bei Lily belegt hat, bietet Fürsorge und Rat, aufrichtig, ohne Hintergedanken. Jack hat die Geschichte vom Tod seiner Tochter in zwei Versionen aufgeschrieben: als den Streich eines dummen Jungen namens Nobody Boy, der nicht wusste, was er tat. Und als Rachegeschichte, die schildert, was der Vater mit dem Täter anstellt, als er ihn in die Finger bekommt. Jack weiß auch, wie man Lilys Stalker loswerden kann. Wenig später wird bekannt, dass dieser Micah tot im Kofferraum seines Wagens in Poughkeepsie gefunden wurde, hundert Meilen nordwärts. Lily fragt Jack, ob er Micah umgebracht habe: ",Nein', sagt er, aber er sieht dabei auf die Straße. Sie halten an der Ampel. Ihr Rot fällt durch die Windschutzscheibe auf sein Gesicht. Er ist so ruhig, dass er die Wahrheit gesagt haben könnte, aber sie weiß, dass er lügt."
Bobby ist derweil an ein Mädchen geraten, das ihn fasziniert, und Francesca gefällt Bobby, weil er sie an Matt Dillon in "Drugstore Cowboy" erinnert. Wie viele andere in Brooklyn wollen sie möglichst weit weg, ein neues Leben beginnen. Als der Wunsch, gemeinsam durchzubrennen, übermächtig wird, beschließt Bobby, sich mit Startkapital auszustatten: Sein Arbeitgeber Max Berry hat genug davon in seinem Tresor. Doch der Raubüberfall entgleist, am Ende ist Max Berry tot, und Bobby hat eine Tasche mit viel Geld und Drogen, die einem Mafia-Vollstrecker namens Charlie gehören. Der steht bald vor der Tür und setzt eine Kaskade der Gewalt in Gang, die das Finale bestimmt.
"Shoot the Moonlight Out" ist der mittlerweile fünfte Roman, den der Polar Verlag in der Übersetzung der fabelhaften Andrea Stumpf vorlegt. Sie zählt zum Kreis jener Übersetzerinnen, bei denen Original und Übersetzung für Qualität bürgen. Wer von einem Kriminalroman primär Spannung erwartet, der wird von Boyle jedoch einer harten Geduldsprobe unterzogen. Denn lange Zeit mäandert das Sittengemälde durch den armseligen Alltag der überwiegend italienischstämmigen Bevölkerung in einem Glasscherbenviertel, das der Autor aus eigener Anschauung gut kennt - die südwestliche Ecke von Brooklyn. Manhattan liegt vor der Haustür und doch auf einem anderen Planeten.
Seit dem Debüt "Gravesend" (F.A.Z. vom 7. Mai 2018) erkundet der 1978 geborene Boyle diese Heimat, auch wenn er heute in den Südstaaten lebt. Es ist eine Gegend, in der man das Kreuzzeichen schlägt, wenn man an einer Kirche vorbeifährt - ohne darüber nachzudenken, warum. Eine Gegend, die der Schäbigkeit eine Portion Poesie entgegensetzt. "Der Mond über dem Viertel leuchtet hell wie eine Leuchtreklame und ergießt sein Licht über den Asphalt, die Motorhauben der Autos und die Marienstatuen in den unkrautüberwucherten Vorgärten, überall die kaputten Fenster und Türen, die Risse im Gehsteig und in den Herzen, über die Dächer, die Ordnung und das Chaos, über alles, was verborgen ist und was offen daliegt." Mit seinem Zyklus über die verlorene Zeit in Brooklyn ist William Boyle ein Romanwerk geglückt, das ihm einen Platz im Kanon des Genres sichert. HANNES HINTERMEIER
William Boyle: "Shoot the Moonlight Out". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Mit einem Nachwort von Günther Grosser.
Polar Verlag, Stuttgart 2023. 380 S., geb., 26.- Euro,
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