The legendary author's essays and interviews explore how fellow writers from Milan Kundera to Edna O'Brien are influenced by time, place, and politics. Writers are often deeply influenced by the time and place in which they live and write. In Shop Talk, Philip Roth, winner of a National Book Award, a Pulitzer Prize, and numerous other literary honors, explores the intimate relationship a writer's experience has with his or her work. In a series of essays, Roth recounts his intellectual encounters with writers, discussing with them the diverse regions from which they hail and pondering the influence of locale, politics, and history on their work. Featuring luminaries such as Milan Kundera discussing Czechoslovakia; Primo Levi talking about Auschwitz; Edna O'Brien reflecting on Ireland; Isaac Bashevis Singer tackling Warsaw; Aharon Appelfeld on Bukovina; and Ivan Klíma on Prague, Roth's conversations touch on the conditions that inspire great art, with artists as attuned to the subtleties of their societies as they are the nuances of words. Also including a portrait of Bernard Malamud, a written exchange with Mary McCarthy about Roth's The Counterlife, and the essay "Rereading Saul Bellow," Shop Talk is a "fascinating [glimpse] of some of the deans of postwar literature" (Los Angeles Times Book Review).
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2004Viele Zungen im Kopf und keine Sprache
Die Kafka-Bellow Connection: Im Gespräch mit Schriftstellerkollegen findet Philip Roth zu sich selbst / Von Peter Demetz
Zu unserem Glück war Philip Roth in früheren Jahrzehnten, und vor dem Scheitern seiner Ehe mit der Schauspielerin Claire Bloom, noch nicht der Eigenbrötler von heute, der sich gern in sein Haus in den nördlichen Hügeln von Connecticut zurückzieht. Er liebte es, in die weite Welt zu reisen, nach New York, Paris, Jerusalem, Prag oder London, und über seine Bücher und die Sorgen seiner Kollegen zu reden, die auch die seinen waren. Sein erster Essayband, "Reading Myself and Others" (1975), noch deutlich egozentrisch, erschien vor fast dreißig Jahren, ehe er noch seine Meisterromane schrieb, "The American Novel" oder "Der menschliche Makel".
Der neue Band "Shop Talk - Ein Schriftsteller, seine Kollegen und ihr Werk" knüpft in seinen Interviews, Aufsätzen und Überlegungen chronologisch fugenlos an den jüngeren Essayband an, verrät aber eine neue weltliterarische Selbstsicherheit, geht gerne und weitherzig auf die Situation der Freunde ein, auch der neuen in Mitteleuropa, und beschäftigt sich (mit Ausnahme eines polemischen Briefwechsels mit Mary McCarthy) mit den eigenen Interessen auf indirekte Art, durch lenkende Fragen und diskrete Einwände. Roth will nicht aus seiner Rolle fallen, ein "Romancier eher als Jude" (das "eher" ist da von sehr fragiler Art).
Roth wird niemals vergessen, daß er als Enkel einer armen und gläubigen jüdischen Immigrantenfamilie in Newark, New Jersey, zur Welt und zu literarischem Bewußtsein kam, und seine Interviews mit Primo Levi, Isaac Bashevis Singer und Aharon Appelfeld erheben immer wieder die Frage nach Familie, Nachbarschaft, Assimilation und Sprache. Der Rationalist Levi will nicht dramatisieren, weder vor noch nach Auschwitz, spricht von zwei "Traditionen", welchen er als Italiener und Jude angehört, als einem "Reichtum" ohne Zwiespalt, und nicht allein für den Schriftsteller; und zweifelt nicht im geringsten an seiner ungebrochenen Loyalität zu seiner Familie und dem Betrieb, dem er zeitlebens als Chemiker und Manager angehörte.
Der sympathische Isaac Bashevis Singer nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er von den assimilierten Juden in Polen spricht, und blickt - als immer noch jiddischer Autor in New York - ein wenig herablassend auf die Kollegen, die es vorgezogen haben, polnisch zu schreiben, "eben nichts Besonderes". Er behauptet standhaft, ein wahrer Schriftsteller könnte nur in seiner Muttersprache schreiben - hier und jetzt eine anachronistische Verallgemeinerung, die sein Kollege Aharon Appelfeld (wie Paul Celan in Czernowitz geboren, ebenfalls in einer Familie, in der vorzüglich Deutsch gesprochen wurde) prompt widerlegt, weil er das strenge Hebräische wählte, als er "mit vielen Zungen im Kopf und keiner Sprache" in Israel anlangte. In einem Zeitalter, in dem so viele Türken und Russen deutsch schreiben, so viele Nordafrikaner italienisch und so viele Pakistani und Serben englisch oder amerikanisch, darf Appelfeld schon zu einer zukünftigen Weltliteratur der selektiven Idiome zählen, die in den Vorstellungen der älteren Muttermilch-Romantiker noch nicht vorkommt.
Philip Roth hat schon als junger Universitätslehrer, in Philadelphia und an anderen Colleges, mit seinen Studenten Franz Kafka gelesen - lange bevor er selbst Kafka variierte (sein David Kepesh verwandelt sich in eine üppige weibliche Brust), eine neue Biographie für Kafka erfand (der schmächtige Prager als Überlebender und Hebräisch-Lehrer in New Jersey) oder, in den siebziger Jahren, in Prag selbst nach Kafkas Spuren suchte. Kafka kehrt immer wieder, vor allem im Dialog mit den Europäern, welche die getreue Kafka-Internationale bilden. Singer, der Kafka erst in den Vereinigten Staaten kennenlernte, wünscht sich eigentlich einen ganz anderen, einen jiddischen Verfasser "ernsthafterer" Romane, nicht soviel Parodie und Karikatur, die er Kafkas "Gefühl" zuschreibt, "keine Wurzeln zu haben". Appelfeld wieder bewundert Kafkas "Deutsch der Habsburgermonarchie", seine eigene Muttersprache, die er allerdings verworfen hat, und blickt, sozusagen durch die Sprache hindurch, auf Kafkas "objektiven Stil" (Handlung statt Interpretation) und fühlt sich geradezu erlöst durch die Entdeckung, "daß sich in seinem Werk hinter den Masken der Unbehaustheit und Heimatlosigkeit ein jüdischer Mensch verbarg, einer, "dessen Innerstes von Geistern heimgesucht und trostlos war".
Franz Kafka hat Roth nach Prag geführt, und es gibt keinen amerikanischen Schriftsteller, der über die Mitteleuropäer (immer mit Ausnahme der Deutschen) besser Bescheid wüßte als er. Das dankt er nicht zuletzt seinen Reiseführern Ivan Klíma und Milan Kundera, und mit ihnen findet er sich inmitten der Konflikte jener Umbruchszeit wieder, an deren Ende Václav Havel, den Roth einen "spielerischen Denker" nennt, ins Prager Schloß einzog - als echter Nachfolger Masaryks, der es einst in der Affäre des fälschlich angeklagten "Ritualmörders" Hilsner wagte, seinen Ruf aufs Spiel zu setzen. (Ein typographischer Fehler des nichtsahnenden amerikanischen Setzers, der Hilsner in "Hossner" verwandelte, ist leider auch in den deutschen Text eingegangen, aber Klíma irrt gewiß, wenn er glaubt, daß der fleißige Masaryk, der gegen die Justizmaschinerie protestierte, besondere Sympathien für den vagabundierenden Taugenichts Hilsner gehegt hätte.) Klíma ist aber der richtige Mann, der Roth über die Erfahrungen der Dissidenten aufklären darf, die hochentwickelte tschechische Samisdat-Kultur, die Prager Allergien gegen den allzu französierenden Kundera (auch die) und die fruchtbare Erinnerung an Kafka als Schriftsteller einer exemplarischen "Redlichkeit" und "Wahrhaftigkeit".
Roth will aber ganz genau wissen, was Klíma als Jude (er wurde als Kind nach Theresienstadt deportiert) über die Prager jüdische Literatur zu sagen hat, und Klíma gesteht offen, daß von jener Zeit der "wunderbaren Vermengungen", die auch eine Epoche des rabiaten Antisemitismus war, wenig blieb, es sei denn ein gesteigerter Sinn für Recht und Unrecht in der Empfindsamkeit der Betroffenen, und das wäre das Geringste nicht. Mit Klíma darf Roth in die Geschichte schweifen, anders als mit Milan Kundera. Dieser spricht am liebsten über seine eigene Arbeit, lokalisiert Böhmen mit Recht in Mitteleuropa, nicht im Schatten Rußlands, denn es hat von Anfang an am "großen Abenteuer der westlichen Zivilisation teilgenommen", und definiert die Theorie seiner postmodern lockeren Romane mit dem Hinweis auf Rabelais, Diderot, Sterne und Musil (wir schreiben das Jahr 1980, und erst in den kommenden Jahren wird sich Kundera immer überzeugter auf Hermann Broch berufen, den er dann, wetterwendisch, ganz vergißt).
Im Finale seines Buches, das so viele prinzipielle Fragen über entscheidende Interessen der Gegenwartsliteratur aufwirft, kehrt Roth ganz zur eigenen Sache zurück und bekennt ohne Zurückhaltung, wen er sich von den Älteren der jüdisch-amerikanischen Literatur zum Vorbild, ja zu seinem "Kolumbus" gewählt hat. Nicht den melancholischen Bernard Malamud, dem er nachtrauert, auch nicht die "Malamudianer", die in Amerika scheitern wie einst im Schtetl, nicht seine merkwürdige Immigrantensprache, "wie ein Haufen zerbrochener Wortknochen". Roth rühmt Saul Bellow, jedes einzelne Buch in einem scharfsinnigen Kommentar, um seiner Vielfalt willen, seiner grenzenlosen Vitalität, in welcher das Tragische, Skurrile, Komische und Libidinöse miteinander wirken. Augie March, einer der Helden Bellows, geht Amerika im "Freistil" an, und es gibt kein anderes Wort, mit dem Roth selber seine erregenden, witzigen und unwiderstehlichen Meisterromane treffender hätte charakterisieren können.
Philip Roth: "Shop Talk". Ein Schriftsteller, seine Kollegen und ihr Werk. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Robben. Hanser Verlag, München 2004. 205 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Kafka-Bellow Connection: Im Gespräch mit Schriftstellerkollegen findet Philip Roth zu sich selbst / Von Peter Demetz
Zu unserem Glück war Philip Roth in früheren Jahrzehnten, und vor dem Scheitern seiner Ehe mit der Schauspielerin Claire Bloom, noch nicht der Eigenbrötler von heute, der sich gern in sein Haus in den nördlichen Hügeln von Connecticut zurückzieht. Er liebte es, in die weite Welt zu reisen, nach New York, Paris, Jerusalem, Prag oder London, und über seine Bücher und die Sorgen seiner Kollegen zu reden, die auch die seinen waren. Sein erster Essayband, "Reading Myself and Others" (1975), noch deutlich egozentrisch, erschien vor fast dreißig Jahren, ehe er noch seine Meisterromane schrieb, "The American Novel" oder "Der menschliche Makel".
Der neue Band "Shop Talk - Ein Schriftsteller, seine Kollegen und ihr Werk" knüpft in seinen Interviews, Aufsätzen und Überlegungen chronologisch fugenlos an den jüngeren Essayband an, verrät aber eine neue weltliterarische Selbstsicherheit, geht gerne und weitherzig auf die Situation der Freunde ein, auch der neuen in Mitteleuropa, und beschäftigt sich (mit Ausnahme eines polemischen Briefwechsels mit Mary McCarthy) mit den eigenen Interessen auf indirekte Art, durch lenkende Fragen und diskrete Einwände. Roth will nicht aus seiner Rolle fallen, ein "Romancier eher als Jude" (das "eher" ist da von sehr fragiler Art).
Roth wird niemals vergessen, daß er als Enkel einer armen und gläubigen jüdischen Immigrantenfamilie in Newark, New Jersey, zur Welt und zu literarischem Bewußtsein kam, und seine Interviews mit Primo Levi, Isaac Bashevis Singer und Aharon Appelfeld erheben immer wieder die Frage nach Familie, Nachbarschaft, Assimilation und Sprache. Der Rationalist Levi will nicht dramatisieren, weder vor noch nach Auschwitz, spricht von zwei "Traditionen", welchen er als Italiener und Jude angehört, als einem "Reichtum" ohne Zwiespalt, und nicht allein für den Schriftsteller; und zweifelt nicht im geringsten an seiner ungebrochenen Loyalität zu seiner Familie und dem Betrieb, dem er zeitlebens als Chemiker und Manager angehörte.
Der sympathische Isaac Bashevis Singer nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er von den assimilierten Juden in Polen spricht, und blickt - als immer noch jiddischer Autor in New York - ein wenig herablassend auf die Kollegen, die es vorgezogen haben, polnisch zu schreiben, "eben nichts Besonderes". Er behauptet standhaft, ein wahrer Schriftsteller könnte nur in seiner Muttersprache schreiben - hier und jetzt eine anachronistische Verallgemeinerung, die sein Kollege Aharon Appelfeld (wie Paul Celan in Czernowitz geboren, ebenfalls in einer Familie, in der vorzüglich Deutsch gesprochen wurde) prompt widerlegt, weil er das strenge Hebräische wählte, als er "mit vielen Zungen im Kopf und keiner Sprache" in Israel anlangte. In einem Zeitalter, in dem so viele Türken und Russen deutsch schreiben, so viele Nordafrikaner italienisch und so viele Pakistani und Serben englisch oder amerikanisch, darf Appelfeld schon zu einer zukünftigen Weltliteratur der selektiven Idiome zählen, die in den Vorstellungen der älteren Muttermilch-Romantiker noch nicht vorkommt.
Philip Roth hat schon als junger Universitätslehrer, in Philadelphia und an anderen Colleges, mit seinen Studenten Franz Kafka gelesen - lange bevor er selbst Kafka variierte (sein David Kepesh verwandelt sich in eine üppige weibliche Brust), eine neue Biographie für Kafka erfand (der schmächtige Prager als Überlebender und Hebräisch-Lehrer in New Jersey) oder, in den siebziger Jahren, in Prag selbst nach Kafkas Spuren suchte. Kafka kehrt immer wieder, vor allem im Dialog mit den Europäern, welche die getreue Kafka-Internationale bilden. Singer, der Kafka erst in den Vereinigten Staaten kennenlernte, wünscht sich eigentlich einen ganz anderen, einen jiddischen Verfasser "ernsthafterer" Romane, nicht soviel Parodie und Karikatur, die er Kafkas "Gefühl" zuschreibt, "keine Wurzeln zu haben". Appelfeld wieder bewundert Kafkas "Deutsch der Habsburgermonarchie", seine eigene Muttersprache, die er allerdings verworfen hat, und blickt, sozusagen durch die Sprache hindurch, auf Kafkas "objektiven Stil" (Handlung statt Interpretation) und fühlt sich geradezu erlöst durch die Entdeckung, "daß sich in seinem Werk hinter den Masken der Unbehaustheit und Heimatlosigkeit ein jüdischer Mensch verbarg, einer, "dessen Innerstes von Geistern heimgesucht und trostlos war".
Franz Kafka hat Roth nach Prag geführt, und es gibt keinen amerikanischen Schriftsteller, der über die Mitteleuropäer (immer mit Ausnahme der Deutschen) besser Bescheid wüßte als er. Das dankt er nicht zuletzt seinen Reiseführern Ivan Klíma und Milan Kundera, und mit ihnen findet er sich inmitten der Konflikte jener Umbruchszeit wieder, an deren Ende Václav Havel, den Roth einen "spielerischen Denker" nennt, ins Prager Schloß einzog - als echter Nachfolger Masaryks, der es einst in der Affäre des fälschlich angeklagten "Ritualmörders" Hilsner wagte, seinen Ruf aufs Spiel zu setzen. (Ein typographischer Fehler des nichtsahnenden amerikanischen Setzers, der Hilsner in "Hossner" verwandelte, ist leider auch in den deutschen Text eingegangen, aber Klíma irrt gewiß, wenn er glaubt, daß der fleißige Masaryk, der gegen die Justizmaschinerie protestierte, besondere Sympathien für den vagabundierenden Taugenichts Hilsner gehegt hätte.) Klíma ist aber der richtige Mann, der Roth über die Erfahrungen der Dissidenten aufklären darf, die hochentwickelte tschechische Samisdat-Kultur, die Prager Allergien gegen den allzu französierenden Kundera (auch die) und die fruchtbare Erinnerung an Kafka als Schriftsteller einer exemplarischen "Redlichkeit" und "Wahrhaftigkeit".
Roth will aber ganz genau wissen, was Klíma als Jude (er wurde als Kind nach Theresienstadt deportiert) über die Prager jüdische Literatur zu sagen hat, und Klíma gesteht offen, daß von jener Zeit der "wunderbaren Vermengungen", die auch eine Epoche des rabiaten Antisemitismus war, wenig blieb, es sei denn ein gesteigerter Sinn für Recht und Unrecht in der Empfindsamkeit der Betroffenen, und das wäre das Geringste nicht. Mit Klíma darf Roth in die Geschichte schweifen, anders als mit Milan Kundera. Dieser spricht am liebsten über seine eigene Arbeit, lokalisiert Böhmen mit Recht in Mitteleuropa, nicht im Schatten Rußlands, denn es hat von Anfang an am "großen Abenteuer der westlichen Zivilisation teilgenommen", und definiert die Theorie seiner postmodern lockeren Romane mit dem Hinweis auf Rabelais, Diderot, Sterne und Musil (wir schreiben das Jahr 1980, und erst in den kommenden Jahren wird sich Kundera immer überzeugter auf Hermann Broch berufen, den er dann, wetterwendisch, ganz vergißt).
Im Finale seines Buches, das so viele prinzipielle Fragen über entscheidende Interessen der Gegenwartsliteratur aufwirft, kehrt Roth ganz zur eigenen Sache zurück und bekennt ohne Zurückhaltung, wen er sich von den Älteren der jüdisch-amerikanischen Literatur zum Vorbild, ja zu seinem "Kolumbus" gewählt hat. Nicht den melancholischen Bernard Malamud, dem er nachtrauert, auch nicht die "Malamudianer", die in Amerika scheitern wie einst im Schtetl, nicht seine merkwürdige Immigrantensprache, "wie ein Haufen zerbrochener Wortknochen". Roth rühmt Saul Bellow, jedes einzelne Buch in einem scharfsinnigen Kommentar, um seiner Vielfalt willen, seiner grenzenlosen Vitalität, in welcher das Tragische, Skurrile, Komische und Libidinöse miteinander wirken. Augie March, einer der Helden Bellows, geht Amerika im "Freistil" an, und es gibt kein anderes Wort, mit dem Roth selber seine erregenden, witzigen und unwiderstehlichen Meisterromane treffender hätte charakterisieren können.
Philip Roth: "Shop Talk". Ein Schriftsteller, seine Kollegen und ihr Werk. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Robben. Hanser Verlag, München 2004. 205 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2004Ach, mein Kind, Du bist das Grauen schlechthin
Literatur ist eine Schule des Misstrauens: Philip Roth eröffnet eine Werkstatt und lädt die Kollegen dazu ein
Von Aharon Appelfeld, dem israelischen Schriftsteller, gibt es eine Fotografie, die ihn als Knaben von vielleicht acht Jahren im Matrosenanzug auf einem Schaukelpferd zeigt. Aufgenommen im Jahr 1938 in Czernowitz in der Bukowina, dokumentiert das Bild heute einen späten, im Rückblick schon von Krieg und Verfolgung überschatteten Moment der Geschichte, einen Moment, der gerade deshalb von Tragik so erfüllt zu sein scheint, weil das bürgerliche Idyll so unvermittelt vor dem Grauen steht. „Man kann sich nicht vorstellen”, kommentiert Philip Roth diese Fotografie, „daß dieses Kind keine vierundzwanzig Monate später jahrelang in den Wälder überleben muß, ein gejagter, elternloser kleiner Junge.” So weit, so schlecht.
Doch schon einen Augenblick später hat sich die Perspektive des Betrachters gewandelt. Das Bild schaut er sich nun genauer und vor allem technisch an: „Die wache Intelligenz ist zu ahnen, aber wo ist die robuste Verschlagenheit, der animalische Instinkt, die körperliche Ausdauer, die ihm halfen, dieses entsetzliche Abenteuer zu überstehen?” Man sieht sie nicht. Im Bild ist ein historischer Zustand festgehalten, der den folgenden nicht in sich trägt, und das Pathos, das ihm innezuwohnen scheint, ist ihm später, weit später erst zugetragen worden.
Zehn Begegnungen hat Philip Roth in seinem schmalen Band „Shop Talk” festgehalten. Acht davon gelten Schriftstellern, die Roth zumeist in ihrer eigenen Umgebung, in ihrer eigenen Wohnung traf: Primo Levi, Ivan Klima, Edna OBrien. Hinzu kommen ein Briefwechsel mit Mary McCarthy, ein Treffen mit dem Maler Philip Guston und ein systematisches Wiederlesen der Werke von Saul Bellow. Philip Roth tritt diesen Künstlern als Kollege, manchmal auch als Freund entgegen, und dabei mischt er die journalistischen Genres, Porträt, Interview und Kritik, um immer wieder nach denselben Motiven zu fahnden. „Shop Talk” - damit ist eigentlich ein Gespräch in der Werkstatt gemeint, ein Austausch von Ansichten und technischem Wissen zwischen Handwerkern. Doch Kniffe und Tricks werden in diesem Buch nicht vorgestellt.
In Technicolor schreiben
Eher schon geht es um die Frage, was es heißt, ein jüdischer Intellektueller zu sein. Und auch darum, was das in Europa bedeutet - Philip Roth ist vermutlich der amerikanische Schriftsteller, der sich in den literarischen Verhältnissen des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa am besten auskennt. Vor allem aber geht es immer wieder um dieselbe existentielle Frage: Gibt es Erfahrungen, an denen man zum Schriftsteller wird? Muss der Literat den Ursprung seiner Literatur benennen können? Braucht der Poet eine Beglaubigung durch die Geschichte? Diese Essays und Gespräche rechnen mit der Pose im Authentischen; der Argwohn, dass aller Literatur ein Moment von Frivolität innewohnt, treibt sie voran .
Ob Philip Roth ahnt, wie prekär es ist, nach der Wahrheit der Literatur ausgerechnet bei Autoren und Büchern zu fragen, die für die Erinnerung an die schlimmsten Tage der Menschheit einstehen? Ob er auch ahnt, wohin er seine Gesprächspartner führt, wozu er sie verleitet? Primo Levi erzählt seinem amerikanischen Besucher zustimmend von einem Freund, einem Arzt, der ihm gesagt habe: „Ihre Erinnerungen an vorher und nachher sind in Schwarzweiß; die Erinnerungen an Auschwitz und Ihre Heimreise sind in Technicolor.”
Er sagt nicht „Farbe” - er sagt „Technicolor”, so als gingen diesen Erinnerungen weniger die eigenen, leibhaftigen Erfahrungen als vielmehr das Kino voraus. Und es kommt noch ärger, wenn Primo Levi selbst sagt: „Familie, Heimat, Fabrik sind gute Dinge an sich, aber sie enthielten mir etwas vor, was ich immer noch vermisse: das Abenteuer. Das Schicksal entschied, daß ich inmitten des schauerlichen Chaos eines vom Krieg verheerten Europa Abenteuer erleben sollte.” Darf man so über das Entkommen aus Auschwitz, das Durchqueren eines verwüsteten Kontinents sprechen: als Folge von Abenteuern, die ein literarischer Held ja eher zu erleben sucht, als dass sie ihm auferlegt werden?
Ja, man darf, aber es zeichnet den Kritiker Philip Roth aus, dass er weder diese Frage stellt noch diese Antwort gibt. Und doch bringt er jeden seiner Gesprächspartner an denselben heiklen Punkt, und dann summen die beiden eine Weile darum herum, ohne dass es zu einem handfesten Ergebnis käme. Mit Milan Kundera zum Beispiel lässt sich so vortrefflich um solche empfindliche Stellen kreisen. Er kommt seinem Besucher im Misstrauen gegen das Authentische, gegen die Inszenierung der Wahrhaftigkeit am weitesten entgegen.
Das Gedächtnis sei, so Kundera, das probateste Mittel, um das falsche Echte zu zerstören, und es helfen ihm dabei die Skepsis, die Ironie und der Humor - und auch sie sind Derivate der Intelligenz und der Erfahrung. Deshalb gehe es der tschechischen Literatur gegenwärtig besser als der französischen, die noch immer die „radikalideologische Haltung” pflege, „die lyrische, neurotische Hoffnung auf eine große eigene Tat, die es jedoch nicht gibt und niemals geben wird”.
Kleine Abenteuer machen sich in dieser Lage weitaus besser. Und dann erzählt Milan Kundera von einem Bild, das ihn verfolgt, solange er sich erinnern kann: „Ein Mensch findet sich in einer Welt voller Kinder wieder, aus der er nicht entkommen kann. Und plötzlich entpuppt sich die Kindheit, die wir doch alle besingen und verklären, als das Grauen schlechthin.” Naiv-genialische Dichter kommen in diesem Buch aus gutem Grunde nicht vor. Sie sind nicht interessant genug. Interessant ist die Literatur hier nur, wenn sie sich der Zerstörung jener Bilder verschreibt, die den „Radikalideologien” aller Grade als Ikonen der Evidenz und reinster Niederschlag des Lebens wie der Geschichte gelten.
Diese Bilder sind das Authentische. Ihnen glaubt man ausgeliefert zu sein, weil man irrigerweise meint, sie seien vollständig. Ihnen vertraut man, weil sie so deutlich sind. Es erscheint wie selbstverständlich, dass sie mehr sagen als tausend Worte, weil sie für mindestens tausend nicht ausgesprochene Worte stehen. Sie sind wie heute die Fotografien aus dem Gefängnis Abu Ghraib, die man sofort als Dokumente des Chauvinismus identifiziert - und die doch zugleich Dokumente des ebenso gewalttätigen wie hilflosen Erstaunens darüber sind, dass die Besatzer nicht wie Befreier empfangen worden waren.
Bilder, sagt Ivan Klíma, bestätigen „das Märchen von Gut und Böse, das ein braves Kind immer wieder hören möchte”. Und Milan Kundera sekundiert: „Die Hölle steckt schon im Traum vom Paradies, und wenn wir das Wesen der Hölle begreifen wollen, müssen wir das Wesen des Paradieses untersuchen, aus dem sie hervorging.” Aufgabe der Literatur aber sei es, diese falschen Eindeutigkeiten, wenn es sie schon gebe, sorgfältig und angemessen zu lesen, so dass sie ihren wahren Inhalt preisgäben. Mit der Dichtung wird hier die kritische Apparat in Bewegung gesetzt.
Wozu ist er in Chicago?
Philip Roth eröffnet den Band mit einem Text über seinen Besuch bei Primo Levi in Turin im Herbst 1986. Gemeinsam gehen die beiden Schriftsteller durch die Farbenfabrik, in der Primo Levi sein ganzes Berufsleben über gearbeitet hat. „Es ist wohl kaum das scheußlichste Fabrikgebäude der Welt, aber dennoch weit entfernt von jenen geistgetränkten Sätzen, die das Wesen von Levis autobiographischen Erzählungen ausmachen.” Das ist nicht abfällig gemeint gegenüber dem praktischen Leben, ganz im Gegenteil.
Philip Roth bewundert Autoren, die neben ihrer künstlerischen Tätigkeit einem bürgerlichen Beruf nachgehen, wie Primo Levi, der Ingenieur, wie Franz Kafka, der Büroangestellte, wie Bernard Malamud, der gar nicht ironische, gar nicht witzige, sondern hauptsächlich melancholische Hochschullehrer. Es ist das Misstrauen gegen alles Allegorische, das diese Bewunderung trägt, die Skepsis gegenüber dem scheinbar Selbstverständlichen und Eindeutigen. Einen Beruf zu haben, nicht der „authentische”, nur sich selbst verpflichtete Schriftsteller zu sein - das wirkt für Philiph Roth als ein Antidot gegenüber allen falschen Überhöhungen der Literatur.
Das Buch endet mit einer Hommage: „Alles ist eitel, aber ist das nicht toll?” Gemeint ist Saul Bellow, der Mann des literarischen Freistils, der amerikanische Jude, der sich mit Dostojewski und Marcel Proust messen wollte, der Mann, der aus Chicago einen literarischen Ort im ausschweifenden Sinne machte, der Literat mit dem innigen Verhältnis zum Wahnsinn. „Wozu ist er in Chicago? Dieser leidende Chicagoer weiß es nicht mehr. Bellow ist verbannt.” Die Literatur muss ihm dazwischengekommen sein.
THOMAS STEINFELD
PHILIP ROTH: Shop Talk. Ein Schrifsteller, seine Kollegen und ihr Werk. Hanser Verlag. München 2004. 206 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Literatur ist eine Schule des Misstrauens: Philip Roth eröffnet eine Werkstatt und lädt die Kollegen dazu ein
Von Aharon Appelfeld, dem israelischen Schriftsteller, gibt es eine Fotografie, die ihn als Knaben von vielleicht acht Jahren im Matrosenanzug auf einem Schaukelpferd zeigt. Aufgenommen im Jahr 1938 in Czernowitz in der Bukowina, dokumentiert das Bild heute einen späten, im Rückblick schon von Krieg und Verfolgung überschatteten Moment der Geschichte, einen Moment, der gerade deshalb von Tragik so erfüllt zu sein scheint, weil das bürgerliche Idyll so unvermittelt vor dem Grauen steht. „Man kann sich nicht vorstellen”, kommentiert Philip Roth diese Fotografie, „daß dieses Kind keine vierundzwanzig Monate später jahrelang in den Wälder überleben muß, ein gejagter, elternloser kleiner Junge.” So weit, so schlecht.
Doch schon einen Augenblick später hat sich die Perspektive des Betrachters gewandelt. Das Bild schaut er sich nun genauer und vor allem technisch an: „Die wache Intelligenz ist zu ahnen, aber wo ist die robuste Verschlagenheit, der animalische Instinkt, die körperliche Ausdauer, die ihm halfen, dieses entsetzliche Abenteuer zu überstehen?” Man sieht sie nicht. Im Bild ist ein historischer Zustand festgehalten, der den folgenden nicht in sich trägt, und das Pathos, das ihm innezuwohnen scheint, ist ihm später, weit später erst zugetragen worden.
Zehn Begegnungen hat Philip Roth in seinem schmalen Band „Shop Talk” festgehalten. Acht davon gelten Schriftstellern, die Roth zumeist in ihrer eigenen Umgebung, in ihrer eigenen Wohnung traf: Primo Levi, Ivan Klima, Edna OBrien. Hinzu kommen ein Briefwechsel mit Mary McCarthy, ein Treffen mit dem Maler Philip Guston und ein systematisches Wiederlesen der Werke von Saul Bellow. Philip Roth tritt diesen Künstlern als Kollege, manchmal auch als Freund entgegen, und dabei mischt er die journalistischen Genres, Porträt, Interview und Kritik, um immer wieder nach denselben Motiven zu fahnden. „Shop Talk” - damit ist eigentlich ein Gespräch in der Werkstatt gemeint, ein Austausch von Ansichten und technischem Wissen zwischen Handwerkern. Doch Kniffe und Tricks werden in diesem Buch nicht vorgestellt.
In Technicolor schreiben
Eher schon geht es um die Frage, was es heißt, ein jüdischer Intellektueller zu sein. Und auch darum, was das in Europa bedeutet - Philip Roth ist vermutlich der amerikanische Schriftsteller, der sich in den literarischen Verhältnissen des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa am besten auskennt. Vor allem aber geht es immer wieder um dieselbe existentielle Frage: Gibt es Erfahrungen, an denen man zum Schriftsteller wird? Muss der Literat den Ursprung seiner Literatur benennen können? Braucht der Poet eine Beglaubigung durch die Geschichte? Diese Essays und Gespräche rechnen mit der Pose im Authentischen; der Argwohn, dass aller Literatur ein Moment von Frivolität innewohnt, treibt sie voran .
Ob Philip Roth ahnt, wie prekär es ist, nach der Wahrheit der Literatur ausgerechnet bei Autoren und Büchern zu fragen, die für die Erinnerung an die schlimmsten Tage der Menschheit einstehen? Ob er auch ahnt, wohin er seine Gesprächspartner führt, wozu er sie verleitet? Primo Levi erzählt seinem amerikanischen Besucher zustimmend von einem Freund, einem Arzt, der ihm gesagt habe: „Ihre Erinnerungen an vorher und nachher sind in Schwarzweiß; die Erinnerungen an Auschwitz und Ihre Heimreise sind in Technicolor.”
Er sagt nicht „Farbe” - er sagt „Technicolor”, so als gingen diesen Erinnerungen weniger die eigenen, leibhaftigen Erfahrungen als vielmehr das Kino voraus. Und es kommt noch ärger, wenn Primo Levi selbst sagt: „Familie, Heimat, Fabrik sind gute Dinge an sich, aber sie enthielten mir etwas vor, was ich immer noch vermisse: das Abenteuer. Das Schicksal entschied, daß ich inmitten des schauerlichen Chaos eines vom Krieg verheerten Europa Abenteuer erleben sollte.” Darf man so über das Entkommen aus Auschwitz, das Durchqueren eines verwüsteten Kontinents sprechen: als Folge von Abenteuern, die ein literarischer Held ja eher zu erleben sucht, als dass sie ihm auferlegt werden?
Ja, man darf, aber es zeichnet den Kritiker Philip Roth aus, dass er weder diese Frage stellt noch diese Antwort gibt. Und doch bringt er jeden seiner Gesprächspartner an denselben heiklen Punkt, und dann summen die beiden eine Weile darum herum, ohne dass es zu einem handfesten Ergebnis käme. Mit Milan Kundera zum Beispiel lässt sich so vortrefflich um solche empfindliche Stellen kreisen. Er kommt seinem Besucher im Misstrauen gegen das Authentische, gegen die Inszenierung der Wahrhaftigkeit am weitesten entgegen.
Das Gedächtnis sei, so Kundera, das probateste Mittel, um das falsche Echte zu zerstören, und es helfen ihm dabei die Skepsis, die Ironie und der Humor - und auch sie sind Derivate der Intelligenz und der Erfahrung. Deshalb gehe es der tschechischen Literatur gegenwärtig besser als der französischen, die noch immer die „radikalideologische Haltung” pflege, „die lyrische, neurotische Hoffnung auf eine große eigene Tat, die es jedoch nicht gibt und niemals geben wird”.
Kleine Abenteuer machen sich in dieser Lage weitaus besser. Und dann erzählt Milan Kundera von einem Bild, das ihn verfolgt, solange er sich erinnern kann: „Ein Mensch findet sich in einer Welt voller Kinder wieder, aus der er nicht entkommen kann. Und plötzlich entpuppt sich die Kindheit, die wir doch alle besingen und verklären, als das Grauen schlechthin.” Naiv-genialische Dichter kommen in diesem Buch aus gutem Grunde nicht vor. Sie sind nicht interessant genug. Interessant ist die Literatur hier nur, wenn sie sich der Zerstörung jener Bilder verschreibt, die den „Radikalideologien” aller Grade als Ikonen der Evidenz und reinster Niederschlag des Lebens wie der Geschichte gelten.
Diese Bilder sind das Authentische. Ihnen glaubt man ausgeliefert zu sein, weil man irrigerweise meint, sie seien vollständig. Ihnen vertraut man, weil sie so deutlich sind. Es erscheint wie selbstverständlich, dass sie mehr sagen als tausend Worte, weil sie für mindestens tausend nicht ausgesprochene Worte stehen. Sie sind wie heute die Fotografien aus dem Gefängnis Abu Ghraib, die man sofort als Dokumente des Chauvinismus identifiziert - und die doch zugleich Dokumente des ebenso gewalttätigen wie hilflosen Erstaunens darüber sind, dass die Besatzer nicht wie Befreier empfangen worden waren.
Bilder, sagt Ivan Klíma, bestätigen „das Märchen von Gut und Böse, das ein braves Kind immer wieder hören möchte”. Und Milan Kundera sekundiert: „Die Hölle steckt schon im Traum vom Paradies, und wenn wir das Wesen der Hölle begreifen wollen, müssen wir das Wesen des Paradieses untersuchen, aus dem sie hervorging.” Aufgabe der Literatur aber sei es, diese falschen Eindeutigkeiten, wenn es sie schon gebe, sorgfältig und angemessen zu lesen, so dass sie ihren wahren Inhalt preisgäben. Mit der Dichtung wird hier die kritische Apparat in Bewegung gesetzt.
Wozu ist er in Chicago?
Philip Roth eröffnet den Band mit einem Text über seinen Besuch bei Primo Levi in Turin im Herbst 1986. Gemeinsam gehen die beiden Schriftsteller durch die Farbenfabrik, in der Primo Levi sein ganzes Berufsleben über gearbeitet hat. „Es ist wohl kaum das scheußlichste Fabrikgebäude der Welt, aber dennoch weit entfernt von jenen geistgetränkten Sätzen, die das Wesen von Levis autobiographischen Erzählungen ausmachen.” Das ist nicht abfällig gemeint gegenüber dem praktischen Leben, ganz im Gegenteil.
Philip Roth bewundert Autoren, die neben ihrer künstlerischen Tätigkeit einem bürgerlichen Beruf nachgehen, wie Primo Levi, der Ingenieur, wie Franz Kafka, der Büroangestellte, wie Bernard Malamud, der gar nicht ironische, gar nicht witzige, sondern hauptsächlich melancholische Hochschullehrer. Es ist das Misstrauen gegen alles Allegorische, das diese Bewunderung trägt, die Skepsis gegenüber dem scheinbar Selbstverständlichen und Eindeutigen. Einen Beruf zu haben, nicht der „authentische”, nur sich selbst verpflichtete Schriftsteller zu sein - das wirkt für Philiph Roth als ein Antidot gegenüber allen falschen Überhöhungen der Literatur.
Das Buch endet mit einer Hommage: „Alles ist eitel, aber ist das nicht toll?” Gemeint ist Saul Bellow, der Mann des literarischen Freistils, der amerikanische Jude, der sich mit Dostojewski und Marcel Proust messen wollte, der Mann, der aus Chicago einen literarischen Ort im ausschweifenden Sinne machte, der Literat mit dem innigen Verhältnis zum Wahnsinn. „Wozu ist er in Chicago? Dieser leidende Chicagoer weiß es nicht mehr. Bellow ist verbannt.” Die Literatur muss ihm dazwischengekommen sein.
THOMAS STEINFELD
PHILIP ROTH: Shop Talk. Ein Schrifsteller, seine Kollegen und ihr Werk. Hanser Verlag. München 2004. 206 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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