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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Unter der Kapuze geborgen: Max Porters Roman "Shy"
Wie würde ein depressiver Jugendlicher seine Erlebnisse in einem Internat für schwer erziehbare Kinder schildern? Gefangen zwischen Wutanfällen und Null-Bock-Einstellung, wäre das sicherlich kein leichter, aber ein interessanter Roman - das hat sich zumindest Max Porter für sein neues Buch "Shy" gedacht. In dem geht es um Drogen, Sex, Musik und Randale eines Teenagers, genannt Shy, aber vor allem um die Momente dazwischen, in denen sich der Junge aus England mit sich selbst und seinen Handlungen auseinandersetzt.
Denn "unter seiner Kapuze geborgen in einer perfekten Welt aus Breaks und Basslines und bretterndem Bombast hebt er ab" - vor allem in diesen Momenten fällt der Rucksack, der "Sack Steine", von Shys Schultern ab. Und normalerweise ist der Beobachter kein Teil dieser Welt, jedoch macht Porter den Einblick möglich; in einer Mischung aus Erzählung, Lyrik und abgehackten Satzfragmenten kann der Leser Shys Gedankenwelt folgen.
Allerdings ergeben Shys Eindrücke nicht immer Sinn. Mehrere Szenen folgen in Porters Roman direkt aufeinander, ohne dass sie zeitlich oder thematisch zu ordnen wären. Gesprächsabschnitte fließen wie Tagträume in Shys Alltag mit ein, deren Kontext den Lesern fehlt. Der Erzählstrang ist dadurch eben nicht stringent - so, wie Shys Heranwachsen es nicht ist. Immer wieder einmal versucht seine Mutter bei ihm durchzudringen, ohne Erfolg: Er "wollte sich tief in die Erde tunneln und verrecken, und seine Mum sagte: Red mit mir, bitte, erklärs mir, und er hielt sich die Ohren zu und zischte so lange ein Gewitter furios zerhackter Basslines in sein rot verschlossenes Hirn."
Das Einzige, worauf sich Shy verlassen kann? Die Musikrichtung Drum and Bass. Denn die halte, was sie verspreche. Ganz anders sehe es im Dschungel, in der Außenwelt, aus, in der er sich als Soldat behaupten müsse - in der alles ein Kampf sei.
Dem 42 Jahre alten Max Porter gelingt es, auf nur 144 Seiten das komplexe Innenleben eines aufgewühlten Jungen darzustellen. So brutal Shys Handlungen sind, etwa wenn er einem anderen Jungen während einer Prügelei das Gesicht mit einer zerbrochenen Glasflasche aufschlitzt oder er seine Mutter heftig beleidigt: Von innen, als Teil von Shys Gedankenwelt, wirkt das eher hilflos als aggressiv.
Die langen Sätze, in knappe Absätze gepackt, vermitteln Shys Versuche, das außen Wahrgenommene mit dem Inneren in Einklang zu bringen. Versuche, die meistens scheitern. Mithilfe von typographischen Mitteln und einer Art moderner Poesie ermöglicht der durch nach seinen erfolgreichen Debütroman "Trauer ist das Ding mit Federn" bekannt gewordene britische Schriftsteller Porter, die Welt durch die Augen eines rebellierenden und reuigen Teenagers zu sehen. Das ist nicht zuletzt auch Uda Strätlings und Matthias Göritz' Verdienst, die es geschafft haben, das so individuelle Spracherlebnis aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen.
Allerdings muss der Leser kreativ werden, um sich einige Lücken und Fragezeichen aus dem Text zu erschließen. Leichte Lektüre ist "Shy" nicht, und das steht sinnbildlich für die Lebenslage des Teenagers. Das erste Mal, dass eine Situation kontinuierlich beschrieben wird und über eine Seite hinaus andauert, ist auf Seite achtzig, als Shy sich in einer Therapiesitzung an einen friedlichen Urlaub aus seiner Kindheit mit Mutter und Stiefvater erinnert.
Am Ende landet Shy auf dem Internat "Letzte Chance" mit anderen schwer erziehbaren Kindern. Als er dort ausbricht und unter Marihuana-Einfluss Dachsleichen im See neben der Schule vermutet, beschreibt der Jugendliche, wie er sich fühlt: am "Kipppunkt zwischen lebenden und verwesenden Wesen gefangen, wo nicht einmal Gott ihnen sagen könnte, ob sie leben oder ob sie tot sind". Die neue Schule kann bei seinen Panikattacken, Wutausbrüchen und Depressionen nicht helfen. Der Roman endet auf einem Höhepunkt der Rebellion, an dem Shy nicht mal mehr Satzfragmente wahrnimmt, sondern nur noch einzelne Wörter. Die Syntax verstärkt dabei die Dramaturgie von Porters Roman und macht das Leseerlebnis einmalig. CARLOTA BRANDIS
Max Porter: "Shy".
Roman.
Aus dem Englischen von Uda Strätling und Matthias Göritz.
Verlag Kein & Aber, Zürich 2023. 144 S., geb., 22,- Euro.
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