Ein Paar in Tokio. Ein anonymes Hotelhochhaus. Nacht. Sie haben die Entscheidung getroffen, sich zu trennen. Er, der namenlose Erzähler, der stets ein Fläschchen mit Salzsäure bei sich trägt, und die ewig weinende Marie, erfolgreiche Modeschöpferin, die in Tokio eine Museumsausstellung vorbereitet. Sie schlafen miteinander, lieben sich in der Nacht ihrer Ankunft in Tokio ein letztes Mal, wie sie beide wissen, auf eine heftige, animalische Weise. In Jean-Philippe Toussaints Bestseller wird das Ende einer großen Liebe beschrieben und die emotionalen Folgen dieser gewaltsamen Entliebung, flüchtige Momente einer privaten Niederlage, versteckt lauernde Angst vor Einsamkeit und Zerstörung, die Leidenschaft eines letzten Mals und das innere emotionale Beben, parallel zu den seismischen in einem farbenfrohen neonerleuchteten Reich der Sinne. Jean-Philippe Toussaint ist ein begnadeter Minimalist, der literarisch meisterhaft sein Spiel mit dem Ungesagten und dem Unsagbaren treibt, der filigran das Verhältnis von Raum, von Wirklichkeit und Atmosphäre ausbalanciert. In seinem neuen Roman hat dieser Philosoph des unbeständig Beständigen die "Kunst der Suggestion auf ein selten erreichtes Niveau gehoben." (Humanité)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2003Zwischen Himmel und Leere
Jean-Philippe Toussaint stellt seinen Roman "Sich lieben" vor
Aus der Reserve läßt er sich nicht gern locken. Nicht einmal von einem Übersetzer, der seine Bücher so feinfühlig ins Deutsche überträgt wie Bernd Schwibs. Wo auch immer sein Gesprächspartner im ausverkauften Frankfurter Literaturhaus ansetzte, Jean-Philippe Toussaint entzog sich wortreich verschmitzt in die nächstbeste Banalität. Wer den französischen Romancier und einstigen Junioren-Weltmeister im Scrabble kennenlernen möchte, muß sich also in seine Bücher vertiefen. Den jüngsten Roman hat er nun präsentiert: "Faire l'amour" ist voriges Jahr in den Pariser Éditions de Minuit erschienen und unter dem Titel "Sich lieben" jetzt in der Frankfurter Verlagsanstalt. Verleger Joachim Unseld ließ es sich nicht nehmen, den "letzten Gegenwartsautor, den Beckett noch lesen wollte", selbst vorzustellen.
Schon der deutsche Titel verweist mit seiner reflexiven Form auf die narzißtische Gebrochenheit der Liebe, die hier "gemacht" wird. Der Aktionismus wiederum, den der französische Titel insinuiert, scheint jener "Immobilité" zu spotten, die die bisherigen Helden des Autors auszeichnete. Der Erzähler reflektiert das Geschehen um sich herum nicht mehr aus der Badewanne ("Das Badezimmer", 1987) oder auf einem Stuhl ("Monsieur", 1989), der Autor spielt nicht mehr mit der Realität, um ihrer Herr zu werden, sondern läßt sie zu, wenn auch eingepfropft in ein gläsernes Fläschchen mit "anmutigen Rundungen". Die Liebe des erzählenden Ichs zu der Modedesignerin Marie ist nämlich in Aggression umgeschlagen und lauert in Gestalt von Salzsäure darauf, sich zu ergießen. Über die eigene oder die "Visage" Maries? Das fragt sich der Erzähler nach einem mißglückten Beischlaf vor dem Badezimmerspiegel eines Hotels. Er hat Marie nach Tokio begleitet, um sich dort nach einer letzten Liebesnacht von ihr zu trennen. Eine Nachricht von der Hotelzentrale über ein eingetroffenes Fax setzt der Liebe, die es ohnehin nur noch auf Lust abgesehen hat, ein abruptes Ende.
Nicht nur Franzosen und Deutsche sind begeistert von den Büchern des 1957 in Brüssel geborenen Schriftstellers. Auch die Japaner schätzen seine Romane. Kein Wunder: Das filigrane Ausbalancieren eines polaren Daseinsgefühls zwischen Kosmos und Chaos, die stilistische Schwerelosigkeit und Transparenz einer Sprache, die das Unsagbare kultiviert, um es zwischen den Zeilen hervorzutreiben, sowie die Nachbarschaft von ätzender Ästhetik und verdeckter Gewalt sind ihnen unter anderem aus der heimischen Filmproduktion vertraut. Die Resonanz der Insulaner hat dem Autor über seine Schaffenszweifel hinweggeholfen. Zum Glück, denn sonst gäbe es jetzt nicht diesen wunderbar zwischen Himmel und Leere schwebenden Liebesroman.
c.s.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jean-Philippe Toussaint stellt seinen Roman "Sich lieben" vor
Aus der Reserve läßt er sich nicht gern locken. Nicht einmal von einem Übersetzer, der seine Bücher so feinfühlig ins Deutsche überträgt wie Bernd Schwibs. Wo auch immer sein Gesprächspartner im ausverkauften Frankfurter Literaturhaus ansetzte, Jean-Philippe Toussaint entzog sich wortreich verschmitzt in die nächstbeste Banalität. Wer den französischen Romancier und einstigen Junioren-Weltmeister im Scrabble kennenlernen möchte, muß sich also in seine Bücher vertiefen. Den jüngsten Roman hat er nun präsentiert: "Faire l'amour" ist voriges Jahr in den Pariser Éditions de Minuit erschienen und unter dem Titel "Sich lieben" jetzt in der Frankfurter Verlagsanstalt. Verleger Joachim Unseld ließ es sich nicht nehmen, den "letzten Gegenwartsautor, den Beckett noch lesen wollte", selbst vorzustellen.
Schon der deutsche Titel verweist mit seiner reflexiven Form auf die narzißtische Gebrochenheit der Liebe, die hier "gemacht" wird. Der Aktionismus wiederum, den der französische Titel insinuiert, scheint jener "Immobilité" zu spotten, die die bisherigen Helden des Autors auszeichnete. Der Erzähler reflektiert das Geschehen um sich herum nicht mehr aus der Badewanne ("Das Badezimmer", 1987) oder auf einem Stuhl ("Monsieur", 1989), der Autor spielt nicht mehr mit der Realität, um ihrer Herr zu werden, sondern läßt sie zu, wenn auch eingepfropft in ein gläsernes Fläschchen mit "anmutigen Rundungen". Die Liebe des erzählenden Ichs zu der Modedesignerin Marie ist nämlich in Aggression umgeschlagen und lauert in Gestalt von Salzsäure darauf, sich zu ergießen. Über die eigene oder die "Visage" Maries? Das fragt sich der Erzähler nach einem mißglückten Beischlaf vor dem Badezimmerspiegel eines Hotels. Er hat Marie nach Tokio begleitet, um sich dort nach einer letzten Liebesnacht von ihr zu trennen. Eine Nachricht von der Hotelzentrale über ein eingetroffenes Fax setzt der Liebe, die es ohnehin nur noch auf Lust abgesehen hat, ein abruptes Ende.
Nicht nur Franzosen und Deutsche sind begeistert von den Büchern des 1957 in Brüssel geborenen Schriftstellers. Auch die Japaner schätzen seine Romane. Kein Wunder: Das filigrane Ausbalancieren eines polaren Daseinsgefühls zwischen Kosmos und Chaos, die stilistische Schwerelosigkeit und Transparenz einer Sprache, die das Unsagbare kultiviert, um es zwischen den Zeilen hervorzutreiben, sowie die Nachbarschaft von ätzender Ästhetik und verdeckter Gewalt sind ihnen unter anderem aus der heimischen Filmproduktion vertraut. Die Resonanz der Insulaner hat dem Autor über seine Schaffenszweifel hinweggeholfen. Zum Glück, denn sonst gäbe es jetzt nicht diesen wunderbar zwischen Himmel und Leere schwebenden Liebesroman.
c.s.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ganz hingerissen ist Ina Hartwig von Jean-Phillippe Toussaints neuem Roman, dem sie den Aufmacher der November-Literaturbeilage der FR widmet. Das Buch ist eine "Hommage an Tokio, die Mode und die Blumen des Bösen", schwärmt Hartwig und präzisiert: "Sich lieben" ist trotz des Titels keineswegs pornografisch, sondern vielmehr die minutiöse, "fast möchte man sagen liebevolle" Erzählung vom Ende der Liebe zwischen einem namenlosen Ich-Erzähler und der Pariser Modeschöpferin Marie. Abgesehen davon liefere Toussaint ein "leichthändiges, genaues" Porträt Japans. Besonders beeindruckt ist Hartwig von der qualitativen Dichte des Buches, der anspruchsvollen Erzähltechnik, der Anordnung der miteinander korrespondierenden Szenen sowie der Detailfreude und -genauigkeit bei Objekten oder Lichtverhältnissen. "Allein die Logik von Sehen und Nichtsehen in diesem Roman zu erforschen, wäre abendfüllend." Der Abschluss des Buches, wenn die Sprache in die Poesie abgleitet, beweist der Rezensentin endgültig, dass Toussaint ihr Lob voll und ganz verdient hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2003Die letzte Nacht der Nacktschwimmer
Tränen unter der Schlafbrille, Salzsäure im Kulturbeutel: Jean-Philippe Toussaint inszeniert eine Trennung in Tokio
Ein europäisches Paar landet nächtens in Tokio. Im Taxi beginnt die schöne Frau „schwere Tränen der Trauer” zu weinen, während es damals, vor sieben Jahren, in einem anderen Taxi, in Paris, „reine Tränen der Freude” waren, die ihr „leicht und duftig wie Schaum schwerelos ihre Wangen hinunterrannen”. In der Nacht von Paris hatten die beiden ein billiges Hotel gesucht, um sich zum ersten Mal zu lieben, jetzt steigen sie im sündteuren Grandhotel von Shinjuku ab, um es das letzte Mal zu tun. Man ahnt, dass Gewaltiges bevorsteht, denn als sie die menschenleere Hotelhalle mit ihren Kristall-Lüstern durchqueren, beginnen diese leise zu klirren, und aus einer namenlosen Ferne ist dieses „verzweifelte Grollen der Materie” zu vernehmen, „das den Boden erzittern und die Wände wackeln ließ”.
Ein Erdbeben ist für einen Sexualakt gewiss eine imponierende Ouvertüre, vor allem wenn es sich um den letzten handeln soll, mit dem sich ein Paar endgültig voneinander trennt. Denn um dieser Trennung willen begleitet er, ein Mann von rund vierzig Jahren, seine Marie de Montalte, die zeitgemäß nicht als gelangweilte Aristokratin durch die Welt fährt, sondern eine divamäßig überspannte Modedesignerin ist, deren Kollektion das „Contemporary Art Space von Shinagawa” eine große Exposition widmet. Wenn es den beiden im finalen Verkehr auch nicht ganz gelingt, den Boden erzittern und die Wände wackeln zu lassen, gehen sie es doch ziemlich heftig an; dem verzweifelten Grollen ihrer Beziehung entsprechend, werden sie darüber aber nicht recht glücklich, denn sie schlafen miteinander, als „würden wir uns gegenseitig die Lust streitig machen, statt sie zu teilen”, und so braucht es nicht zu wundern, dass bei Marie schließlich unter der seidenen Schlafbrille der Japan Airlines, die sie den Liebeskampf über aparterweise nicht abgenommen hat, wieder die Tränen hervorquellen.
Ihn aber treiben Wut, Hass, Enttäuschung aus dem Bett in das Badezimmer, wo er aus seinem Necessaire, für das sich im Deutschen die nicht gänzlich unironische Bezeichnung „Kulturbeutel” durchgesetzt hat, jenes Fläschchen mit Salzsäure herausnimmt, das er seit einiger Zeit mit sich führt. Seit er es besitzt und weiß, es jederzeit verwenden zu können, dient ihm das Fläschchen zur Beruhigung. Es ist das eigentliche Spannungselement des Romans, dass wir uns immer fragen, ob er dessen ätzenden, Fleisch wie Stoff zersetzenden Inhalt der weinenden Marie, sich selber, einem zufälligen Passanten, dem Direktor des Museums ins Gesicht schütten oder über Maries kostbare Kostüme leeren wird. In einer der besten Szenen des Romans, der auf ermüdende Weise aus lauter besten Szenen bestehen möchte, schwimmt der verzweifelte Liebhaber in der Finsternis von drei Uhr früh alleine im Swimmingpool, der sich im obersten Stock des Hotels, hoch über der schlafenden Stadt, befindet: Wird er das Fläschchen, das er am Beckenrand abgestellt hat, ins Wasser kippen?
„Sich lieben” ist von der literarischen Kritik als eleganter Roman der Trennung, als kleines Meisterwerk über die Liebe und den Abschiedsschmerz aufgenommen worden. Dabei ist es der Triumph des Kitsches, den der 1957 geborene Belgier Jean Philippe Toussaint hier feiert, der gewaltige Kulissen bemüht, um das Drama einer Trennung überzeugend zu gestalten. Etwa den „Strauß von Hochhäusern” – was für ein Naturbild für die Skyline von Tokio! – , den die Liebenden, Hassenden vom Fenster aus betrachten, oder den eisigen Schneefall, in den die beiden, sie in einem ihrer exquisiten Ausstellungskostüme, er mehr oder weniger im Pyjama, geraten, weil sie nach dem Desaster im Bett, nach Tränen und Nacht- wie Nacktschwimmen überstürzt das Hotel verlassen und durch die gefährlichsten Viertel der Stadt ziehen. Oder gar ein zweites Erdbeben, gewaltiger als das erste, das im Morgengrauen Tokio erschüttert und mancherlei Schäden hervorruft.
Während die fleißigen Japaner, von der Erschütterung dieses Bebens zu Boden geworfen, sich gleich wieder aufrappeln und ihren weit entfernten Arbeitsstätten entgegenziehen, versucht das Paar, durch den Aufruhr der Elemente erneut sexualisiert, den im Hotelzimmer abgebrochenen Akt in aller Öffentlichkeit zu vollziehen. Es gelingt zwar wiederum nicht zur Zufriedenheit, aber immerhin kann der erste von zwei Teilen des Romans mit dem eleganten Satz enden: „Der Tag ging auf über Tokio, und ich stieß ihr einen Finger ins Arschloch.” Vermutlich sind es Sätze wie dieser, denen Toussaint den Ruf verdankt, ein minimalistischer Stilist zu sein, der große Worte scheut und keines zu viel davon macht.
„Sich lieben” erweist freilich das genaue Gegenteil. Ist der erste Teil motivisch schwer überladen, gerät der zweite zum überflüssigen Nachspiel auf das große Gefühlstheater des ersten. Der Liebhaber flieht jetzt die Geliebte, mit der er sich so wenig zu vereinigen vermochte, wie er sich von ihr trennen konnte, reist nach Kioto und versucht im Hause eines nebulös bleibenden Freundes zu sich zu finden. Endlich scheint die Leidenschaft niederzubrennen, aber dann treibt es ihn doch wieder in die Nähe Maries, wenigstens ihrer Objekte, und das ganze findet als gewaltsamer Klamauk sein Ende, indem der Liebhaber, schon wieder mitten in der Nacht und neuerlich bewaffnet mit seinem Fläschchen Salzsäure, den Nachtwächter zwingt, ihn alleine die Ausstellung Maries besichtigen zu lassen.
Dabei hatte alles, vor sieben Jahren, so zart angefangen! Er hatte Marie nämlich erobert, als er im Bistro „mein Stielglas dem ihren näherte, um die Rundung ihres Glases zu liebkosen, es neigte, um es sachte an ihres zu stoßen in einem simulierten, ansatzweise ausgeführten wie sofort auch unterbrochenen Akt des Anstoßens . . .” Das mag ihm keiner so leicht nachmachen, dieses raffinierte Fast-Anstoßen als Simulation einer fast geschlechtlichen Annäherung; aber es wird auch kaum ein Autor zuwege bringen, solche Szenen zu bemühen und dafür im deutschen Feuilleton nicht als Meister der peinlichen Inszenierung, sondern der sparsamen Dramaturgie gepriesen zu werden.
KARL-MARKUS GAUSS
JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT: Sich lieben. Roman. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 153 Seiten, 19,80 Euro.
Passionen, Pathologien: Die Liebe ist eine Designfrage
Foto: Brooklyn/Corbis
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Tränen unter der Schlafbrille, Salzsäure im Kulturbeutel: Jean-Philippe Toussaint inszeniert eine Trennung in Tokio
Ein europäisches Paar landet nächtens in Tokio. Im Taxi beginnt die schöne Frau „schwere Tränen der Trauer” zu weinen, während es damals, vor sieben Jahren, in einem anderen Taxi, in Paris, „reine Tränen der Freude” waren, die ihr „leicht und duftig wie Schaum schwerelos ihre Wangen hinunterrannen”. In der Nacht von Paris hatten die beiden ein billiges Hotel gesucht, um sich zum ersten Mal zu lieben, jetzt steigen sie im sündteuren Grandhotel von Shinjuku ab, um es das letzte Mal zu tun. Man ahnt, dass Gewaltiges bevorsteht, denn als sie die menschenleere Hotelhalle mit ihren Kristall-Lüstern durchqueren, beginnen diese leise zu klirren, und aus einer namenlosen Ferne ist dieses „verzweifelte Grollen der Materie” zu vernehmen, „das den Boden erzittern und die Wände wackeln ließ”.
Ein Erdbeben ist für einen Sexualakt gewiss eine imponierende Ouvertüre, vor allem wenn es sich um den letzten handeln soll, mit dem sich ein Paar endgültig voneinander trennt. Denn um dieser Trennung willen begleitet er, ein Mann von rund vierzig Jahren, seine Marie de Montalte, die zeitgemäß nicht als gelangweilte Aristokratin durch die Welt fährt, sondern eine divamäßig überspannte Modedesignerin ist, deren Kollektion das „Contemporary Art Space von Shinagawa” eine große Exposition widmet. Wenn es den beiden im finalen Verkehr auch nicht ganz gelingt, den Boden erzittern und die Wände wackeln zu lassen, gehen sie es doch ziemlich heftig an; dem verzweifelten Grollen ihrer Beziehung entsprechend, werden sie darüber aber nicht recht glücklich, denn sie schlafen miteinander, als „würden wir uns gegenseitig die Lust streitig machen, statt sie zu teilen”, und so braucht es nicht zu wundern, dass bei Marie schließlich unter der seidenen Schlafbrille der Japan Airlines, die sie den Liebeskampf über aparterweise nicht abgenommen hat, wieder die Tränen hervorquellen.
Ihn aber treiben Wut, Hass, Enttäuschung aus dem Bett in das Badezimmer, wo er aus seinem Necessaire, für das sich im Deutschen die nicht gänzlich unironische Bezeichnung „Kulturbeutel” durchgesetzt hat, jenes Fläschchen mit Salzsäure herausnimmt, das er seit einiger Zeit mit sich führt. Seit er es besitzt und weiß, es jederzeit verwenden zu können, dient ihm das Fläschchen zur Beruhigung. Es ist das eigentliche Spannungselement des Romans, dass wir uns immer fragen, ob er dessen ätzenden, Fleisch wie Stoff zersetzenden Inhalt der weinenden Marie, sich selber, einem zufälligen Passanten, dem Direktor des Museums ins Gesicht schütten oder über Maries kostbare Kostüme leeren wird. In einer der besten Szenen des Romans, der auf ermüdende Weise aus lauter besten Szenen bestehen möchte, schwimmt der verzweifelte Liebhaber in der Finsternis von drei Uhr früh alleine im Swimmingpool, der sich im obersten Stock des Hotels, hoch über der schlafenden Stadt, befindet: Wird er das Fläschchen, das er am Beckenrand abgestellt hat, ins Wasser kippen?
„Sich lieben” ist von der literarischen Kritik als eleganter Roman der Trennung, als kleines Meisterwerk über die Liebe und den Abschiedsschmerz aufgenommen worden. Dabei ist es der Triumph des Kitsches, den der 1957 geborene Belgier Jean Philippe Toussaint hier feiert, der gewaltige Kulissen bemüht, um das Drama einer Trennung überzeugend zu gestalten. Etwa den „Strauß von Hochhäusern” – was für ein Naturbild für die Skyline von Tokio! – , den die Liebenden, Hassenden vom Fenster aus betrachten, oder den eisigen Schneefall, in den die beiden, sie in einem ihrer exquisiten Ausstellungskostüme, er mehr oder weniger im Pyjama, geraten, weil sie nach dem Desaster im Bett, nach Tränen und Nacht- wie Nacktschwimmen überstürzt das Hotel verlassen und durch die gefährlichsten Viertel der Stadt ziehen. Oder gar ein zweites Erdbeben, gewaltiger als das erste, das im Morgengrauen Tokio erschüttert und mancherlei Schäden hervorruft.
Während die fleißigen Japaner, von der Erschütterung dieses Bebens zu Boden geworfen, sich gleich wieder aufrappeln und ihren weit entfernten Arbeitsstätten entgegenziehen, versucht das Paar, durch den Aufruhr der Elemente erneut sexualisiert, den im Hotelzimmer abgebrochenen Akt in aller Öffentlichkeit zu vollziehen. Es gelingt zwar wiederum nicht zur Zufriedenheit, aber immerhin kann der erste von zwei Teilen des Romans mit dem eleganten Satz enden: „Der Tag ging auf über Tokio, und ich stieß ihr einen Finger ins Arschloch.” Vermutlich sind es Sätze wie dieser, denen Toussaint den Ruf verdankt, ein minimalistischer Stilist zu sein, der große Worte scheut und keines zu viel davon macht.
„Sich lieben” erweist freilich das genaue Gegenteil. Ist der erste Teil motivisch schwer überladen, gerät der zweite zum überflüssigen Nachspiel auf das große Gefühlstheater des ersten. Der Liebhaber flieht jetzt die Geliebte, mit der er sich so wenig zu vereinigen vermochte, wie er sich von ihr trennen konnte, reist nach Kioto und versucht im Hause eines nebulös bleibenden Freundes zu sich zu finden. Endlich scheint die Leidenschaft niederzubrennen, aber dann treibt es ihn doch wieder in die Nähe Maries, wenigstens ihrer Objekte, und das ganze findet als gewaltsamer Klamauk sein Ende, indem der Liebhaber, schon wieder mitten in der Nacht und neuerlich bewaffnet mit seinem Fläschchen Salzsäure, den Nachtwächter zwingt, ihn alleine die Ausstellung Maries besichtigen zu lassen.
Dabei hatte alles, vor sieben Jahren, so zart angefangen! Er hatte Marie nämlich erobert, als er im Bistro „mein Stielglas dem ihren näherte, um die Rundung ihres Glases zu liebkosen, es neigte, um es sachte an ihres zu stoßen in einem simulierten, ansatzweise ausgeführten wie sofort auch unterbrochenen Akt des Anstoßens . . .” Das mag ihm keiner so leicht nachmachen, dieses raffinierte Fast-Anstoßen als Simulation einer fast geschlechtlichen Annäherung; aber es wird auch kaum ein Autor zuwege bringen, solche Szenen zu bemühen und dafür im deutschen Feuilleton nicht als Meister der peinlichen Inszenierung, sondern der sparsamen Dramaturgie gepriesen zu werden.
KARL-MARKUS GAUSS
JEAN-PHILIPPE TOUSSAINT: Sich lieben. Roman. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 153 Seiten, 19,80 Euro.
Passionen, Pathologien: Die Liebe ist eine Designfrage
Foto: Brooklyn/Corbis
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"Um Toussaint einzuordnen, müßte man ihn irgendwo neben Kafka und Beckett stellen, eine Brücke zwischen Mondrian und Pascal. Mit großer schriftstellerischer Reife lotet sein neuer Roman die Tiefen einer Liebeskrise aus. Und den Moment danach, das Nicht-mehr-Lieben." (Le Monde)
"Diese Geschichte einer unendlich traurigen Trennung ist ein Juwel an melancholischer Einfachheit, Toussaints bestes Buch bisher." (Les Inrockuptibles)
"Sich lieben besitzt dieselbe Schönheit wie ein langes Saxophonsolo in der Nacht, eine nicht enden wollende Melancholie." (Le Soir)
"Diese Geschichte einer unendlich traurigen Trennung ist ein Juwel an melancholischer Einfachheit, Toussaints bestes Buch bisher." (Les Inrockuptibles)
"Sich lieben besitzt dieselbe Schönheit wie ein langes Saxophonsolo in der Nacht, eine nicht enden wollende Melancholie." (Le Soir)
"Eine wehmütige Ode an den Schmerz der Liebe." -- Der Spiegel
"Sein bisher schönster Roman." -- Neue Zürcher Zeitung
"Sein bisher schönster Roman." -- Neue Zürcher Zeitung