Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein sehr sympathisierender Rückblick auf die Proteste gegen die NATO-Nachrüstung
Am 1. September 1983 fanden sich Heinrich Böll, Erhard Eppler, Günter Grass, Petra Kelly, Oskar Lafontaine und weitere Prominente sowie viele andere Demonstranten auf der Zufahrtsstraße zum Depot der amerikanischen Armee in Mutlangen ein, um den Zutrittsweg zu blockieren. Zwar hatte die US-Army Vorsorge getroffen und die dort seit 1964 stationierten Pershing-IA-Raketen verlegt. Und die Polizei hielt sich, teilweise zur großen Enttäuschung der Blockierer, so sehr zurück, dass ihr die Zubilligung eines "Promi-Bonus" unterstellt wurde. Die Anwesenheit von 25 Kamerateams und 150 Journalisten und die Errichtung einer bis heute in anderer Form fortexistierenden "Pressehütte" zeigten, dass die Aktion gut geplant war. Ein Netzwerk aus Friedensbewegung und linksliberaler Presse bildete sich, das einen Symbolort schuf: die kleine schwäbische Gemeinde Mutlangen als gallisches Widerstandsnest gegen die Nachrüstung. Dem zivilen Ungehorsam in Mutlangen widmet der Historiker Richard Rohrmoser mehr als ein Asterix-Heft, nämlich eine ganze Dissertation.
In Mutlangen sollten 1983 36 jener Pershing-II-Raketen stationiert werden, die als Antwort der NATO auf die sowjetische Stationierung von SS-20-Mittelstreckenraketen in Russland, Weißrussland und der Ukraine im Verbund mit den Cruise-Missiles (Marschflugkörpern) die "Raketenlücke" (Helmut Schmidt) schließen sollten. Fortan wurde in Mutlangen von allerlei linken Gruppen immer wieder blockiert. Die Stationierung wurde damit natürlich nicht verhindert. Dafür konnte die Rechtsprechung bis hin zum Bundesverfassungsgericht intensiv beschäftigt werden. Die vom Autor bemühte "Justizkrise" scheint aber als Kategorie doch etwas zu hoch gegriffen. Karlsruhe wies mit einem Patt 1986 die Verfassungsbeschwerde gegen die Wertung der Blockaden als Nötigung zurück. Damit wurde die Praxis des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd bestätigt, das insgesamt 2000 Blockierer wegen Nötigung nach § 240 StGB regelmäßig zu Geldstrafen von 20 Tagessätzen verurteilte. 1995 kam der personell erneuerte Erste Senat des Verfassungsgerichts in der gänzlich veränderten Lage nach dem Kalten Krieg dann zur Auffassung, Sitzblockaden vor Militäreinrichtungen seien keine nötigende Gewalt. Diese Entscheidung wurde ihrerseits 2011 vom Verfassungsgericht mit der Bestätigung der sogenannten "Zweite-Reihe-Rechtsprechung" des Bundesgerichtshofes relativiert.
Der Autor behandelt die Blockaden in Mutlangen aber nicht nüchtern als rechtspolitisches Problem oder politikhistorisches Sujet. Er überhöht sie stattdessen zu Meilensteinen der Liberalisierung und Verwestlichung der politischen Kultur in Deutschland. Dabei nimmt er einseitig die Perspektive der blockierenden Akteure und der Friedensbewegung ein. Und so fällt zwar positiv auf, dass der Autor nicht nur mit Veteranen der Friedensbewegung, sondern auch mit Kommunalpolitikern, einem ehemaligen amerikanischen Sergeant und dem damals zuständigen Polizeidirektor gesprochen hat. Diese Stimmen finden aber in der Argumentation kaum Berücksichtigung. Interessant wäre zudem die andere Perspektive "von unten" gewesen, also die Sicht der Polizeibeamten, die teilweise im Akkord die Blockierer wegtragen mussten. Mit welchem historischen Vokabular mussten sie sich dabei betiteln lassen?
Zur normativen Unwucht kommen handwerkliche Mängel hinzu. So führt der Autor eine Arbeit des Historikers Michael Ploetz vom Institut für Zeitgeschichte als Beleg für die These an, der beständige zivile Ungehorsam der Friedensbewegung habe "letztendlich das Ende des Ost-West-Konfliktes" eingeleitet. Der von Rohrmoser auch noch falsch geschriebene Ploetz vertritt diese These so gar nicht. Der für Rohrmoser zentrale zivile Ungehorsam wird von Ploetz nämlich gar nicht erwähnt, vielmehr verweist er auf die "unabhängige" Friedensbewegung, die in Osteuropa die Propaganda vom westdeutschen Revanchismus konterkariert habe. Noch gravierender ist die Argumentation bezüglich des auch in Mutlangen aktiven Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KOFAZ), das aus der DDR finanziert und gesteuert wurde, was von ebenjenem Ploetz und anderen gezeigt worden ist. Um den kommunistischen Einfluss zu minimieren, behauptet Rohrmoser, die Forschung habe "inzwischen" festgestellt, dass diese "Bestrebungen nicht so stark waren". Zur Untermauerung zitiert er einen politikwissenschaftlichen Sammelband aus dem Jahr 1987. Für den angeblich veralteten Ansatz verweist er dagegen auf einen archivgestützten geschichtswissenschaftlichen Aufsatz aus dem Jahr 2009! Fast überflüssig zu erwähnen, dass Rohrmoser nur einen winzigen Ausschnitt aus dieser Debatte anführt. Darüber hinaus hätte dem Autor der Kontakt zur neueren internationalen Sicherheitsforschung gutgetan, allein schon, um etwas Distanz zu seinen Akteuren zu gewinnen. Das umfassende Werk von Andreas Lutsch über die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland kennt er nicht (F.A.Z. vom 10. März 2020) und erst recht nicht die internationale Literatur.
Leider bewegt sich der Autor sprachlich auf einem nicht akzeptablen Niveau. Im Stil zeitgenössischer Flugblätter ist die Rede von der "ultimativen Schrecklichkeit" der Atomwaffen. Damals waren aber immerhin nicht Nonsenswörter wie "Sitzblockierer*innen" in Gebrauch, mit denen der Autor die Leser Seite um Seite peinigt. Auch dass die amerikanischen Stationierungskräfte ohne zeitliche Einschränkung als "Besatzer" bezeichnet werden, ist einem historischen Buch nicht angemessen.
Das Hauptmanko der Darstellung ist aber die kritiklose Apotheose des zivilen Ungehorsams. In der Demokratie wird Legitimation durch Verfahren hergestellt. Dieses besteht zuallererst aus allgemeinen Wahlen. In der Bundestagswahl 1983 wurde nach einem "Raketenwahlkampf" eine eindeutige Entscheidung zugunsten der Parteien getroffen, die sich für die Nachrüstung ausgesprochen hatten. Die Minderheit kann gegen die Politik der gewählten Regierung mit Demonstrationen und Versammlungen selbstverständlich protestieren. Warum die Demokratie aber dadurch gestärkt werden soll, dass der Protest in Form von Blockaden abläuft und unter Aufbietung des größtmöglichen rhetorischen Arsenals, das der Gegenpartei die Legitimität gerade abspricht, ist der Argumentation nicht zu entnehmen.
Dem Autor kommt gar nicht in den Sinn, dass die Blockade von Asylbewerberheimen oder der Verstoß gegen Auflagen bei Corona-Protesten, das dortige Mitführen von Kleinkindern wie die Taktik, die Polizei öffentlichkeitswirksam zur Repressionen zu bewegen, ebenso Ausdruck des gerühmten zivilen Ungehorsams sein können wie die Blockaden von Mutlangen. Und auch die locker bemühten NS-Vergleiche sind wieder in Mode. Bei der Prominentenblockade von Mutlangen war zu lesen: "1939: Damals wurde zurückgeschossen - 1983: Heute wird nachgerüstet." Tagesaktuelle Beispiele brauchen nicht angeführt zu werden. PETER HOERES
Richard Rohrmoser: "Sicherheitspolitik von unten". Ziviler Ungehorsam gegen Nuklearrüstung in Mutlangen, 1983 -1987.
Campus Verlag, Frankfurt 2021. 460 S., 45,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main