Im Juni 1828 erreicht ein Schiff die irische Hafenstadt Cove – an Bord sieben brutal ermordete Crewmitglieder und Passagiere. Drei Lehrlinge, zwei Matrosen und der elfjährige Sohn des Reeders haben das Massaker überlebt, der Kapitän ist verschwunden. Noch vor der offiziellen Untersuchung bekommt der berühmte Arktisforscher und Theologe William Scoresby die Gelegenheit, mit allen Überlebenden und Zeugen zu sprechen. Aus den Aussagen ergibt sich nach und nach ein lückenloses Bild der grauenvollen Ereignisse, und doch bleibt der unheimliche Fall rätselhaft: Wer lügt? Wer sagt die Wahrheit? War die Besatzung der Mary Russell in einen mörderischen Plan verwickelt oder wurden die sieben Männer Opfer eines Wahnsinnigen? Die Ermittlungen führen Scoresby in einen Abgrund aus Zweifeln, Aberglauben und mitternächtlichen Trugbildern. Sieben Lichter beruht auf einer wahren Geschichte, einem der sonderbarsten Kriminalfälle des 19. Jahrhunderts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2018Mosaik Wahn und Wahrheit
Alexander Pechmanns Roman "Sieben Lichter"
Der Engländer William Scoresby (1789 bis 1857) wurde bekannt als Walfänger, Arktisfahrer, Schneeflockenforscher und Grönlandvermesser. In einem Brief, den Charles Darwin während der Reise auf der "Beagle" schrieb, findet man ihn genauso erwähnt wie in Herman Melvilles Romanklassiker "Moby-Dick". Unter den zahlreichen Schriften, die Scoresby veröffentlichte, ist auch ein ausführlicher Bericht über den Fall von William Stewart, einem angesehenen und erfahrenen Kapitän, der sieben Männer ermordete.
Die "Mary Russell" hatte im Februar 1828 die Stadt Cove an der irischen Südküste verlassen und Maultiere nach Barbados gebracht. An Bord waren neben Stewart noch fünf erwachsene Seeleute, drei Schiffsjungen, ein Zimmermann, zwei Stallknechte für die Maultiere sowie als Passagier der erkrankte Sohn des Reeders. Bei der Rückfahrt kam ein ehemaliger Kapitän als weiterer Passagier hinzu. Ende Juni bemerkte ein anderes Schiff, dass die "Mary Russell" ein Notsignal gehisst hatte. In der Kajüte lagen sieben gefesselte, durch heftige Schläge entstellte Leichen. Stewart behauptete, es handele sich um Meuterer.
Scoresby rekonstruiert zunächst chronologisch, was auf dem Schiff geschah. Dann beschreibt er, wie er die Überlebenden befragte, Stewart in der Haft traf und mit ihm korrespondierte. Alexander Pechmann, als Übersetzer und Biograph mit der englischsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts vertraut, hat den Bericht nun wiederentdeckt und zur Hauptquelle seines Romans "Sieben Lichter" gemacht.
Erzählt wird die Geschichte darin nicht von Scoresby, sondern von dessen Schwager, einem Colonel Fitzgerald. Sein Leben, erklärt Fitzgerald sanft spöttisch, sei "so durchschnittlich und langweilig wie das eines jeden zweitgeborenen Sohnes eines Baronets". Der Kontrast zum Abenteurer Scoresby ist schon der erste Kniff des Buchs. Geschickt bricht der Autor zudem die zeitliche Struktur von Scoresbys Bericht auf. "Sieben Lichter" beginnt mit den Ermittlungen von Scoresby und Fitzgerald und präsentiert statt einer definitiven Rekonstruktion der Tatumstände ein Mosaik. Was die ungleichen Ermittler von den Überlebenden erfahren, ist immer nur ein Teil des Geschehens.
Vom Kapitän des Schiffs, das die "Mary Russell" entdeckte, hören die beiden, dass sich zwei der angeblichen Meuterer, William Smith und John Howes, versteckt hatten und so ihr Leben retteten. Die drei Schiffsjungen überlebten ebenfalls. Sie waren an den Händen gefesselt, und der Sohn des Reeders schien sie mit einer Pistole zu bewachen. Von einem der Schiffsjungen wird Scoresby und Fitzgerald zwar bestätigt, dass es eine Meuterei gegeben habe, aber Smith und Howes bestreiten das und schildern, wie sich Stewart immer seltsamer benommen und in einen Wahn hineingesteigert habe.
Die Zeitungen stellen den Kapitän als unberechenbares Monster dar, sogar seine Mithäftlinge im Gefängnis fürchten ihn. Fitzgeralds Beziehungen und Scoresbys Berühmtheit ermöglichen ihnen jedoch ein Gespräch in seiner Einzelzelle. Stewart redet ruhig von einem prophetischen Traum, der ihn vor der Meuterei gewarnt habe, und rechtfertigt den Tod der Männer als einen von Gott gewollten Ausgang.
So verwebt der schmale Roman auf faszinierende Weise eine Fülle an historischen, juristischen, medizinischen und religiösen Bezügen. Das Buch greift allerdings nicht nur das erzählerische Potential von Scoresbys Bericht auf. Pechmann geht zugleich über ihn hinaus, indem er an entscheidenden Stellen visuelle Spiegelungen und literarische Echos einfügt. Etwa hängen Stiche von Schiffen, auf denen es wirklich zu einer Meuterei kam, in Stewarts Haus - und ein mit Anstreichungen versehenes Gedicht Byrons über die Meuterei auf der "Bounty" begegnet Scoresby und Fitzgerald an Bord der "Mary Russell".
Liegt hinter Stewarts Wahn also eine Wahrheit? Scoresby meine, "die Welt bestünde aus Zeichen, die man entziffern müsse", bemerkt Fitzgerald. Ihm selbst dagegen fehlt Scoresbys Glaube an die Deutung der Zeichen. "Wie konnte er, wie konnte irgendjemand so sicher sein?"
THORSTEN GRÄBE.
Alexander Pechmann: "Sieben Lichter".
Roman. Steidl Verlag, Göttingen 2017.
168 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alexander Pechmanns Roman "Sieben Lichter"
Der Engländer William Scoresby (1789 bis 1857) wurde bekannt als Walfänger, Arktisfahrer, Schneeflockenforscher und Grönlandvermesser. In einem Brief, den Charles Darwin während der Reise auf der "Beagle" schrieb, findet man ihn genauso erwähnt wie in Herman Melvilles Romanklassiker "Moby-Dick". Unter den zahlreichen Schriften, die Scoresby veröffentlichte, ist auch ein ausführlicher Bericht über den Fall von William Stewart, einem angesehenen und erfahrenen Kapitän, der sieben Männer ermordete.
Die "Mary Russell" hatte im Februar 1828 die Stadt Cove an der irischen Südküste verlassen und Maultiere nach Barbados gebracht. An Bord waren neben Stewart noch fünf erwachsene Seeleute, drei Schiffsjungen, ein Zimmermann, zwei Stallknechte für die Maultiere sowie als Passagier der erkrankte Sohn des Reeders. Bei der Rückfahrt kam ein ehemaliger Kapitän als weiterer Passagier hinzu. Ende Juni bemerkte ein anderes Schiff, dass die "Mary Russell" ein Notsignal gehisst hatte. In der Kajüte lagen sieben gefesselte, durch heftige Schläge entstellte Leichen. Stewart behauptete, es handele sich um Meuterer.
Scoresby rekonstruiert zunächst chronologisch, was auf dem Schiff geschah. Dann beschreibt er, wie er die Überlebenden befragte, Stewart in der Haft traf und mit ihm korrespondierte. Alexander Pechmann, als Übersetzer und Biograph mit der englischsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts vertraut, hat den Bericht nun wiederentdeckt und zur Hauptquelle seines Romans "Sieben Lichter" gemacht.
Erzählt wird die Geschichte darin nicht von Scoresby, sondern von dessen Schwager, einem Colonel Fitzgerald. Sein Leben, erklärt Fitzgerald sanft spöttisch, sei "so durchschnittlich und langweilig wie das eines jeden zweitgeborenen Sohnes eines Baronets". Der Kontrast zum Abenteurer Scoresby ist schon der erste Kniff des Buchs. Geschickt bricht der Autor zudem die zeitliche Struktur von Scoresbys Bericht auf. "Sieben Lichter" beginnt mit den Ermittlungen von Scoresby und Fitzgerald und präsentiert statt einer definitiven Rekonstruktion der Tatumstände ein Mosaik. Was die ungleichen Ermittler von den Überlebenden erfahren, ist immer nur ein Teil des Geschehens.
Vom Kapitän des Schiffs, das die "Mary Russell" entdeckte, hören die beiden, dass sich zwei der angeblichen Meuterer, William Smith und John Howes, versteckt hatten und so ihr Leben retteten. Die drei Schiffsjungen überlebten ebenfalls. Sie waren an den Händen gefesselt, und der Sohn des Reeders schien sie mit einer Pistole zu bewachen. Von einem der Schiffsjungen wird Scoresby und Fitzgerald zwar bestätigt, dass es eine Meuterei gegeben habe, aber Smith und Howes bestreiten das und schildern, wie sich Stewart immer seltsamer benommen und in einen Wahn hineingesteigert habe.
Die Zeitungen stellen den Kapitän als unberechenbares Monster dar, sogar seine Mithäftlinge im Gefängnis fürchten ihn. Fitzgeralds Beziehungen und Scoresbys Berühmtheit ermöglichen ihnen jedoch ein Gespräch in seiner Einzelzelle. Stewart redet ruhig von einem prophetischen Traum, der ihn vor der Meuterei gewarnt habe, und rechtfertigt den Tod der Männer als einen von Gott gewollten Ausgang.
So verwebt der schmale Roman auf faszinierende Weise eine Fülle an historischen, juristischen, medizinischen und religiösen Bezügen. Das Buch greift allerdings nicht nur das erzählerische Potential von Scoresbys Bericht auf. Pechmann geht zugleich über ihn hinaus, indem er an entscheidenden Stellen visuelle Spiegelungen und literarische Echos einfügt. Etwa hängen Stiche von Schiffen, auf denen es wirklich zu einer Meuterei kam, in Stewarts Haus - und ein mit Anstreichungen versehenes Gedicht Byrons über die Meuterei auf der "Bounty" begegnet Scoresby und Fitzgerald an Bord der "Mary Russell".
Liegt hinter Stewarts Wahn also eine Wahrheit? Scoresby meine, "die Welt bestünde aus Zeichen, die man entziffern müsse", bemerkt Fitzgerald. Ihm selbst dagegen fehlt Scoresbys Glaube an die Deutung der Zeichen. "Wie konnte er, wie konnte irgendjemand so sicher sein?"
THORSTEN GRÄBE.
Alexander Pechmann: "Sieben Lichter".
Roman. Steidl Verlag, Göttingen 2017.
168 S., geb., 18,- [Euro].
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