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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Karl möchte etwas von der Aufmerksamkeit, die Mo zuteilwird: Oliver Scherz erzählt von einem ungleichen Zwillingspaar.
Von Helena Schäfer
Von Helena Schäfer
An vier Nachmittagen die Woche muss der zwölfjährige Karl auf seinen Zwillingsbruder Mo aufpassen. Mo, der eine kognitive Beeinträchtigung hat, spricht alles aus, was ihm in den Kopf kommt, umarmt Fremde, kann den Hula-Hoop-Reifen kreisen lassen und hört Karnevalsmusik in voller Lautstärke. Die Mutter ist Krankenschwester, der Vater arbeitet im Ausland, und eine Betreuung für Mo ist auf dem Land schwer zu finden. Deshalb muss Karl nach der Schule Rührei braten, dem Bruder bei den Hausaufgaben helfen, ihn trösten, Badeschaum vom Fußboden wischen und Mos Hamster füttern.
An den gemeinsamen Nachmittagen erleben sie kleine Abenteuer. Die Brüder albern im Kuhstall des benachbarten Bauern herum und entdecken Fledermäuse in einem verlassenen Stollen. Sie bespritzen Teller mit Ketchup und tauchen ihre Gesichter in die rote Soße. Doch Mo erkennt nicht, wann der Spaß vorbei ist, und Karl hat keine Lust, ständig den Erzieher zu spielen. Er will auch mal mit den anderen Kindern im Dorf Fußball spielen und Nida aus der 6c kennenlernen. Er mag sie, weil sich ihr Lachen echt anhört und sie auf dem Pausenhof als Einzige im Regen stehen bleibt. Als Karl es endlich schafft, sich mit ihr zu verabreden, muss er unerwartet auf Mo aufpassen und steht vor einer schwierigen Entscheidung.
Oliver Scherz erzählt die Geschichte der ungleichen Brüder aus Karls Sicht. So fühlt man als Leser die Überforderung des reifen Bruders und dessen Frust darüber, vernachlässigt zu werden. Anschaulich beschreibt der Autor den schmalen Grat zwischen der kindlichen Ausgelassenheit der Geschwister und dem Ernst der Verantwortung, der immer nur Karl trifft. Sosehr er seinen Bruder liebt, will er auch Fehler machen dürfen, unvernünftig sein, Kind sein. Barfuß rast er auf dem Mountainbike durch den Wald und kommt erst in der Dunkelheit nach Hause, damit die Mutter auch mal ihn sorgenvoll anschaut und fragt, woher die Schramme im Gesicht kommt. Man kann leicht nachvollziehen, warum Karl sich irgendwann die Überforderung aus der Seele schreit: "Immer nur Mo! Ich bin auch da!!"
Mos Situation nimmt viel Raum ein. Er kann nicht gut rechnen oder Gefahren abschätzen, ist tollpatschig, wird von seinen Gefühlen übermannt und überschreitet ständig Grenzen. Aber er erkennt sofort, ob andere ihre guten Worte ehrlich meinen oder nicht. Wenn er wütend wird, ruft er laut "Thorsten", den Namen des Vaters. Im Gegensatz zu Karl durchschaut Mo, dass der Vater vielleicht extra viel im Ausland arbeitet, um sich der Beeinträchtigung des Sohnes nicht stellen zu müssen.
Die Geschichte ist einfach gestrickt und weniger originell als andere Kinder- und Jugendbücher über das Aufwachsen mit einem beeinträchtigten Geschwisterkind. In der Jugendreihe "Achtung, Mädchen gesucht!" von Karen-Susan Fessel über drei Brüder, von denen einer das Downsyndrom hat, werden ähnliche Fragen beiläufiger behandelt. Dennoch ist Oliver Scherz' Geschichte in ihrer Fixierung auf das Thema stimmig und feinfühlig. Die Idylle der erstaunlich analogen Dorfkindheit der Brüder wird von Philip Waechter liebevoll mit Bildern in Szene gesetzt.
Schade ist, dass keine Lehre unausgesprochen bleibt, obwohl die Beschreibungen der Ketchup-Spritzer und Porzellanscherben für sich sprechen. Oliver Scherz packt die erzieherischen Botschaften sehr explizit in Karls Gedankengänge und in ein versöhnendes Mutter-Sohn-Gespräch am Schluss. Das ändert aber nichts an ihrer Gültigkeit: Mitleid ist demütigend und nervt. Karl braucht seinen Bruder genauso wie der ihn. Man kann jemanden über alles lieben und sich trotzdem manchmal Fragen stellen, für die man sich im nächsten Moment schämt.
Oliver Scherz: "Sieben Tage Mo".
Mit Bildern von Philip Waechter. Thienemann Verlag, Stuttgart 2023. 176 S., geb, 16,- Euro. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Brüder
„Sieben Tage Mo“ von
Oliver Scherz erhält den
Deutschen Hörbuchpreis.
Zunächst einmal ist „Sieben Tage Mo“ an sich schon eine sehr gute Geschichte. Oliver Scherz erzählt darin von den Zwillingsbrüdern Karl und Moritz, kurz Mo, und er tut dies sehr zugewandt, vielschichtig und klischeefrei, der Roman für ältere Kinder erschien 2023 im Thienemann-Verlag. Karl muss sich viel um Mo kümmern, denn der ist kognitiv beeinträchtigt und kommt alleine nicht klar. Eine große Aufgabe für einen Jugendlichen. Sie fordert Karl sehr, überfordert ihn oft, macht ihn aber auch stolz.
Zu einer überaus besonderen Geschichte wird „Sieben Tage Mo“ in der Lesung von Jens Wawrczeck. Der Schauspieler und Sprecher ist vor allem bekannt durch seine Rolle als Peter Shaw in den „Die drei ???“-Hörspielen und -Bühnenauftritten. Sein Spektrum ist jedoch weitaus größer, Wawrczeck ist ein äußerst profilierter Sprecher auch außerhalb des „???“-Kosmos. Er hat Texte von Umberto Eco, Lion Feuchtwanger und Irene Dische gelesen. Zweimal bereits ist er mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet worden, jeweils in der Kategorie Kinderhörbuch: 2011 für „Kuckuck, Krake, Kakerlake“ – und eben jetzt für „Sieben Tage Mo“.
Ihm gelingt in dieser gut zweieinhalbstündigen Aufnahme, jeder Figur einen eigenen Tonfall zu schenken und diesen in unterschiedlichen Stimmungslagen auch noch zu variieren. Ohne dabei jemals ins Karikaturhafte zu kippen, um die einzelnen Charaktere unterscheidbar zu machen. Was insbesondere im Fall von Mo geboten, aber gar nicht so einfach ist. Damit untermauert Wawrczeck sehr schön die Plastizität der Figuren, die eben keine plumpen Typen sind, sondern komplexe Persönlichkeiten.
Die Mutter, der oft abwesende Vater, die Nachbarin, Karls Schulkumpel, Nida aus der Parallelklasse, Mo, Karl selbst: Sie alle haben ihre Stärken und ihre Schwächen. Tun oder sagen manchmal Dinge, mit denen andere in dem Moment nicht klarkommen, sind im Grunde aber alle schwer in Ordnung und definitiv mehr Hilfe als Last. Darauf zielt Oliver Scherz ab und mit ihm Jens Wawrczeck: Das Normale im Besonderen zu zeigen, und umgekehrt. „Sieben Tage Mo“ kommt ganz ohne Superfieslinge in der Schule oder sonstige Ekelpakete aus, ohne dysfunktionale Familienverhältnisse, ohne unwahrscheinliche Katastrophenfälle. Die Geschichte zeigt einen sehr besonderen, potenziell stets abenteuerlichen Alltag eines Jugendlichen und wie er ihn zu meistern versucht. Man kann mit Karl verzweifeln, sich mit ihm ärgern – und oft mit ihm lachen. Auch wegen Mo.
STEFAN FISCHER
Der Roman zeigt das
Normale im Besonderen
Oliver Scherz:
Sieben Tage Mo.
Gelesen von
Jens Wawrczeck.
Silberfisch,
Hamburg 2023.
2 CDs, 166 Minuten,
16 Euro.
Ab elf Jahren.
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