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Und jetzt wird so richtig sublimiert: Peter-André Alt legt eine neue Biographie Sigmund Freuds mit einer steilen These vor
Nach den großen Freud-Biographien von Ernest Jones, Ronald W. Clark und Peter Gay sind keine Quellen mehr zum Vorschein gekommen, die unser Bild von Freud wesentlich verändert hätten. Es sind aber doch eine Fülle von neuen Details bekanntgeworden, kleinere Briefwechsel, Biographien und Autobiographien von Personen des Umkreises, Dokumente wie Freuds Patientenkalender oder Daten zur Institutionalisierung und Rezeption der Psychoanalyse. Allein auf der Ebene des Faktischen ließe sich also manches Neue sagen, manches präzisieren und korrigieren.
Die Biographie des Berliner Literaturwissenschaftlers Peter-André Alt möchte etwas in dieser Richtung leisten und hat es sich ferner zur Aufgabe gemacht, Verbindungen zwischen der Person Freuds, seiner Theorie, der psychoanalytischen Bewegung und der Kultur der Moderne herzustellen. Das voluminöse Werk widmet sich im ersten Fünftel der Zeit von der Kindheit bis zu den ersten Praxisjahren (1856 bis etwa 1890) und im letzten Fünftel dem späten Freud (1920 bis 1939). Den meisten Raum nimmt die Zeit ein, in der Freud die Psychoanalyse im engeren Sinn geschaffen hat.
Das Buch ist klug komponiert, die Streifzüge ins biographische, theorie- und bewegungsgeschichtliche Umfeld sind geschickt untergebracht. Der Text liest sich gut, abgesehen von gelegentlichen terminologischen Fehlgriffen ("Demenz" statt "Dementia praecox", "Gesprächstherapie" statt "Analyse") oder immanenten Widersprüchen in der Darstellung. Als Extra bietet Alt Einschübe über die Beziehungen Freuds zu Schriftstellern und über Verbindungen, die Freuds Texte zur schönen Literatur unterhalten.
Aber vor allem hat Alt eine originelle und kaum haltbare Hauptthese: Freud habe seine Sexualtheorie nur entwickeln können, weil er sexuell enthaltsam gelebt und mit seiner Frau Martha "nur zum Zweck des Zeugungsvorgangs" verkehrt habe. Verkehr allein zur Befriedigung habe er für "unnatürlich" gehalten, während der Verlobung abstinent gelebt, zeitlebens keine außereheliche sexuelle Beziehung unterhalten, keine "ungewöhnlichen Sexualpraktiken" ausgeübt, sich die Masturbation verboten und auch nach Marthas Menopause auf Geschlechtsverkehr verzichtet. Nur weil er seine Libido sublimiert habe, gelang ihm eine "geistige Erkenntnis des Sexus".
Grund der Enthaltsamkeit sei eine "panische Angst vor Empfängnisverhütung und dem Coitus interruptus" gewesen. Diese Angst habe ihn von der Schwägerin Minna Bernays, die mit im Haushalt lebte, ferngehalten: "die einzige Geliebte, mit der er sich abgab, blieb seine Arbeit". So schützte er sich vor Verführungen, auch vor Patientinnen, die ihn "schwer parfümiert" und mit "üppigem Schmuck" behangen zu "umgarnen suchten". Schließlich: Freud sei wegen seiner sexuellen Enthaltsamkeit oft krank gewesen, habe die Ursache jedoch ignoriert.
Freuds großes Werk beruhe, mit einem Wort, auf einer großen Sublimierung. Was ist das? Eine späte Reaktion auf das Achtundsechziger-Programm der sexuellen Befreiung? Eine neue Frömmigkeit, eine Art veganer Psychoanalyse? Und woher weiß Alt das alles? Er belegt seine These nicht, und sie lässt sich auch nicht belegen, weil wir kaum etwas über Freuds Sexualverhalten wissen. Von einer "panischen Angst" vor dem Coitus interruptus ist jedenfalls nichts bekannt. Hingegen wissen wir, dass Freud Sexualität ohne Zeugungsabsicht durchaus begrüßte, auch wenn er die damaligen Verhütungsmethoden als störend empfand.
Seiner Tochter Sophie, die keine Kinder mehr wollte, empfahl er die Einsetzung eines Pessars. Er sprach sich öffentlich für die Legalisierung von Mitteln zur Empfängnisverhütung aus und war begeistert, als sein Freund Wilhelm Fließ eine neue Verhütungsmethode gefunden zu haben glaubte: "Wenn es Dir gelänge, den vom Herrgott eingesetzten Koitus zu verbessern, so wäre alles andere ein Schmarren dagegen, und ich würde gerne nach Berlin kommen, mit Dir den Platz im Tiergarten auszusuchen, auf dem Du ,stehen' willst."
Alts besonderes Interesse gilt dem Privatleben, dem Alltag und der Person Freuds, weniger seinem Umfeld, seiner Theorie und Praxis und am wenigsten der psychoanalytischen Bewegung. Trotz des umfangreichen Apparats muss man sagen, dass seine Kenntnis der Forschungsliteratur begrenzt und seine Abhängigkeit von anderen Autoren größer ist, als es die Literaturhinweise erkennen lassen. Für viele faktische Aussagen fehlt jede Quellenangabe. Die Darlegungen zur Theorie sind zum Teil entstellend, und dass rezente Forschungsergebnisse über Freuds Praxis vernachlässigt werden, ist ein empfindliches Manko. Umgekehrt ist die Ankündigung des Verlags, die Biographie stütze sich auf unveröffentlichtes Material, um das Mindeste zu sagen, stark übertrieben: Fast alle Briefe, die Alt als "unpubliziert" anführt, sind in der gängigen Freud-Bibliographie als veröffentlicht verzeichnet; der Rest ist im Internet zugänglich. Die wenigen Dokumente, die man nicht kannte, lohnen kaum der Erwähnung.
Zuletzt noch eine kleine Auswahl aus der Vielzahl sachlicher Fehler: Den Begriff der "polymorph-perversen Sexualität" hat Freud nicht 1916/17 geprägt, sondern 1905; die Schrift "Zur Einführung des Narzissmus" wurde nicht während des Ersten Weltkriegs geschrieben, sondern davor; Ernest Jones, Felix Deutsch und Hermine Hug-Hellmuth waren nie bei Freud in Analyse; mit seinem als "Rattenmann" bekannt gewordenen Patienten hat sich Freud nicht "zuweilen" zu "gemeinsamen Abendessen" verabredet, sondern nie; Freud hat nicht "viele" Kriegsneurotiker gesehen, sondern keinen (der Fall, den Alt nennt, ist von Ferenczi); die Patientin, die er zu Hippolyte Bernheim nach Nancy mitnahm, war nicht Fanny von Sulzer-Wart, sondern Anna von Lieben; Karl Abraham versammelte seine Berliner Freud-Gruppe nicht im Oktober 1907 zum ersten Mal, sondern im August 1908; in der Aufzählung der an der Berliner Psychoanalytischen Poliklinik angestellten Ärzte sind von sieben Namen nur zwei korrekt.
Einem breiten Publikum mag dergleichen nicht wichtig erscheinen. Leser, die sich eine erste Vorstellung von Freud und der Psychoanalyse machen wollen, sollten sich aber bewusst bleiben, dass man dem Autor dieser Biographie nicht trauen kann. Nicht einmal die Aussage, dass sich Freud an Festtagen gern ein Stück Torte gönnte, ist wirklich gesichert.
ULRIKE MAY
Peter-André Alt: "Sigmund Freud". Der Arzt der Moderne. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2016. 1036 S., Abb., geb., 34,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Joachim Koch, Deutsches Ärzteblatt, Heft 3, März 2017
"Die sorgfältige Verortung Freuds in der Geschichte der Literatur, der Philosophie und der Psychiatrie macht die Stärke dieses Buches aus."
Manfred Koch, NZZ am Sonntag, 29. Januar 2017
"Grandiose Biographie."
Dr. med. Mabuse, 13. November 2016
"Spannende Biografie."
Für Sie, 26. September 2016