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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
In „Silence“ erzählt Albrecht Selge vom Menschenmöglichen am Beispiel einer
modernen Bildungsbürgerfamilie. Es ist auch ein Meditations- und Gedankenbuch.
Auf den ersten Blick gleicht dieses leichte, schwere Buch mit dem Titel „Silence“ den autobiografischen Memoires, die sich immer noch als Leitgenre gegenwärtigen Schreibens behaupten. Wir erhalten ein gestochen scharfes, offensichtlich getreues Abbild aus dem Leben eines 47 Jahre alten Schriftstellers – Zeitpunkt der Erzählung ist das Frühjahr 2022 –, der mit Frau und drei Kindern in Berlin Moabit lebt, Fahrradfahrer, Autohasser, Musik- und Kunstkenner, dem der Lärm der Welt, vom Ticken der Wanduhr bis zum Husten in der Philharmonie, Laubbläser und Autokrach wahnsinnig auf die Nerven geht. Stille braucht er, Stille sucht er.
Das Datum, auf das alles Einzelne zu- und wieder wegläuft, ist der Tod des Vaters. Und da hier alles so genau und empirisch ist, fällt es nicht schwer, herauszufinden, dass es sich um den bedeutenden, nicht unberühmten Kirchenhistoriker Kurt-Victor Selge handelt, der am 5. April 2022 als fast Neunzigjähriger verstarb.
Dieser alte Selge hatte als Jugendlicher noch den Dirigenten Wilhelm Furtwängler erlebt und wurde später ein, wie die Nachrufe sagen, sehr aktiver Vorsitzender der Furtwängler-Gesellschaft – und sein Sohn, der Autor und Erzähler, ein Dauerbesucher der Berliner Philharmonie. Dass Albrecht Selge auch ein passionierter Musikhörer und -kritiker ist, ist eine Tatsache, die nicht nur sein Roman „Beethovn“ (sic!) bezeugt, sondern auch viele Pressebeiträge.
Eine moderne Familie aus dem Bildungsbürgertum. Entzückend sind die Porträts der Kinder, unwillkürlich denkt man an Thomas Manns Erzählung "Unordnung und frühes Leid": ein immer fröhlicher Sechsjähriger, der schreibende Vater nennt ihn „Mai“; eine vorübergehend schwierige Dreizehnjährige, die mit sich und ihrer Umwelt kämpft, gelegentlich cholerisch, also heißt sie „November mit Gewitter“; und ein gelassener, schon fast gesetzter Sechzehnjähriger, so mittig wie ein „Mittwoch“. Familie als Ort von Geheimsprache und Idiolekt, man liebt es.
Zum Memoire-haften gehört eine rückhaltlose Offenheit auch im Erotischen. Das Elternpaar liebt sich unverbrüchlich, geht aber jeweils eigene Wege. Die Frau zu einem erfrischend straighten Lover, bei dem es offenbar sexuell Butter und Brot gibt, diese Himmelsgaben. Der Mann hat eine erregende und besänftigende sadomasochistische Beziehung, deren Spiel mit Furcht und Vertrauen tiefes Einvernehmen und Aufgehobensein vermittelt - aber humoristisch gebrochen. Der Ich-Erzähler denkt dabei nämlich auch an Hans-Georg Gadamers „Ernst im Spiel“, den der Spielverderber nicht begreife: „Ich bemerke, obwohl meine Augen verschlossen sind, die gewisse Komik, die da mitliegt in einem am Boden liegenden Sklaven, der über Hans-Georg Gadamer nachdenkt. Aber diese Stunden sind Wahrheit und Methode, die H und ich gewählt haben.“ Too much information? Ach nein, man könnte an die Parallele in Emmanuel Carrères „Das Reich Gottes“ denken, das von den vier Evangelisten und vom Glauben handelt und doch detailliert die Besessenheit des Ich-Erzählers von einem bestimmten Porno-Film ausbreitet, als nicht wegzudenkenden Teil der Menschlichkeit mitsamt ihrer Leiblichkeit und Gebrechlichkeit.
Die rückhaltlose Deutlichkeit in Selges Buch dient aber mehr als erzählerischen Zwecken. Das Erzählerische ist hier ohnehin nur angetippt, das Buch hat etwas Stationäres, das sich erst am Ende löst. Eigentlich ist es ein Gedanken- und Meditationsbuch, eine Art „An mich selbst“ wie in den Betrachtungen des Marc Aurel. Es sieht dem Ich-Erzähler und den Seinen, wie es am Ende schlicht heißt, „beim Existieren zu“. Und so könnte man es ohne Verluste auch ganz langsam, seitenweise lesen.
Zwischen Angst und Entsetzen einerseits und Liebe und Glück andererseits misst es das Menschenmögliche am alltäglichen Fall aus. Der Tod, die Vergänglichkeit, das Vergehen der Zeit, die furchtbare, unvermeidliche und doch tröstliche Sterblichkeit sind Thema und Problem, das der Erzähler, der seinen Vater bis ans Ende begleitet hat, bewältigen muss. Anlässlich von Leoš Janáčeks Oper „Die Sache Makropoulos“, in der eine Frau zum unsterblichen Leben verdammt ist, gelangt er zum Schluss: „Es ist einfach noch keine überzeugende Alternative zur Endlichkeit des Lebens entdeckt worden.“ Was da nur in einer Klammer steht.
Der sanfte Witz, das skeptische Pathos, das unverstellt Rührende retten Erzähler und Autor. Am Ende sieht er sich wie im Spiegel in einem Vater, der ein kleines Kind auf dem Arm hält, „bestürzend winziges Leben in der Hand eines Riesen“, und da sagt er sich: „Wenn du Kind, längst nicht mehr jung, einst deinen hinfälligen Vater quälend langsam zugrunde gehen sehen wirst, dann werden eure Leben gelungen sein.“ Noch einmal ist er gerettet, er kann zurückfinden in einen Zustand, in dem er die völlige Unmöglichkeit seines Todes empfindet, nach so viel Reflexion zum Vergehen davor.
GUSTAV SEIBT
Das Buch sieht dem
Erzähler und den Seinen
„beim Existieren zu“
Der sanfte Witz und
das skeptische Pathos
retten Erzähler und Autor
Albrecht Selge:
Silence. Rowohlt Verlag, Berlin 2024. 176 Seiten. 23 Euro.
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