Jojo und seine kleine Schwester Kayla leben bei ihren Großeltern Mam and Pop an der Golfküste von Mississippi. Leonie, ihre Mutter, kümmert sich kaum um sie. Sie nimmt Drogen und arbeitet in einer Bar. Wenn sie high ist, wird Leonie von Visionen ihres toten Bruders heimgesucht, die sie quälen, aber auch trösten. Mam ist unheilbar an Krebs erkrankt, und der stille und verlässliche Pop versucht, den Haushalt aufrecht zu erhalten und Jojo beizubringen, wie man erwachsen wird. Als der weiße Vater von Leonies Kindern aus dem Gefängnis entlassen wird, packt sie ihre Kinder und eine Freundin ins Auto und fährt zur »Parchment Farm«, dem staatlichen Zuchthaus, um ihn abzuholen. Eine Reise voller Gefahr und Hoffnung. Jesmyn Ward erzählt so berührend wie unsentimental von einer schwarzen Familie in einer von Armut und tief verwurzeltem Rassismus geprägten Gesellschaft. Was bedeuten familiäre Bindungen, wo sind ihre Grenzen? Wie bewahrt man Würde, Liebe und Achtung, wenn man sie nicht erfährt? Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt ist ein großer Roman, getragen von Wards so besonderer melodischer Sprache, ein zärtliches Familienporträt, eine Geschichte von Hoffnungen und Kämpfen, voller Anspielungen auf das Alte Testament und die Odyssee.
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buecher-magazin.deJojo hat sich fest vorgenommen, tapfer zu sein. Es ist sein 13. Geburtstag und er weiß, dass sein Großvater ihm zeigen wird, wie er eine Ziege tötet. Das mag einem als düsterer Anfang eines Romans erscheinen, jedoch wird am Ende vor allem in Erinnerung bleiben, wie viel Wärme und Stärke von diesem Moment ausgeht. Nach "Vor dem Sturm" erzählt Jesmyn Ward in ihrem erneut mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman von den fortgesetzten Traumatisierungen und Diskriminierungen einer afroamerikanischen Familie in den USA. Jojo lebt mit seiner drogensüchtigen Mutter Leonie und seiner dreijährigen Schwester bei den Großeltern, aber als sein weißer Vater aus dem Gefängnis kommt, nimmt ihn die Mutter mit auf einen Roadtrip, auf dem die Gefahren von Armut allzu deutlich werden. Dabei ermöglichen die wechselnden Erzählperspektiven - vor allem zwischen Jojo und Leonie - eine außergewöhnliche Nähe zu den Figuren. Ward weitet in der Tradition von Faulkner und Morrison den Blick auf die gesamte Gesellschaft aus, um deutlich zu machen, dass der Tod in diesen Leben allzu gegenwärtig ist und besonders die Welt im Süden der USA von Geistern zu Unrecht Verstorbener bevölkert ist.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2018Die Geister Amerikas
Jesmyn Ward ist die Erbin von Faulkner und Toni Morrison. Ihr neuer Roman festigt diesen Ruf.
Von Verena Lueken
Körper in der Schwüle. Tiere, die miteinander sprechen. Pflanzen mit Heilkräften und Steine, die den Weg zum Tod weisen. Geister, die auf Bäumen wohnen oder plötzlich im Auto zwischen den anderen Passagieren sitzen. Ein Großvater, Pop, der versucht, seinem Enkel zu zeigen, dass ein schwarzer Mann außer drogenabhängig, gewalttätig oder Opfer von Gewalt auch noch etwas anderes sein kann, nämlich fürsorglich, vernünftig und vorausschauend. Eine Mutter, der das Muttergen fehlt. Ein Baby, das sich einen Großteil des Buchs lang erbricht und dann die Toten von den Bäumen nach Hause führt. Das Ganze geschrieben in einem Ton, in dem manchmal alttestamentarischer Zorn aufblitzt, meistens aber eine Form physischer Metaphorik die körperlichen Gegebenheiten auf fast unerträgliche Weise spürbar macht. Hunger. Durst. Schmerzen. Angst. Übelkeit. Rausch. Die Stimme, der wir folgen, ist von fern mit Faulkner verwandt, wenn sie näher kommt, mit Toni Morrison. Die Übersetzerin Ulrike Becker hat das auch im Deutschen hörbar gemacht.
Bois Sauvage ist der Name des fiktiven Ortes, an dem die Figuren dieses Romans zu Hause sind. Er klingt nach Hitze und nach Feuchtigkeit, nach wilden Tieren auch. Es ist ein Ort, an dem ein schwarzer Junge, der eine Wette gewinnt, vom weißen Verlierer erschossen werden kann, und ein Gericht entscheidet, es war ein Jagdunfall. Ein Ort, an dem dieser Junge seiner Schwester, wenn sie high ist, was häufig vorkommt, nach seinem Tod als Geist erscheint. Es ist ein Ort, an dem Menschen verschiedener Hautfarben, wenn sie jung sind, miteinander schlafen und sich lieben, weiße Menschen aber, wenn sie älter sind, darauf mit großem Hass reagieren. Das erfundene Bois Sauvage liegt im echten Mississippi.
Jesmyn Ward kennt die Gegend, sie ist dort aufgewachsen, und auch ihr erster Roman, "Vor dem Sturm", spielt hier. Es ist der Teil des Landes, an dem wie nirgendwo sonst alles, was Amerika erschüttert, zusammenkommt - der Rassismus, die Armut, die Opioidkatastrophe, das Gefängniselend. Die Spuren der Sklaverei wie die Nachwehen von Hurrikan Katrina. Die Legenden, die Schreie der Toten, die Erinnerungen an Hundejagden, an Vergewaltigungen, an Lynchmorde. Die Vergangenheit, die nicht vergangen ist.
Von diesem Ort bricht eine kleine Gesellschaft zu einer Fahrt zur Parchman Farm auf, so heißt mit Spitznamen das Gefängnis, aus dem Michael dieser Tage entlassen wird. Michael ist der Freund von Leonie und Vater ihrer Kinder Jojo und Kayla, die sie hinten ins Auto gepackt hat. Mit dabei ist noch ihre Freundin Misty. Die beiden verstehen sich nicht nur, weil Misty einen schwarzen und Leonie einen weißen Freund hat, sie also beide Männer anderer Hautfarbe lieben, sondern auch, weil sie gern high miteinander werden und immer eine, wenn die andere zögert, für Nachschub sorgt.
Es erzählen drei Figuren: Der zwölfjährige Jojo konzentriert sich auf seine Babyschwester Kayla, die so krank ist auf der Autofahrt, dass wir fürchten müssen, sie wird nicht überleben. Außerdem hat sich zwischen ihnen der Geist von Richie niedergelassen, der mit Jojos Großvater Pop einst in der Parchman Farm einsaß und wissen will, wie er auf seiner Flucht zu Tode kam. Jojo soll ihm helfen, das aus Pop herauszukriegen, wenn sie zurück sind. Jojo will ihn loswerden, will aber auch das Ende von Richies Geschichte hören, das ihm sein Großvater bisher nicht erzählt hat. Leonie wiederum denkt vor allem an Michael, daran, wie sie sich kennenlernten, wie sie sich lieben und dass sie eine Familie sind, selbst wenn sie sich für Familie eigentlich nicht besonders interessiert. Und sie denkt an ihre sterbende Mutter und an ihren toten Bruder Given, von dem sie wünschte, er wäre leibhaftig da. Richie wiederum beobachtet, was im Auto vorgeht, und erzählt, was im Gefängnis geschah und wie Pop es war, der ihn rettete. Und dann plötzlich verließ.
In diesen drei Erzählerstimmen verschwimmen die Erinnerungen mit den Ereignissen heute, werden der Verkehrspolizist, der Jojo Handschellen anlegt, und der Gefängnisaufseher, der Richie auspeitschte, zu Brüdern. Aber sie lieben einander nicht. Sie hassen nur gemeinsam. Liebe ist zwischen den anderen, zwischen Pop und Mam, Jojo und Kayla, Leonie und Michael, und Jesmyn Ward widmet sich ihnen mit geduldiger Zärtlichkeit. Was bedeutet, dass nicht nur das Elend, die Grausamkeit von Geschichte wie Gegenwart alle Aufmerksamkeit wert ist, sondern auch das, was in diesen Figuren durch Literatur zu retten war.
Jesmyn Ward: "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker. Kunstmann Verlag, München 2018. 300 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jesmyn Ward ist die Erbin von Faulkner und Toni Morrison. Ihr neuer Roman festigt diesen Ruf.
Von Verena Lueken
Körper in der Schwüle. Tiere, die miteinander sprechen. Pflanzen mit Heilkräften und Steine, die den Weg zum Tod weisen. Geister, die auf Bäumen wohnen oder plötzlich im Auto zwischen den anderen Passagieren sitzen. Ein Großvater, Pop, der versucht, seinem Enkel zu zeigen, dass ein schwarzer Mann außer drogenabhängig, gewalttätig oder Opfer von Gewalt auch noch etwas anderes sein kann, nämlich fürsorglich, vernünftig und vorausschauend. Eine Mutter, der das Muttergen fehlt. Ein Baby, das sich einen Großteil des Buchs lang erbricht und dann die Toten von den Bäumen nach Hause führt. Das Ganze geschrieben in einem Ton, in dem manchmal alttestamentarischer Zorn aufblitzt, meistens aber eine Form physischer Metaphorik die körperlichen Gegebenheiten auf fast unerträgliche Weise spürbar macht. Hunger. Durst. Schmerzen. Angst. Übelkeit. Rausch. Die Stimme, der wir folgen, ist von fern mit Faulkner verwandt, wenn sie näher kommt, mit Toni Morrison. Die Übersetzerin Ulrike Becker hat das auch im Deutschen hörbar gemacht.
Bois Sauvage ist der Name des fiktiven Ortes, an dem die Figuren dieses Romans zu Hause sind. Er klingt nach Hitze und nach Feuchtigkeit, nach wilden Tieren auch. Es ist ein Ort, an dem ein schwarzer Junge, der eine Wette gewinnt, vom weißen Verlierer erschossen werden kann, und ein Gericht entscheidet, es war ein Jagdunfall. Ein Ort, an dem dieser Junge seiner Schwester, wenn sie high ist, was häufig vorkommt, nach seinem Tod als Geist erscheint. Es ist ein Ort, an dem Menschen verschiedener Hautfarben, wenn sie jung sind, miteinander schlafen und sich lieben, weiße Menschen aber, wenn sie älter sind, darauf mit großem Hass reagieren. Das erfundene Bois Sauvage liegt im echten Mississippi.
Jesmyn Ward kennt die Gegend, sie ist dort aufgewachsen, und auch ihr erster Roman, "Vor dem Sturm", spielt hier. Es ist der Teil des Landes, an dem wie nirgendwo sonst alles, was Amerika erschüttert, zusammenkommt - der Rassismus, die Armut, die Opioidkatastrophe, das Gefängniselend. Die Spuren der Sklaverei wie die Nachwehen von Hurrikan Katrina. Die Legenden, die Schreie der Toten, die Erinnerungen an Hundejagden, an Vergewaltigungen, an Lynchmorde. Die Vergangenheit, die nicht vergangen ist.
Von diesem Ort bricht eine kleine Gesellschaft zu einer Fahrt zur Parchman Farm auf, so heißt mit Spitznamen das Gefängnis, aus dem Michael dieser Tage entlassen wird. Michael ist der Freund von Leonie und Vater ihrer Kinder Jojo und Kayla, die sie hinten ins Auto gepackt hat. Mit dabei ist noch ihre Freundin Misty. Die beiden verstehen sich nicht nur, weil Misty einen schwarzen und Leonie einen weißen Freund hat, sie also beide Männer anderer Hautfarbe lieben, sondern auch, weil sie gern high miteinander werden und immer eine, wenn die andere zögert, für Nachschub sorgt.
Es erzählen drei Figuren: Der zwölfjährige Jojo konzentriert sich auf seine Babyschwester Kayla, die so krank ist auf der Autofahrt, dass wir fürchten müssen, sie wird nicht überleben. Außerdem hat sich zwischen ihnen der Geist von Richie niedergelassen, der mit Jojos Großvater Pop einst in der Parchman Farm einsaß und wissen will, wie er auf seiner Flucht zu Tode kam. Jojo soll ihm helfen, das aus Pop herauszukriegen, wenn sie zurück sind. Jojo will ihn loswerden, will aber auch das Ende von Richies Geschichte hören, das ihm sein Großvater bisher nicht erzählt hat. Leonie wiederum denkt vor allem an Michael, daran, wie sie sich kennenlernten, wie sie sich lieben und dass sie eine Familie sind, selbst wenn sie sich für Familie eigentlich nicht besonders interessiert. Und sie denkt an ihre sterbende Mutter und an ihren toten Bruder Given, von dem sie wünschte, er wäre leibhaftig da. Richie wiederum beobachtet, was im Auto vorgeht, und erzählt, was im Gefängnis geschah und wie Pop es war, der ihn rettete. Und dann plötzlich verließ.
In diesen drei Erzählerstimmen verschwimmen die Erinnerungen mit den Ereignissen heute, werden der Verkehrspolizist, der Jojo Handschellen anlegt, und der Gefängnisaufseher, der Richie auspeitschte, zu Brüdern. Aber sie lieben einander nicht. Sie hassen nur gemeinsam. Liebe ist zwischen den anderen, zwischen Pop und Mam, Jojo und Kayla, Leonie und Michael, und Jesmyn Ward widmet sich ihnen mit geduldiger Zärtlichkeit. Was bedeutet, dass nicht nur das Elend, die Grausamkeit von Geschichte wie Gegenwart alle Aufmerksamkeit wert ist, sondern auch das, was in diesen Figuren durch Literatur zu retten war.
Jesmyn Ward: "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker. Kunstmann Verlag, München 2018. 300 S., geb., 22,- [Euro].
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