Aus dem dünnen Spalt zwischen der Einsamkeit des Übungsraums und der Anonymität der Orchesterreihen erscheinen Fantasien, Beobachtungen, gesellschaftliche Aphorismen. Das könnt ihr euch nicht vorstellen. Den Rausch, die Angst, den Herzschlag, den Atem, das Gefühl, die Hitze. Mit diesen Worten taucht "Singularkollektiv" in eine Welt, die jenseits des Glamours liegt, der gewöhnlich mit klassischer Musik verbunden wird. Eine Welt unter der dünnen Schicht von Frack und Fliege, in der das Orchester einer weiten Steppe gleicht, einem bahnhofslosen Ort. Wo es nach Blech und Öl, Holz und Schweiß riecht. Aus dem dünnen Spalt zwischen der Einsamkeit des Übungsraums und der Anonymität der Orchesterreihen, zwischen Musikbeamtentum und brotloser Kunst, dringen Fantasien, Beobachtungen, gesellschaftliche Aphorismen nach außen. Die Geigerin, die so tut, als ob sie spielt und ihre Stille Kunst feiert, der abgelehnte Posaunist, der um die Gunst eines neuen Generalmusikdirektors bangt. Der schlechte Cellist, der an seinem Cello wie ein Schiffbrüchiger hängt, der verspätete Geiger, auf den nicht gewartet wird. Die Scheinrealität einer Generalprobe. Die ungewöhnlichen Instrumente, die es in den Orchesterkanon nicht geschafft haben. Figuren und Momente, die der Orchesterwelt entstammen, aus dieser gleichzeitig herausragen als menschliche, gesellschaftliche Kommentare.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Johanna Adorján liest sich äußerst gern durch den Erzählband Ofer Waldmans, eines Autors, der früher selbst Orchestermusiker war und der nun einen Band mit Geschichten aus der Welt der klassischen Musik vorlegt. Da wäre etwa jene, berichtet Adorján, in der ein Beckenspieler auf eine Auslandstournee mitfährt, um nur ein einziges Mal aktiv ins musikalische Geschehen einzugreifen - und natürlich verpasst der Arme seinen Einsatz. Schön, so Adorján, dass Waldman Klassik nicht idealisiert, sondern in die Welt der Alltäglichkeit zurückholt, etwa, wenn er die kleinen Ängste und Sorgen seiner Musikerkollegen beschreibt. Viel Empathie hat er für Musiker, heißt es weiter, etwa für jenen Hornisten, der in einer Erzählung Angst bekommt, nicht mehr aus dem Schatten eines angesehenen Kollegen treten zu können. Insgesamt geht es laut Rezensentin oft melancholisch zu in diesem schönen Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Für einen einzigen Ton
Wie klingt es, wenn sich 16 Paar Augenbrauen synchron heben? Macht Üben einsam?
Der israelische Musiker und Schriftsteller Ofer Waldman erzählt melancholisch und sinnlich vom Leben im Orchester.
VON JOHANNA ADORJÁN
Im englischen Satiremagazin Punch erschien 1921 ein Cartoon, der Filmgeschichte schreiben sollte. Minutiös schildert er den Tagesablauf eines Mannes. Der wacht morgens auf, geht ins Bad, gurgelt, rasiert sich, kleidet sich an, geht eine Treppe nach unten, frühstückt, liest Zeitung. Dann geht er in ein anderes Zimmer, nimmt ein Blasinstrument aus einem Koffer, eine Mischung aus Oboe und Klarinette, übt.
Er packt das Instrument wieder ein, setzt sich einen Hut auf, verlässt das Haus, fährt Bus. Schließlich sehen wir ihn in einem Orchester sitzen, ganz oben links. Die Musiker stimmen ihre Instrumente, der Dirigent kommt, das Konzert beginnt. Unser kleiner Mann sitzt da und wartet, sein Instrument auf den Knien. Um ihn herum tobt Musik. Er sitzt und wartet. Sitzt, wartet. Schließlich nimmt er sein Instrument, macht sich bereit. Der Dirigent gibt den Einsatz. Er spielt einen Ton. Sammelt sich. Wirkt zufrieden. Während das Konzert weitergeht, schleicht er auf Zehenspitzen hinaus.
Er setzt sich den Hut auf, verlässt das Gebäude, fährt Bus. Zu Hause erwartet ihn das Abendessen. Er isst, raucht Pfeife, gähnt, geht hinauf, zieht sich für die Nacht um, putzt die Zähne, legt sich ins Bett, löscht das Licht, schläft.
„The One-Note Man“ hieß dieser entzückend gezeichnete Cartoon des englischen Illustrators Henry Mayo Bateman, der Alfred Hitchcock zu der berühmten Szene in „Der Mann, der zu viel wusste“ inspirierte, in dem ein Mann während eines Symphoniekonzerts in der Royal Albert Hall erschossen werden soll, und zwar genau in dem Moment, in dem ein Schlagzeuger das einzige Mal die Becken zusammenschlägt. Hitchcock hat das François Truffaut so erzählt, wobei er den Cartoon Bild für Bild wiedergab. Die Spannung rühre daher, dass man darauf warte, dass der Musiker endlich seinen einen Einsatz hat.
In Ofer Waldmans außergewöhnlichem Erzählband „Singularkollektiv“ findet sich eine noch dramatischere Zuspitzung derselben Geschichte. Ein Beckenspieler fährt mit seinem Orchester auf eine Tournee in ein fernes Land. Alle Werke, die auf dieser Tournee gespielt wurden, sehen, was die Schlagzeug-Besetzung angeht, nur einen Paukisten vor. Mit einer Ausnahme: Anton Bruckners 7. Sinfonie. Da gibt es im langsamen zweiten Satz einen einzigen Beckenschlag. Allein für diesen reiste der Beckenspieler also mit.
„Man könnte meinen“, schreibt Waldman: „Die Probenarbeit, das Packen des Koffers, der Visumantrag, die Duty-Free-Schokolade, der Wodka über den Wolken, das ziellose Zappen im Hotelfernseher, der Tropenwaldregenduschkopf, der Bus zum Konzertsaal, das während der Pause zwischen Generalprobe und Konzert gelesene Buch, das Anspannen der Hosenträger, der letzte Toilettenbesuch, das unbewusste Halbaufstehen, um den Frackschwanz hinter den Stuhl fallen zu lassen, das alles gehörte zum langen Ausholen zum Beckenschlag, gespannt über den halben Globus.“ Der Clou der Geschichte ist, dass der arme Beckenspieler schließlich seinen Einsatz verpasst. Er hat die Arme schon ausgeholt, zögert plötzlich, und der Moment ist vorbei. Die Geschichte taucht im Buch als Mythos auf. Niemand weiß, ob sie sich wirklich so zugetragen hat. Ausgeschlossen ist es nicht.
Bevor Ofer Waldman zu schreiben begann, war er Musiker, Hornist. Geboren 1979 in Jerusalem, spielte er in Orchestern wie dem West-Eastern Divan Orchester, dem der Deutschen Oper Berlin, dem des Bayerischen Staatstheaters Nürnberg oder dem Israel Philharmonic Orchestra. Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Haifa, schreibt Hörspiele und Essays; im Feuilleton dieser Zeitung erschien wenige Tage nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober ein Text von ihm, der die Hoffnung beschwor, am Abgrund dieses Zivilisationsbruchs die Menschlichkeit zu bewahren.
In seinem ersten Erzählband nimmt er den Leser mit in den Orchestergraben, setzt ihn direkt neben sich auf die Bühne und zeigt ihm, wie das Leben hier aussieht. Und: wie es klingt, sich anfühlt, wie es riecht. Musik ist bei ihm nicht so etwas lächerlich Prätentiöses wie in klassischen Radiosendern, wo die Moderatoren vor lauter Ehrfurcht vor dieser ach so erhabenen Kunst keinen normalen Satz rausbringen, statt spielen immerzu musizieren sagen, statt Musiker Virtuose, und finde da mal einen Dirigenten, der nicht mindestens als Maestro eine Sinfonie zu Gehör bringt. In der Welt der Klassikradios ist klassische Musik ein grausam wahr gewordener Loriot-Sketch.
Wie wohltuend ist es dagegen, wie Ofer Waldman, dieser musikalische Autor, über diese Kunst schreibt, die natürlich zuallererst ein Handwerk ist. „Gleich kommt’s, ich rieche mein Frackhemd“, heißt es in einer „Ouvertüre“, „ich rieche meinen Schweiß, ich rieche die Holzbretter des Grabens, das Öl des Horns, das Blech, das alte Notenpapier. Ich brauche eine Menge Luft für das tiefste Es, für das Klettern entlang des Es-Dur-Dreiklangs, bis zum ersten Gipfel, zum G. Ich atme aus, sechs Schläge, der Dirigent ist eine Silhouette in der Ferne, ich atme ein, der Körper voller Luft, Zunge hinter den Zähnen, feuchter Mund, runde Lippen, warmes Mundstück, ein Anstoß, mächtig und weich wie der Sonnenaufgang.“
Lesend hört man die Flötisten synchron einatmen, bemerkt mit dem Autor, dass die zweite Geigerin, die um ein Haar zu spät gekommen wäre, sich immer noch nicht wieder ganz beruhigt hat, nimmt sogar den leichten Angstschweiß des Trompeters wahr, dem ein bevorstehendes Solo zusetzt, und freut sich zusammen mit vielen anderen Musikern, dass nicht „Wozzeck“ auf dem Programm steht oder etwas ähnlich Abgehobenes für die paar Schlaumeier im Publikum. Es ist nämlich nicht so, dass Musiker immer alles mögen, was sie spielen, erfährt man bei Waldman: „Hornisten ertragen Verdi, und als Gegenleistung ertragen Geiger Bruckner.“
Ofer Waldman schreibt nicht über Musik, er schreibt über Musiker. Über ihre Sehnsüchte, Ambitionen, Enttäuschungen. Auch über Handfestes, das sie betrifft, etwa dass Orchestermusiker laut Tarifvertrag neben ihrem eigentlichen Instrument auch zum Spielen eines „ungewöhnlichen Instruments“ verpflichtet sind – für den Fall, dass ein Stück aufs Programm kommt, in dem Laute, Heckelphon oder Posthorn vorkommt.
Für seine ehemaligen Kollegen des Orchesters hat Ofer Waldman viel Liebe übrig. Voller Staunen beschreibt er beispielsweise das Wunder der ersten Geigen. Wie da 16 völlig unterschiedliche Männer und Frauen zu einer Einheit verschmelzen: „Am schönsten ist zu beobachten, wenn sie im schnellen Tempo ruckartig von einer Saite auf die andere wechseln, wie ein Fischschwarm“, schreibt er.
„Nicht nur sausen dann ihre Bögen in Formation, auch die Spieler selbst zucken in perfekter Harmonie – spielen sie zum Beispiel eine schnelle, aufsteigende Tonleiter (Mozart, Sinfonie Nr. 29 in G-Dur, 1. Satz), richten sie sich beim Saitenwechsel ruckartig auf, als ob alle gleichzeitig einen stechenden Schmerz in der Niere spürten. Geht die Tonleiter runter (wieder Mozart, Ende der Ouvertüre zur Oper Die Hochzeit des Figaro), scheinen sie sich beim Saitenwechsel zu ducken, als ob sie kollektiv den Klang eines Schusses vernommen hätten.“ In manchen Orchestern würden während eines tiefen Tremolos sogar 16 Paar Augenbrauen synchron zusammengezogen.
Eine Erzählung handelt von einem kleinstädtischen Orchester, das aushilfsweise einen Hornisten der Philharmoniker in seinen Reihen sitzen hat. Wie da etwas von dessen Glanz auf alle Musiker abfällt, wie sie sogar kollektiv besser spielen, und wie ehrfürchtig sie alle zuhören, wenn der Philharmoniker in der Kantine von Tourneen durch die große weite Welt erzählt. Der Philharmoniker weiß sogar noch, dass der Hornist des kleinstädtischen Orchesters als Student bei den Philharmonikern als Aushilfe spielte.
Die Erinnerung daran stürzt nun allerdings den kleinstädtischen Hornisten in eine tiefe Krise. Was hätte alles sein können und wird nun nie mehr sein … Noch Wochen später ist er von Nachdenklichkeit befallen, sitzt nach Proben und Vorstellungen allein im Orchestergraben und studiert die Konturen des vertrauten Saals wie zum ersten Mal, „die verschnörkelten Wölbungen der Loggien, das abgenutzte Samt des Geländers, das den Zuschauerraum vom Orchestergraben trennt, dieses Stück Welt, das zwischen den Mauern des Theaters eingefangen war“.
Hier scheint sie auf, die wunderschöne melancholische Grundstimmung, die sich durch Ofer Waldmans Buch zieht. Unter allen Geschichten, so unterschiedlich sie auch sind, liegt wie ein gehaltener tiefer Ton das Thema Einsamkeit, das sich natürlich durch jede Musikerbiografie zieht. Denn während andere draußen fröhlich Fußball spielten oder mit Freundinnen im Freibad lagen, gingen Kindheit und Jugend allein an der Geige, am Cello, an der Oboe dahin.
Weil gerade Hustensaison ist, sei abschließend noch die herrliche Erzählung „Aufmerksamkeit II“ erwähnt. Sie handelt von der älteren Dame, die jeder kennt, der jemals im Herbst oder Winter in einem Konzert war. Mit sparsamsten Mitteln gelingt es ihr, einen ganzen ausverkauften Saal in Atem zu halten, Orchester und Publikum gleichermaßen.
Alles, was sie dafür braucht, diese Virtuosin ihres Fachs, die, ihre Handtasche mit beiden Händen fest umklammernd mit Unschuldsmiene abzuwarten weiß, bis ihr Moment gekommen ist, sind ein paar Takte völliger Stille. Und ein in Cellophan eingewickeltes Hustenbonbon. Und das packt sie dann ganz vorsichtig aus.
„Hornisten
ertragen
Verdi, und als
Gegenleistung
ertragen
Geiger
Bruckner.“
Ofer Waldman:
Singularkollektiv.
Erzählungen. Wallstein, Göttingen 2023.
154 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie klingt es, wenn sich 16 Paar Augenbrauen synchron heben? Macht Üben einsam?
Der israelische Musiker und Schriftsteller Ofer Waldman erzählt melancholisch und sinnlich vom Leben im Orchester.
VON JOHANNA ADORJÁN
Im englischen Satiremagazin Punch erschien 1921 ein Cartoon, der Filmgeschichte schreiben sollte. Minutiös schildert er den Tagesablauf eines Mannes. Der wacht morgens auf, geht ins Bad, gurgelt, rasiert sich, kleidet sich an, geht eine Treppe nach unten, frühstückt, liest Zeitung. Dann geht er in ein anderes Zimmer, nimmt ein Blasinstrument aus einem Koffer, eine Mischung aus Oboe und Klarinette, übt.
Er packt das Instrument wieder ein, setzt sich einen Hut auf, verlässt das Haus, fährt Bus. Schließlich sehen wir ihn in einem Orchester sitzen, ganz oben links. Die Musiker stimmen ihre Instrumente, der Dirigent kommt, das Konzert beginnt. Unser kleiner Mann sitzt da und wartet, sein Instrument auf den Knien. Um ihn herum tobt Musik. Er sitzt und wartet. Sitzt, wartet. Schließlich nimmt er sein Instrument, macht sich bereit. Der Dirigent gibt den Einsatz. Er spielt einen Ton. Sammelt sich. Wirkt zufrieden. Während das Konzert weitergeht, schleicht er auf Zehenspitzen hinaus.
Er setzt sich den Hut auf, verlässt das Gebäude, fährt Bus. Zu Hause erwartet ihn das Abendessen. Er isst, raucht Pfeife, gähnt, geht hinauf, zieht sich für die Nacht um, putzt die Zähne, legt sich ins Bett, löscht das Licht, schläft.
„The One-Note Man“ hieß dieser entzückend gezeichnete Cartoon des englischen Illustrators Henry Mayo Bateman, der Alfred Hitchcock zu der berühmten Szene in „Der Mann, der zu viel wusste“ inspirierte, in dem ein Mann während eines Symphoniekonzerts in der Royal Albert Hall erschossen werden soll, und zwar genau in dem Moment, in dem ein Schlagzeuger das einzige Mal die Becken zusammenschlägt. Hitchcock hat das François Truffaut so erzählt, wobei er den Cartoon Bild für Bild wiedergab. Die Spannung rühre daher, dass man darauf warte, dass der Musiker endlich seinen einen Einsatz hat.
In Ofer Waldmans außergewöhnlichem Erzählband „Singularkollektiv“ findet sich eine noch dramatischere Zuspitzung derselben Geschichte. Ein Beckenspieler fährt mit seinem Orchester auf eine Tournee in ein fernes Land. Alle Werke, die auf dieser Tournee gespielt wurden, sehen, was die Schlagzeug-Besetzung angeht, nur einen Paukisten vor. Mit einer Ausnahme: Anton Bruckners 7. Sinfonie. Da gibt es im langsamen zweiten Satz einen einzigen Beckenschlag. Allein für diesen reiste der Beckenspieler also mit.
„Man könnte meinen“, schreibt Waldman: „Die Probenarbeit, das Packen des Koffers, der Visumantrag, die Duty-Free-Schokolade, der Wodka über den Wolken, das ziellose Zappen im Hotelfernseher, der Tropenwaldregenduschkopf, der Bus zum Konzertsaal, das während der Pause zwischen Generalprobe und Konzert gelesene Buch, das Anspannen der Hosenträger, der letzte Toilettenbesuch, das unbewusste Halbaufstehen, um den Frackschwanz hinter den Stuhl fallen zu lassen, das alles gehörte zum langen Ausholen zum Beckenschlag, gespannt über den halben Globus.“ Der Clou der Geschichte ist, dass der arme Beckenspieler schließlich seinen Einsatz verpasst. Er hat die Arme schon ausgeholt, zögert plötzlich, und der Moment ist vorbei. Die Geschichte taucht im Buch als Mythos auf. Niemand weiß, ob sie sich wirklich so zugetragen hat. Ausgeschlossen ist es nicht.
Bevor Ofer Waldman zu schreiben begann, war er Musiker, Hornist. Geboren 1979 in Jerusalem, spielte er in Orchestern wie dem West-Eastern Divan Orchester, dem der Deutschen Oper Berlin, dem des Bayerischen Staatstheaters Nürnberg oder dem Israel Philharmonic Orchestra. Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Haifa, schreibt Hörspiele und Essays; im Feuilleton dieser Zeitung erschien wenige Tage nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober ein Text von ihm, der die Hoffnung beschwor, am Abgrund dieses Zivilisationsbruchs die Menschlichkeit zu bewahren.
In seinem ersten Erzählband nimmt er den Leser mit in den Orchestergraben, setzt ihn direkt neben sich auf die Bühne und zeigt ihm, wie das Leben hier aussieht. Und: wie es klingt, sich anfühlt, wie es riecht. Musik ist bei ihm nicht so etwas lächerlich Prätentiöses wie in klassischen Radiosendern, wo die Moderatoren vor lauter Ehrfurcht vor dieser ach so erhabenen Kunst keinen normalen Satz rausbringen, statt spielen immerzu musizieren sagen, statt Musiker Virtuose, und finde da mal einen Dirigenten, der nicht mindestens als Maestro eine Sinfonie zu Gehör bringt. In der Welt der Klassikradios ist klassische Musik ein grausam wahr gewordener Loriot-Sketch.
Wie wohltuend ist es dagegen, wie Ofer Waldman, dieser musikalische Autor, über diese Kunst schreibt, die natürlich zuallererst ein Handwerk ist. „Gleich kommt’s, ich rieche mein Frackhemd“, heißt es in einer „Ouvertüre“, „ich rieche meinen Schweiß, ich rieche die Holzbretter des Grabens, das Öl des Horns, das Blech, das alte Notenpapier. Ich brauche eine Menge Luft für das tiefste Es, für das Klettern entlang des Es-Dur-Dreiklangs, bis zum ersten Gipfel, zum G. Ich atme aus, sechs Schläge, der Dirigent ist eine Silhouette in der Ferne, ich atme ein, der Körper voller Luft, Zunge hinter den Zähnen, feuchter Mund, runde Lippen, warmes Mundstück, ein Anstoß, mächtig und weich wie der Sonnenaufgang.“
Lesend hört man die Flötisten synchron einatmen, bemerkt mit dem Autor, dass die zweite Geigerin, die um ein Haar zu spät gekommen wäre, sich immer noch nicht wieder ganz beruhigt hat, nimmt sogar den leichten Angstschweiß des Trompeters wahr, dem ein bevorstehendes Solo zusetzt, und freut sich zusammen mit vielen anderen Musikern, dass nicht „Wozzeck“ auf dem Programm steht oder etwas ähnlich Abgehobenes für die paar Schlaumeier im Publikum. Es ist nämlich nicht so, dass Musiker immer alles mögen, was sie spielen, erfährt man bei Waldman: „Hornisten ertragen Verdi, und als Gegenleistung ertragen Geiger Bruckner.“
Ofer Waldman schreibt nicht über Musik, er schreibt über Musiker. Über ihre Sehnsüchte, Ambitionen, Enttäuschungen. Auch über Handfestes, das sie betrifft, etwa dass Orchestermusiker laut Tarifvertrag neben ihrem eigentlichen Instrument auch zum Spielen eines „ungewöhnlichen Instruments“ verpflichtet sind – für den Fall, dass ein Stück aufs Programm kommt, in dem Laute, Heckelphon oder Posthorn vorkommt.
Für seine ehemaligen Kollegen des Orchesters hat Ofer Waldman viel Liebe übrig. Voller Staunen beschreibt er beispielsweise das Wunder der ersten Geigen. Wie da 16 völlig unterschiedliche Männer und Frauen zu einer Einheit verschmelzen: „Am schönsten ist zu beobachten, wenn sie im schnellen Tempo ruckartig von einer Saite auf die andere wechseln, wie ein Fischschwarm“, schreibt er.
„Nicht nur sausen dann ihre Bögen in Formation, auch die Spieler selbst zucken in perfekter Harmonie – spielen sie zum Beispiel eine schnelle, aufsteigende Tonleiter (Mozart, Sinfonie Nr. 29 in G-Dur, 1. Satz), richten sie sich beim Saitenwechsel ruckartig auf, als ob alle gleichzeitig einen stechenden Schmerz in der Niere spürten. Geht die Tonleiter runter (wieder Mozart, Ende der Ouvertüre zur Oper Die Hochzeit des Figaro), scheinen sie sich beim Saitenwechsel zu ducken, als ob sie kollektiv den Klang eines Schusses vernommen hätten.“ In manchen Orchestern würden während eines tiefen Tremolos sogar 16 Paar Augenbrauen synchron zusammengezogen.
Eine Erzählung handelt von einem kleinstädtischen Orchester, das aushilfsweise einen Hornisten der Philharmoniker in seinen Reihen sitzen hat. Wie da etwas von dessen Glanz auf alle Musiker abfällt, wie sie sogar kollektiv besser spielen, und wie ehrfürchtig sie alle zuhören, wenn der Philharmoniker in der Kantine von Tourneen durch die große weite Welt erzählt. Der Philharmoniker weiß sogar noch, dass der Hornist des kleinstädtischen Orchesters als Student bei den Philharmonikern als Aushilfe spielte.
Die Erinnerung daran stürzt nun allerdings den kleinstädtischen Hornisten in eine tiefe Krise. Was hätte alles sein können und wird nun nie mehr sein … Noch Wochen später ist er von Nachdenklichkeit befallen, sitzt nach Proben und Vorstellungen allein im Orchestergraben und studiert die Konturen des vertrauten Saals wie zum ersten Mal, „die verschnörkelten Wölbungen der Loggien, das abgenutzte Samt des Geländers, das den Zuschauerraum vom Orchestergraben trennt, dieses Stück Welt, das zwischen den Mauern des Theaters eingefangen war“.
Hier scheint sie auf, die wunderschöne melancholische Grundstimmung, die sich durch Ofer Waldmans Buch zieht. Unter allen Geschichten, so unterschiedlich sie auch sind, liegt wie ein gehaltener tiefer Ton das Thema Einsamkeit, das sich natürlich durch jede Musikerbiografie zieht. Denn während andere draußen fröhlich Fußball spielten oder mit Freundinnen im Freibad lagen, gingen Kindheit und Jugend allein an der Geige, am Cello, an der Oboe dahin.
Weil gerade Hustensaison ist, sei abschließend noch die herrliche Erzählung „Aufmerksamkeit II“ erwähnt. Sie handelt von der älteren Dame, die jeder kennt, der jemals im Herbst oder Winter in einem Konzert war. Mit sparsamsten Mitteln gelingt es ihr, einen ganzen ausverkauften Saal in Atem zu halten, Orchester und Publikum gleichermaßen.
Alles, was sie dafür braucht, diese Virtuosin ihres Fachs, die, ihre Handtasche mit beiden Händen fest umklammernd mit Unschuldsmiene abzuwarten weiß, bis ihr Moment gekommen ist, sind ein paar Takte völliger Stille. Und ein in Cellophan eingewickeltes Hustenbonbon. Und das packt sie dann ganz vorsichtig aus.
„Hornisten
ertragen
Verdi, und als
Gegenleistung
ertragen
Geiger
Bruckner.“
Ofer Waldman:
Singularkollektiv.
Erzählungen. Wallstein, Göttingen 2023.
154 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»ein schönes Buch« (Gabi Szarvas, WDR5, 02.09.2023) »Eine traurigschöne Geschichte. Waldmans Buch ist voll davon.« (Ronald Meyer-Arlt, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 04.10.2023) »Erzählungen aus dem Innenleben eines Orchesters, auf authentische und humorvolle Art erzählt.« (SWR2 Treffpunkt Klassik, 06.10.2023) »Ofer Waldman erzählt melancholisch und sinnlich vom Leben im Orchester.« (Johanna Adorján, Süddeutsche Zeitung, 21.11.2023) »lesenswerte(r) Schatz« (Raphaela Hag, Concerti, 05.12.2023) »bedenkenswert, kurios, aufwühlend« (Raphaela Hag, Concerti, 05.12.2023) »sehr menschliche Einblicke ins Orchesterleben« (Bernhard Hartmann, Bonner General-Anzeiger, 03.02.2024) »Die Geschichte ist, unabhängig davon, ob ihr Erzähler, der ehemalige Hornist Ofer Waldmann, sie erfunden hat oder ob sie sich tatsächlich so zugetragen hat, schlichtweg grandios.« (Jürgen Otten, Opernwelt, 09.2024)