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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika am Beispiel des Togo-Skandals
Eine scheinbare Provinzposse in Togo ist Ausgangspunkt der Untersuchung. Der ledige Vorsteher der kleinen Verwaltungsstation Atakpame, Georg Schmidt, nimmt im Herbst 1901 die etwa zwölf- bis vierzehnjährige Adjaro Nyakuda in seinen Haushalt auf. Die enge Gemeinschaft der beiden erzürnt den Leiter der Steyler Mission, Franz Müller. Wechselseitige Vorwürfe zwischen Müller und Schmidt erfassen immer neue Bereiche und steigern sich zu Klagen und einem Gerichtsverfahren, in dessen Verlauf die Steyler Missionare sechs Wochen festgesetzt und erst nach Intervention des Gouverneurs freigelassen werden.
Anstoß nehmen die Missionare auch an der strengen Verwaltungspraxis des Kolonialbeamten, der zur Durchsetzung der ihm gesteckten Ziele, Straßen- und Eisenbahnbau, Anlage einer großen Baumwollplantage, energisch Prügelstrafen und Zwangsarbeit einsetzt. Schmidt seinerseits vermutet die Missionare als treibende Kraft hinter dem Widerstand und den Forderungen der Eingeborenen, die ihre Beschwerden und Forderungen an den Gouverneur und den Reichstag senden. Diesen Mikrokosmos in Atakpame analysiert Rebecca Habermas gründlich und engagiert in seinen gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen, sozialen und historischen Verästelungen vor Ort und in seiner medialen Behandlung, einerseits im "Gold Coast Leader", der Zeitung der indigenen Oberschicht in Lome und der benachbarten britischen Goldküste, andererseits in deutschen Zeitungen und Zeitschriften und im Berliner Reichstag.
Ihre Darstellung leitet aus der Lage in Atakpame Erkenntnisse ab, die generell für die Verwaltung der Kolonien, auch anderer Staaten, gelten. Die Zielvorgaben für Kolonialbeamte und Missionare sind häufig unrealistisch. Die Einführung europäischer Normen, ebenso die Auflösung der Polygamie und der gewachsenen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen führen oft zu passivem Widerstand oder Wegzug. Die Belastungen der Kolonialbeamten, meist in einer Person für Verwaltung, Rechtsprechung und Normsetzung zuständig, ergeben sich allein schon aus der knappen Personalausstattung. Hinzu kommen sprachliche Hürden. Während die Missionare zur Erfüllung ihres Sendungsauftrags sich durchweg bemühen, schnell die indigenen Sprachen zu erlernen, sind Kolonialbeamte eher abhängig von der sprachlichen Vermittlung einheimischer Hilfskräfte.
Unterschwellig sind Konflikte zwischen Kolonialbeamten und Missionaren auch vorgegeben durch unterschiedliche Herkunft und Ausbildung, Beamte sind zumeist wissenschaftlich ausgebildet, Missionare eher den Handwerkern zugehörig. Auch der Kulturkampf wirkt zwischen protestantischen Reichsbeamten und katholischen Missionaren mitunter noch nach. Einen besonderen Schwerpunkt setzt Habermas in die mediale Behandlung und Wirkung der Konflikte in Lome und in Deutschland. An der britischen Goldküste und in Lome verfolgte eine schmale Schicht indigener gebildeter Kaufleute, oft Afrobrasilianer mit direkten Beziehungen zu London und dem amerikanischen Kontinent, die Missstände der Kolonialverwaltung aufmerksam und rügte sie in der Zeitung vor Ort und in Petitionen an den Gouverneur und an den Reichstag.
Die mediale Behandlung in Deutschland fasst Habermas in dem Begriff des "beredten Schweigens" zusammen. Er meint die mediale Vereinfachung vielschichtiger komplexer Abläufe und Beziehungen, die zu griffigen Schlagworten verkürzt und so stark vereinfacht werden, dass eine objektive Bewertung kaum noch möglich ist. Die Zentrumsfraktion im Reichstag war aufgrund vielfältiger persönlicher Kontakte mit der Steyler Mission bestens über die Vorkommnisse in Atakpame unterrichtet. Der titelgebende "Skandal in Togo" wurde von der Steyler Mission und dem Zentrum seit Sommer 1906 sorgsam inszeniert. Er gipfelte am 3. Dezember 1906 in der Reichstagsrede des Zentrumsabgeordneten Hermann Roeren, der schwerste Vorwürfe gegen den Stationsvorsteher Georg Schmidt erhob und seine Abberufung verlangte. Doch Schmidt war zu diesem Zeitpunkt bereits als Bezirksamtmann in Kamerun eingesetzt.
In der medialen Verkürzung der Sachverhalte sieht Habermas "ein kulturelles Leugnen, eine ungeschriebene Übereinkunft darüber, was öffentlich erinnert und wahrgenommen werden kann und was nicht". Es müsse "von einem mehr oder minder von allen im Kaiserreich geteilten kolonialen common sense ausgegangen werden". Dieser wirke "wie ein Filter, der nur die Deutungen durchließ, die innerhalb des Sag- und damit auch Denkbaren lagen". Im kaiserlichen Deutschland sei das Bild unterschiedlich abgestufter Rassen verfestigt gewesen. Eine indigene Oberschicht in Togo, wie die afrobrasilianischen Kaufleute, die ihre Kinder zur Schulausbildung nach England schicken und englische Rechtsanwälte mit der Durchsetzung ihrer Forderungen beauftragen, übersteige den deutschen Vorstellungshorizont ebenso wie die "Ohnmachts- und Angstgefühle der Kolonialbeamten" und deren "nicht nur sexuelle, sondern auch emotionale Nähe zu manchen Afrikanerinnen". Diese Überhöhung bereits bekannter Einsichten lässt den Rezensenten ratlos zurück.
HANS JOCHEN PRETSCH
Rebekka Habermas: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 391 S., 25,- [Euro].
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