Erst sind es Kleinigkeiten: Konrad Lang legt aus Versehen seine Brieftasche in den Kühlschrank. Bald vergisst er den Namen der Frau, die er heiraten will. Je mehr Neugedächtnis ihm die Krankheit Alzheimer raubt, desto stärker kommen früheste Erinnerungen auf. Und das beunruhigt eine millionenschwere alte Dame, mit der Konrad seit seiner Kindheit auf die ungewöhnlichste Art verbunden ist.
»Martin Suter gilt als Meister einer eleganten Feder, die so fein geschliffen ist, dass man die Stiche oft erst hinterher spürt.« Monika Willer / Westfalenpost Westfalenpost
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.1997Pflegeschwester Simone
Zum Lachen und Weinen: Martin Suter bereist die Vergangenheit
Vom Leben der reichen Leute in der Schweiz berichtet Martin Suter in schlichtem Fibelstil: "In Elviras Frühstückszimmer waren die Fenster offen. Die Nachmittagssonne schien tief hinein bis zum kleinen Sofa, wo sie mit Dr. Stäubli saß." Das Mobiliar ist kostspielig, die Aussicht prächtig, der Himmel tiefblau, ein kühlendes Lüftchen weht, und so oft es sich einrichten läßt, duftet es hier nach Lindenblüten und Heckenrosen. Es ist wie im Märchen: "Auf beiden Seiten der Straße vor der ,Villa Rhododendron' parkten frisch gewaschene Autos, keines unter hunderttausend Franken."
Die böse Stiefmutter in diesem Märchen heißt Elvira Senn. Sie ist das steinreiche Oberhaupt einer Industriellendynastie, streng gegen sich und die Welt, verkniffen und verbittert und, zum Zeichen ihrer Verderbtheit, mehrfach geliftet. Dem tumben, aber herzensguten Stiefsohn Konrad fällt die Rolle eines männlichen Aschenputtels zu, während Elviras ungeratener Sohn Thomas sein Leben als Frühstücksdirektor und alternder Playboy vertändelt, der seinen Stiefbruder zeitlebens kujoniert hat. Und weil es wie im Märchen zugeht, steht unverrückbar fest, wer der Gute ist und wer die Bösen sind. Zu den Bösen gesellt sich später noch Elviras geldgieriger Enkel Urs; seine Frau Simone jedoch schlägt sich auf die gute Seite Konrads.
Wer aufs Schlimmste gefaßt ist und den Klappentext gelesen hat ("Die bewegende Geschichte eines Mannes, den es auf ungewöhnliche Weise in seine Vergangenheit zieht. Zu einem dramatischen Geheimnis"), wird ahnen, wie das Märchen ausgeht. Gegen den Widerstand der bösen Stiefmutter entlockt die gute Simone dem regredierenden, pflegebedürftigen, zusehends alzheimerisierten Konrad Kindheitserinnerungen und lüftet schließlich das jahrzehntelang gehütete Familiengeheimnis: Nicht Konrad, sondern Thomas ist der Stiefsohn, und von Rechts wegen standen die Liebe und das Erbe der Mutter immer Konrad zu.
Der Schweizer Schriftsteller Martin Suter, geboren 1948 in Zürich, hat sich für das älteste aller Hintertreppenroman-Motive entschieden, und das Märchen entwickelt sich unaufhaltsam zur süßsauren Sozialschnulze. Die Wahrheit über die vertauschten Kinder wird erst nach 292 Seiten enthüllt, obwohl sie von Anfang an auf der Hand liegt. Auch ein Attentat auf den Helden und die Frage, ob das neue Alzheimer-Medikament bei ihm anschlägt, können dem Roman keine Spannung mehr verleihen. Vom Verlag wird er als "Fallstudie, Gesellschaftsroman und Thriller in einem" vorgestellt, aber ein Thriller, dessen Verlauf und Ausgang man schon kennt, wenn man gerade erst mit der Lektüre begonnen hat, ist kein Thriller.
Auch als Gesellschaftsroman läßt "Small World" zu wünschen übrig; es sei denn, man läßt es als punktgenaue Sozialkritik durchgehen, wenn von Menschen die Rede ist, die sich eines Tages auf die Suche nach einer Nische in der Welt begaben, "wo es nicht so kalt war wie bei reichen Leuten . . ." Bei reichen Leuten ist es kalt; bei armen warm. Diese sind sich von Herzen zugetan: "Beide tanzten im Geflimmer, bis sie nicht mehr konnten vor Lachen und Weinen und Glück." Jene aber fristen ihr Dasein in Villen, vor denen frisch gewaschene Limousinen parken, wie es für reiche Leute typisch ist. Doch das viele Geld macht die reichen Leute nicht glücklich. Das ist die rührende Moral von der Geschichte, nicht anders als im Kolportageroman des neunzehnten Jahrhunderts, der für ein besinnungslos von jähen Erbschaften und beglückenden Tänzen im Geflimmer träumendes Publikum geschrieben wurde.
Am Ende, versteht sich, wird Konrad geheilt, das an ihm erfolgreich erprobte Alzheimer-Medikament wird zugelassen, Konrads aufopferungsvolle Pflegeschwester Simone läßt sich von ihrem garstigen Gatten scheiden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute in der Vergangenheit. GERHARD HENSCHEL
Martin Suter: "Small World". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1997. 324 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Lachen und Weinen: Martin Suter bereist die Vergangenheit
Vom Leben der reichen Leute in der Schweiz berichtet Martin Suter in schlichtem Fibelstil: "In Elviras Frühstückszimmer waren die Fenster offen. Die Nachmittagssonne schien tief hinein bis zum kleinen Sofa, wo sie mit Dr. Stäubli saß." Das Mobiliar ist kostspielig, die Aussicht prächtig, der Himmel tiefblau, ein kühlendes Lüftchen weht, und so oft es sich einrichten läßt, duftet es hier nach Lindenblüten und Heckenrosen. Es ist wie im Märchen: "Auf beiden Seiten der Straße vor der ,Villa Rhododendron' parkten frisch gewaschene Autos, keines unter hunderttausend Franken."
Die böse Stiefmutter in diesem Märchen heißt Elvira Senn. Sie ist das steinreiche Oberhaupt einer Industriellendynastie, streng gegen sich und die Welt, verkniffen und verbittert und, zum Zeichen ihrer Verderbtheit, mehrfach geliftet. Dem tumben, aber herzensguten Stiefsohn Konrad fällt die Rolle eines männlichen Aschenputtels zu, während Elviras ungeratener Sohn Thomas sein Leben als Frühstücksdirektor und alternder Playboy vertändelt, der seinen Stiefbruder zeitlebens kujoniert hat. Und weil es wie im Märchen zugeht, steht unverrückbar fest, wer der Gute ist und wer die Bösen sind. Zu den Bösen gesellt sich später noch Elviras geldgieriger Enkel Urs; seine Frau Simone jedoch schlägt sich auf die gute Seite Konrads.
Wer aufs Schlimmste gefaßt ist und den Klappentext gelesen hat ("Die bewegende Geschichte eines Mannes, den es auf ungewöhnliche Weise in seine Vergangenheit zieht. Zu einem dramatischen Geheimnis"), wird ahnen, wie das Märchen ausgeht. Gegen den Widerstand der bösen Stiefmutter entlockt die gute Simone dem regredierenden, pflegebedürftigen, zusehends alzheimerisierten Konrad Kindheitserinnerungen und lüftet schließlich das jahrzehntelang gehütete Familiengeheimnis: Nicht Konrad, sondern Thomas ist der Stiefsohn, und von Rechts wegen standen die Liebe und das Erbe der Mutter immer Konrad zu.
Der Schweizer Schriftsteller Martin Suter, geboren 1948 in Zürich, hat sich für das älteste aller Hintertreppenroman-Motive entschieden, und das Märchen entwickelt sich unaufhaltsam zur süßsauren Sozialschnulze. Die Wahrheit über die vertauschten Kinder wird erst nach 292 Seiten enthüllt, obwohl sie von Anfang an auf der Hand liegt. Auch ein Attentat auf den Helden und die Frage, ob das neue Alzheimer-Medikament bei ihm anschlägt, können dem Roman keine Spannung mehr verleihen. Vom Verlag wird er als "Fallstudie, Gesellschaftsroman und Thriller in einem" vorgestellt, aber ein Thriller, dessen Verlauf und Ausgang man schon kennt, wenn man gerade erst mit der Lektüre begonnen hat, ist kein Thriller.
Auch als Gesellschaftsroman läßt "Small World" zu wünschen übrig; es sei denn, man läßt es als punktgenaue Sozialkritik durchgehen, wenn von Menschen die Rede ist, die sich eines Tages auf die Suche nach einer Nische in der Welt begaben, "wo es nicht so kalt war wie bei reichen Leuten . . ." Bei reichen Leuten ist es kalt; bei armen warm. Diese sind sich von Herzen zugetan: "Beide tanzten im Geflimmer, bis sie nicht mehr konnten vor Lachen und Weinen und Glück." Jene aber fristen ihr Dasein in Villen, vor denen frisch gewaschene Limousinen parken, wie es für reiche Leute typisch ist. Doch das viele Geld macht die reichen Leute nicht glücklich. Das ist die rührende Moral von der Geschichte, nicht anders als im Kolportageroman des neunzehnten Jahrhunderts, der für ein besinnungslos von jähen Erbschaften und beglückenden Tänzen im Geflimmer träumendes Publikum geschrieben wurde.
Am Ende, versteht sich, wird Konrad geheilt, das an ihm erfolgreich erprobte Alzheimer-Medikament wird zugelassen, Konrads aufopferungsvolle Pflegeschwester Simone läßt sich von ihrem garstigen Gatten scheiden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute in der Vergangenheit. GERHARD HENSCHEL
Martin Suter: "Small World". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1997. 324 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Für mich ist Martin Suter tatsächlich die Entdeckung des Herbstes und Small World einer der einfühlsamsten und zugleich spannendsten Romane, die ich in den letzten Monaten gelesen habe. ... Eine wunderbare, zarte Liebesgeschichte; eine liebevolle, todtraurige und absolut realistische Alzheimer-Geschichte, und auch ein Krimi, der seine Spannung bis zu den letzten Seiten behält und behalten soll. ... Ein sehr gut recherchierter Roman, sehr einfühlsam und anrührend, geschrieben in einer präzisen, unverschnörkelten Sprache."
(Süddeutscher Rundfunk)
"Genau recherchiert, sprachlich präzis und raffiniert erzählt. Dramatisch geschickt verflicht Suter eine Krankengeschichte mit einer Kriminalstory. Literarisch weit über die Schweiz hinausweisend."
(Süddeutsche Zeitung)
(Süddeutscher Rundfunk)
"Genau recherchiert, sprachlich präzis und raffiniert erzählt. Dramatisch geschickt verflicht Suter eine Krankengeschichte mit einer Kriminalstory. Literarisch weit über die Schweiz hinausweisend."
(Süddeutsche Zeitung)