Tom Smith und Jerry Wesson haben mit der Waffenfabrik nur die Nachnamen gemein. Echte Abenteurer brauchen keine Waffen. Die Habenichtse lernen sich bei den Niagarafällen kennen, wo sich der eine als Erfinder und Meteorologe, der andere als »Leichenfischer« verdingt. Und dann ist da noch die Journalistin Rachel, die der erste Mensch sein will, der einen Sturz von den Fällen überlebt. Zu dritt wollen sie der Welt eine unvergessliche Geschichte liefern und zu Helden werden. Die Niagarafälle - spektakuläres Naturereignis, irdisches Paradies und mythischer Ort. Sie haben die Phantasie vieler Schriftsteller beflügelt, auch wenn Charles Dickens sagte, dass »jedes Wort über diesen wundervollen Ort nur reiner Unsinn sein könnte«. Als Tom, Jerry und Rachel sich begegnen, hat jeder seinen eigenen Vorteil im Sinn. Um Schlagzeilen zu schreiben, bedarf es einer tollkühnen Tat - und vertrauenswürdiger Helfer. Rachel will sich in einem Holzfass die Wasserfälle hinunterzustürzen und diesen Sturz als erster Mensch überleben. Doch ihr Plan geht nicht auf.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2017Tom und Jerry sind auch da
Abgründig komisch: Alessandro Bariccos Szenenfolge "Smith & Wesson"
Sie heißen Smith und Wesson: Der eine ist ein Erfinder, der sich in Wetterstatistik versucht, der andere langjähriger Leichenfischer von Selbstmördern. Im Jahre 1902 lassen sie sich an den Niagarafällen in einer ungewissen Existenz treiben, warten in ihrer Hütte wie Becketts Vladimir und Estragon, reden übers Wetter oder Mrs. Higgins, die Hotelbetreiberin, die ihre Reize an den Mann zu bringen versteht. Bis Rachel hereingestolpert kommt: Um den Scoop zu schaffen, den sie für ihren Traumberuf Journalistin braucht, will die junge Frau einen Sturz die Wasserfälle hinab überleben. Die Sache hat sie bereits im "San Fernando Chronicle" reißerisch angekündigt.
Spätestens seit dem Erfolg seines Kurzromans "Seide" (1996) ist der italienische Schriftsteller, Journalist und Dramatiker Alessandro Baricco dem internationalen Publikum ein Begriff: Seine lakonischen Texte, im literarischen Koordinatensystem irgendwo zwischen Flaubert, Beckett und dem japanischen Haiku angesiedelt, sind so berührend wie abgründig komisch. Ihre architektonisches Raffinement verrät neben einem soliden Sinn fürs Handwerkliche auch die Freude an Präzisionsarbeit, das hat zuletzt der Roman "Mr. Gwyn" belegt, der auf elegante Weise vorgeführt hat, wie ein Schriftsteller sich selbst auslöscht. Mit "Smith & Wesson" legt Baricco jetzt ein Theaterstück vor, das sich ebenso gut als dialogische Novelle lesen lässt. Einer musikalischen Komposition analog, besteht es aus acht "Sätzen" nebst Tempoangaben. Dieses Tempo nimmt zu, die Handlung wird zunehmend dramatisch. Die drei Figuren schmieden einen Plan: Smith erfindet das Transportmittel, eine Biertonne mit Sitzgelegenheit und Polsterung; der Tango einer Spieluhr misst den zur Verfügung stehenden Sauerstoff. Der Niagara-Experte Wesson plant die sicherste Route die Fälle hinab. Rachel rührt die Werbetrommel und sichert die Vermarktung - es ist ja nicht so, dass unsere Helden in Dollars schwämmen. Perfekt ist der Plan jedoch nicht: Die Tonne wird tief und lange unter Wasser tauchen, es steht aber kaum Sauerstoff zu Verfügung; Rachel riskiert ihr Leben und bekommt es mit der Angst zu tun. Doch es hilft alles nichts: Der große Tag kommt.
Baricco führt uns drei Originale vor, die nichts zu verlieren haben. Die für ihr Alter ungewöhnlich abgeklärte Rachel weiß das: "Wir hatten große Erwartungen an das Leben, und wir haben nichts zustande gebracht, wir sind dabei, ins Nichts abzurutschen, und das tun wir am Arsch der Welt, in einem miesen Loch, wo ein herrlicher Wasserfall uns jeden Tag daran erinnert, dass die Erbärmlichkeit eine Erfindung des Menschen ist und die Großartigkeit der normale Lauf der Welt." Rachel, die auch die miserable Lage ihrer Gefährten besser kennt, als diesen lieb sein kann, ist das dynamische Element, sie stachelt Smith und Wesson dazu an, sich daraus zu befreien. Freilich ist der Befreiungsschlag von mäßigem Erfolg gekrönt.
Was ernüchternd klingt, ist abgründig komisch, wozu schon die Namen der Figuren beitragen: Natürlich handelt es sich nicht um die Gründer der berühmten Waffenfabrik; als sie zur Klärung ihre Vornamen nennen - Tom Smith und Jerry Wesson -, ist der Slapstick perfekt. In der Diskretion witziger sind Ironie und komische Kontraste, etwa in Smith' eigenartigem Charakter, der zwischen Überkorrektheit und Vulgarität schwankt. Baricco pflegt einen Humor, den die Franzosen "pince-sans-rire" nennen würden: Er verbirgt sich unter einer unbewegten Oberfläche. Ebenfalls lakonisch und anrührend obendrein sind schließlich lyrische Momente, etwa wenn unsere drei Abenteurer in der Nacht vor dem großen Sprung die Ereignisse jedes 21. Juni zwischen 1878 und 1901 Revue passieren lassen ("Nocturne, Largo").
Ob lyrische, komische, verzweifelte oder dramatische Passagen: Bei Baricco wird der Leser gepackt. Aufmerksamkeit auf allen Ebenen ist dabei Ehrensache, das gibt uns Smith zu verstehen. "Hören Sie, Worte sind kleine, höchst präzise Apparaturen, glauben Sie mir, wenn einer sie nicht zu benutzen weiß, sollte er sie nicht benutzen." Der Leser dankt Baricco, dessen Apparaturen ein wunderschönes Ballett am Rande des Abgrunds tanzen.
NIKLAS BENDER
Alessandro Baricco:
"Smith & Wesson".
Aus dem Italienischen
von Annette Kopetzki.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2017. 112 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abgründig komisch: Alessandro Bariccos Szenenfolge "Smith & Wesson"
Sie heißen Smith und Wesson: Der eine ist ein Erfinder, der sich in Wetterstatistik versucht, der andere langjähriger Leichenfischer von Selbstmördern. Im Jahre 1902 lassen sie sich an den Niagarafällen in einer ungewissen Existenz treiben, warten in ihrer Hütte wie Becketts Vladimir und Estragon, reden übers Wetter oder Mrs. Higgins, die Hotelbetreiberin, die ihre Reize an den Mann zu bringen versteht. Bis Rachel hereingestolpert kommt: Um den Scoop zu schaffen, den sie für ihren Traumberuf Journalistin braucht, will die junge Frau einen Sturz die Wasserfälle hinab überleben. Die Sache hat sie bereits im "San Fernando Chronicle" reißerisch angekündigt.
Spätestens seit dem Erfolg seines Kurzromans "Seide" (1996) ist der italienische Schriftsteller, Journalist und Dramatiker Alessandro Baricco dem internationalen Publikum ein Begriff: Seine lakonischen Texte, im literarischen Koordinatensystem irgendwo zwischen Flaubert, Beckett und dem japanischen Haiku angesiedelt, sind so berührend wie abgründig komisch. Ihre architektonisches Raffinement verrät neben einem soliden Sinn fürs Handwerkliche auch die Freude an Präzisionsarbeit, das hat zuletzt der Roman "Mr. Gwyn" belegt, der auf elegante Weise vorgeführt hat, wie ein Schriftsteller sich selbst auslöscht. Mit "Smith & Wesson" legt Baricco jetzt ein Theaterstück vor, das sich ebenso gut als dialogische Novelle lesen lässt. Einer musikalischen Komposition analog, besteht es aus acht "Sätzen" nebst Tempoangaben. Dieses Tempo nimmt zu, die Handlung wird zunehmend dramatisch. Die drei Figuren schmieden einen Plan: Smith erfindet das Transportmittel, eine Biertonne mit Sitzgelegenheit und Polsterung; der Tango einer Spieluhr misst den zur Verfügung stehenden Sauerstoff. Der Niagara-Experte Wesson plant die sicherste Route die Fälle hinab. Rachel rührt die Werbetrommel und sichert die Vermarktung - es ist ja nicht so, dass unsere Helden in Dollars schwämmen. Perfekt ist der Plan jedoch nicht: Die Tonne wird tief und lange unter Wasser tauchen, es steht aber kaum Sauerstoff zu Verfügung; Rachel riskiert ihr Leben und bekommt es mit der Angst zu tun. Doch es hilft alles nichts: Der große Tag kommt.
Baricco führt uns drei Originale vor, die nichts zu verlieren haben. Die für ihr Alter ungewöhnlich abgeklärte Rachel weiß das: "Wir hatten große Erwartungen an das Leben, und wir haben nichts zustande gebracht, wir sind dabei, ins Nichts abzurutschen, und das tun wir am Arsch der Welt, in einem miesen Loch, wo ein herrlicher Wasserfall uns jeden Tag daran erinnert, dass die Erbärmlichkeit eine Erfindung des Menschen ist und die Großartigkeit der normale Lauf der Welt." Rachel, die auch die miserable Lage ihrer Gefährten besser kennt, als diesen lieb sein kann, ist das dynamische Element, sie stachelt Smith und Wesson dazu an, sich daraus zu befreien. Freilich ist der Befreiungsschlag von mäßigem Erfolg gekrönt.
Was ernüchternd klingt, ist abgründig komisch, wozu schon die Namen der Figuren beitragen: Natürlich handelt es sich nicht um die Gründer der berühmten Waffenfabrik; als sie zur Klärung ihre Vornamen nennen - Tom Smith und Jerry Wesson -, ist der Slapstick perfekt. In der Diskretion witziger sind Ironie und komische Kontraste, etwa in Smith' eigenartigem Charakter, der zwischen Überkorrektheit und Vulgarität schwankt. Baricco pflegt einen Humor, den die Franzosen "pince-sans-rire" nennen würden: Er verbirgt sich unter einer unbewegten Oberfläche. Ebenfalls lakonisch und anrührend obendrein sind schließlich lyrische Momente, etwa wenn unsere drei Abenteurer in der Nacht vor dem großen Sprung die Ereignisse jedes 21. Juni zwischen 1878 und 1901 Revue passieren lassen ("Nocturne, Largo").
Ob lyrische, komische, verzweifelte oder dramatische Passagen: Bei Baricco wird der Leser gepackt. Aufmerksamkeit auf allen Ebenen ist dabei Ehrensache, das gibt uns Smith zu verstehen. "Hören Sie, Worte sind kleine, höchst präzise Apparaturen, glauben Sie mir, wenn einer sie nicht zu benutzen weiß, sollte er sie nicht benutzen." Der Leser dankt Baricco, dessen Apparaturen ein wunderschönes Ballett am Rande des Abgrunds tanzen.
NIKLAS BENDER
Alessandro Baricco:
"Smith & Wesson".
Aus dem Italienischen
von Annette Kopetzki.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2017. 112 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Lesedrama oder eine dramatische Novelle, die Bariccos Meisterschaft, Figuren durch die direkte Rede zu charakterisieren, dokumentiert.« Hans-Dieter Franz Mannheimer Morgen 20160915