Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Ein kompakter Überblick über die Gesellschaften im geteilten Deutschland
Am 6. August 1983 brachen in Berlin Frauen zu einem Friedensmarsch auf. Unter dem Motto "Umarmen wir die Genfer Abrüstungsverhandlungen" hatte die Gruppe "Frauen für den Frieden" den Zug organisiert; am 17. September erreichten sie ihr Ziel in der Schweiz. Lokale Gruppierungen von "Frauen für den Frieden" gab es an zahlreichen Orten in aller Welt, auch in der DDR und der Bundesrepublik. Das ist eine Gemeinsamkeit. Die ostdeutschen Aktivistinnen durften allerdings nicht nach Genf marschieren. Weitere und strengere Einschränkungen folgten. Hier liegt ein Unterschied. Dennoch beteiligten sich die ostdeutschen Frauen, indem sie zum Abschlusstag des Marschs einen Gemeindetag in der Ostberliner Auferstehungskirche organisierten. Dort verlasen sie einen solidarischen Brief an ihre Mitstreiterinnen. Der Wortlaut wurde in der West-Berliner feministischen Zeitschrift "Courage" abgedruckt, die über den "DDR-Friedensgottesdienst" berichtete: "Bis auf die offiziellen Beobachterinnen" hätten sich alle erhoben, um ihre Übereinstimmung zu demonstrieren.
Am 25. März 1982 hatte die Volkskammer der DDR ein Wehrdienstgesetz verabschiedet, das auch Frauen verpflichtete; Ende 1982 hatten unter anderen Bärbel Bohley, Katja Havemann und Ulrike Poppe "Frauen für den Frieden" initiiert. Von der Friedensbewegung im Westen, die von 1979 an Fahrt aufgenommen hatte, seien wesentliche Impulse für die DDR ausgegangen. Über einen Schweigemarsch in Dresden 1982 berichteten die westdeutschen Medien ausführlich; den Appell unterzeichneten auch im Westen Tausende. Mit solchen Ereignissen befasst sich Gunilla Budde im Kapitel "Zivilgesellschaften" in ihrem Buch über die beiden deutschen Gesellschaften zwischen 1949 und 1989. Die Historikerin untersucht darin "die reale wie mentale Verflechtung beider deutscher Teilstaaten" trotz aller Differenzen und Kontraste. Budde verfolgt einen sozial- und kulturhistorischen Ansatz. Mit ihrer klar geschriebenen und gut strukturierten Studie will sie zeigen, dass die Gesellschaften Referenz- und Konkurrenzrahmen füreinander waren. Die Formel "hüben wie drüben" durchzieht "So fern, so nah" wie ein Leitmotiv.
Neben der Friedenssicherung war der Umweltschutz ein prägendes Thema dieser Zeit: Zwei Jahre zuvor, im November 1981, hatte der Spiegel getitelt: "Der Wald stirbt." Die Antiatomkraftbewegung war schon in Gang gekommen, die Zahl der Bürgerinitiativen stieg deutlich. "Auch in der DDR starben Wälder", schreibt die Oldenburger Historikerin. 1972 war in Ost-Berlin ein Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft eingerichtet worden; im Jahr 1977 erreichten 448 Eingaben das Ministerium, 1988 waren es bereits 1215. Ende der 1980er-Jahre gründete sich die Gruppierung Umweltbibliothek im Keller des Gemeindehauses der Zionskirche in Berlin-Mitte. Allerdings seien "die im Osten überhaupt möglichen Aktionen immer durch staatliche Einflussmechanismen gedeckelt und klein gehalten" worden; es war die "durchherrschte Gesellschaft" einer Diktatur.
Die weiteren Teile des Buches widmen sich anderen Aspekten: Klassenstruktur, Bildung, Familien, Kindheit und Jugend sowie Konsum. Es handelt sich freilich nicht um eine große Gesamtdarstellung, sondern um einen kompakten Überblick, Budde greift Aspekte heraus, illustriert und vergleicht einzelne Entwicklungen. Die Abschnitte über Gleichberechtigung, Emanzipation und Familienpolitik sind besonders überzeugend. Hier bietet die Autorin eine konzise Übersicht über Reformen, Gesetzeslagen und gesellschaftliche Realitäten: Es geht um das Ende des Stichentscheids und die Neufassung des Bundeskindergeldgesetzes, um Geburtshilfe, Schwangerschaftsurlaub und Babyjahr, um Alleinerziehende, Berufskarrieren und Abtreibung.
Die beiden Gesellschaften hätten sich nach 1949 zweifellos auseinanderentwickelt. Dennoch seien Ähnlichkeiten geblieben: die "Verehrung der Bildung als Kern und Schlüssel der sozialen Platzierung" oder das "Festhalten an der Familie, ihrer Arbeitsteilung und der Besonderheit der Mutterschaft" - eine Einschätzung, die man in diesem Allgemeinheitsgrad vermutlich auch über viele andere Gesellschaften treffen könnte. Schließlich will die Historikerin einige verbreitete Irrtümer ausräumen. Die Emanzipation der Frauen in der DDR habe spätestens an der Haustür und bei der Vergabe von Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft aufgehört. In der BRD lag etwa der Professorinnenanteil in den 1970er-Jahren bei 3,5 Prozent, die DDR hatte diesen Wert schon in den 1960ern erreicht, kam bis zum Ende aber nicht über 11 Prozent. Die Ehe, die Kleinfamilie standen "hüben wie drüben" hoch im Kurs. Von einer frühen und flächendeckenden Kinderbetreuung wie im Osten konnte im Westen allerdings nicht die Rede sein.
Natürlich kann man nicht immer von Verflechtung oder Konkurrenz reden, oft laufen die Dinge einfach nebeneinander her. Bei anderen Entwicklungen handelt es sich um globale Trends, die eben auch in der DDR und der BRD ihren Niederschlag fanden. Die Autorin gibt zu, die Frage, wie sich das Leben unter permanenter Begleitung der Staatssicherheit anfühlte, bilde bei ihr eine Leerstelle, da sich dazu aus den Quellen wenig erschließen lasse. So spielen Zwänge in ihrem Buch eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Wenn Budde am Ende zum Bild von zwei Königskindern greift, die nicht zusammenkommen konnten, liegt darin ein Pathos, das für den Ton und die Haltung des Buches insgesamt eigentlich nicht repräsentativ ist. ISABELL TROMMER
Gunilla Budde: So fern, so nah. Die beiden deutschen Gesellschaften (1949 -1989).
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2023. 259 S., 33,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH