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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Furchtlosigkeit wuchs um uns: Türkische Liebeslyrik aus der Zeit vor Erdogan von Cemal Süreya, Edip Cansever und Turgut Uyar
Wäre dieses Gedichtbändchen ein Fotoalbum, sähe man darin Schwarzweißbilder von Liebespaaren in Istanbul. Man sähe Paare, die auf Parkbänken Händchen halten, sich am Ufer des Bosporus umarmen oder am Wasser sitzend den Schiffen hinterherblicken. Man sähe auch Fotos von bühnenreifen Eifersuchtsszenen, von Verzweiflung, Tränen, Treueschwüren. Man sähe keine Kopftücher und knöchellange Mäntel, sondern kurze Röcke und mit Haarspray toupierte Frisuren.
Unter dem Titel "So träume und verschwinde ich" haben Angelika Overath und Nursel Gülenaz türkische Liebesgedichte von Cemal Süreya (1931 bis 1990), Edip Cansever (1928 bis 1986) und Turgut Uyar (1927 bis 1985) versammelt. Im deutschsprachigen Raum sind diese Lyriker nahezu unbekannt, obwohl Gastarbeiter ihre Verse im Gepäck mit nach Deutschland brachten. Nun bekommen sie mit einer zweisprachigen Anthologie ein Podium, und dieser Schritt ist eine kleine Sensation, der auch als Unterstützung der Demokratiebewegung in der Türkei gelesen werden kann. Für deren Anhänger ist das Werk der drei Dichter, das sich nicht auf Liebeslyrik beschränkt, nämlich weitaus mehr als großartige Poesie: Während die Polizei sie im Gezi-Park 2013 mit Tränengas beschoss, skandierten die Aktivisten "Wir sind Verse von Turgut Uyar" - als Ausdruck ihrer Sehnsucht nach einer Welt ohne autoritär-politische Bevormundung. Wie die Dichter sie skizziert haben.
Die drei Lyriker waren miteinander befreundet. Sie erlebten die Nachwehen des Osmanischen Reichs und die Anfangsphase der türkischen Republik, die Studentenproteste der sechziger Jahre und drei Militärputsche. Sie starben, kurz bevor die Islamisten in Gestalt von Erdogans AKP das politische Ruder übernahmen.
Sie hatten einander in jenen Istanbuler Kneipen kennengelernt, in denen in den fünfziger Jahren jeder verkehrte, der sich zum Dichter berufen fühlte. Gemeinsam durchstreiften sie Nächte, die geprägt waren von einer Aufbruchsstimmung in die westliche Moderne: Süreya, der aus einer kurdisch-alevitischen Familie aus Dersim stammte und sein Leben als Steuerinspektor verdiente, der in Istanbul geborene Teppichhändler Cansever und Uyar, der trotz eines musisch geprägten Elternhauses erst Armeebeamter wurde und sich lange mit Büroarbeit über Wasser hielt.
Plurale Lebensentwürfe schienen damals möglich, es wurde mit offen gelebten Liebesbeziehungen, existentiellen Freiheiten und Zukunftsvisionen experimentiert - Dinge, nach denen sich heutige Bewohner der Türkei nur sehnen können. Die drei Männer kleideten diese Erfahrung in Worte. Sie gründeten die Dichtergruppe "Ikinci Yeni", die "Zweite Neue". Deren Markenzeichen: ausgefallene Wortschöpfungen, grammatische Grenzüberschreitungen und thematischen Tabubrüche. Die Gruppe revolutionierte die türkische Lyrik und vollendete die Lösung von der ornamentalen Divan-Dichtung. In "Anfangshaft" (Önceleyin) schreibt Cemal Süreya: "Anfangs waren nur deine Hände zwischen meiner Einsamkeit und mir / Dann öffneten sich auf einmal die Türen sehr weit / Dann dein Gesicht, danach deine Augen, deine Lippen / Dann tauchte alles auf / Eine Furchtlosigkeit wuchs um uns / Du hast deine Scham ausgezogen, an die Wand gehängt / Ich hab' die Regeln auf den Tisch gelegt / So ist es eben geschehen anfangs."
Das unterschiedliche Temperament der drei spricht aus ihren Versen. Während Süreya vor allem den Liebesakt in leicht zu entschlüsselnden Bildern thematisiert, geht es Cansever um die Gefühlswelt. Er war, wie seine Frau einmal sagte, "ein Poet der alten Viertel" und lebte am wenigsten das Leben eines Bohemiens. Sein Langgedicht "Von den Tagen" (Günlerden), aus dem der Titel des Bandes zitiert, evoziert ein Istanbul, das Abschied nimmt vom Sommer: mit Nebeltagen und Schwärmen von Zugvögeln. Durch die Stadt wandelt ein lyrisches Ich, das sich in seiner Verliebtheit in Träumereien verloren hatte und nun von der Gegenwart eingeholt wird: "Ich bin ein Glücklicher, der, sich schämend, aus der Zukunft zurückkehrt / Und ihr / Oh frühe Abende, die kommen, ohne auf ihre Zeit zu warten."
Auch bei Uyar erhält das Städtische seinen Sinn durch das Erleben mit einer Frau. In "Die Frau, die auf der Straße vorbeigeht" (Sokaktan Gecen Kadin) beobachtet er eine Passantin und stellt sich vor, wie sie nach Hause geht, sich entkleidet und mit wem sie ins Bett geht. "Vielleicht wirst du alles, was du mich denken lässt / Eines Tages auch denken" heißt es am Ende.
Süreya, Cansever und Turgut liebten Istanbul, auch wenn sie sich dort oft fremd fühlten. Und sie liebten dieselbe Frau, die 2003 verstorbene Schriftstellerin und Journalistin Tomris Uyar: Cemal Süreya verließ für sie seine Familie, Turgut Uyar verheiratete sich mit ihr und ließ sich wieder scheiden, und Edip Cansever schrieb ihr zum Geburtstag immer ein Gedicht - mit ihm hielt die Verbindung am längsten. Im ausführlichen Vorwort der beiden Herausgeberinnen wird ein legendär gewordenes Gespräch der drei wiedergegeben: "Edip Cansever: Ich brachte Cemal das Trinken bei. Cemal Süreya: Ich brachte Edip bei, Gedichte zu schreiben. Turgut Uyar: Und während die beiden sich mit solchen Dingen beschäftigten, heiratete ich Tomris."
Man fragt sich natürlich, welche der Liebesgedichte an sie gerichtet waren. Wann sie geschrieben wurden und wo sie erstmals erschienen, bleibt im Dunkeln. Das ist auch deshalb schade, weil die Lektüre große Lust macht, noch mehr von diesen Dichtern zu lesen, auf dass sie nun endlich auch in Deutschland Anerkennung finden.
KAREN KRÜGER
Edip Cansever, Cemal Süreya, Turgut Uyar: "So träume und verschwinde ich". Liebesgedichte.
Aus dem Türkischen und hrsg. von Angelika Overath und Nursel Gülenaz. Btb, München 2020.
121 S., geb., 10,- [Euro].
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