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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Personalunion der Minderheiten: Hugo Loetschers Reise-Essays erschließen zugleich das Gesamtwerk des Schweizer Schriftstellers
Er fehlte. Wie Friedrich Dürrenmatt, der am Ende des Kalten Kriegs die Schweiz als Gefängnis bezeichnete, das von lauter Freiwilligen bewohnt werde. Aber ganz anders als Max Frisch, der mit dem guten schlechten Gewissen seiner Heimat haderte.
Hugo Loetscher war eine herausragende Figur aus der Generation ihrer Nachfolger. Auch er befasste sich permanent mit der Schweiz. Keine Gattung war ihm fremd. Der Redakteur, Reporter, Schriftsteller, Essayist schrieb eine einzigartige Autobiographie über die Unterschicht, der er entstammte: "Der Immune". "Abwässer" ist einer seiner besten Romane, sein einziges Stück "Schichtwechsel" wurde vom Zürcher Schauspielhaus aufgeführt. Er schrieb kurze Geschichten und preisgekrönte Gedichte. Promoviert hatte Loetscher über "Die politische Philosophie in Frankreich nach 1945". Er starb vor fünfzehn Jahren und fiel seither dem Vergessen anheim. Das könnte nun ein Ende nehmen. Zu Loetschers Todestag, der in Zürich auch mit einer Ausstellung im Literaturmuseum Strauhof begangen wird, erscheint eine willkommene und gelungene Ausgabe seiner Reisereportagen: "So wenig Buchstaben und so viel Welt" betitelt.
Viel Welt hat der Autor als Student, Reporter, "writer in residence" und Gastdozent bereist. Und dazu gehörte für Loetscher auch die Schweiz, die sich aus der Geschichte verabschiedet hatte. Als Gefängnis hat er sie nie empfunden. Auf die Klagen seiner Schriftstellerkollegen über die "Enge" des Landes reagierte er spöttisch: Sie schnitten sich in den Finger und machten daraus einen Roman. Im Essay "Literatur und Journalismus" (1999), mit dem die Herausgeber ihre Anthologie eröffnen, unterstreicht Loetscher den literarischen Hang zum Lehrer und Prediger: "Die Alpen-Muse scheint sich wohler zu fühlen in der Schulstube und auf der Kanzel als in einem Redaktionsbüro." Er plädiert mit überzeugenden Beispielen aus der auch schweizerischen Geistesgeschichte für eine "Personalunion" von Journalismus und Literatur.
Gepäck, so spottet er in "Rückkehr nach Paris", habe er als Erfindung nie begriffen: "Was man von zu Hause mitnimmt, das nimmt man der Fremde von vornherein weg." Die erste Frau, der er in Paris begegnete, machte sich über ihn lustig, weil er mit dem Telefon-Automaten nicht klarkam. Bei dieser liebevollen öffentlichen Demütigung sei ihm "heimatlich zumute" geworden: So ausgelacht hatte man ihn zuvor nur auf einer Alp. Widerwillig geriet er in eine Demonstration (gegen die Wohnungsnot). "Ihr alle seid Opfer, auch du'", rief ihm der Anführer zu. "Kaum einen Tag in Paris, und schon war ich ein Glied der Gesellschaft", resümiert Loetscher.
Eine "Reise in die Négritude" führte ihn 1966 auf die senegalesische Insel Gorée, wo die Geschichte des Sklavenhandels als "Son et Lumière"-Spektakel erzählt wird. Überall setzte er sich mit der Hinterlassenschaft des Kolonialismus auseinander. Nach dem Rückzug der Portugiesen aus Afrika und Lateinamerika war Angola zum wichtigsten Handelspartner von Brasilien geworden. Für beide Länder, so Loetscher, könnte Portugal die Türen nach Europa öffnen. Ihm war bewusst, dass die Entkolonialisierung tyrannische Regierungen an die Macht brachte und zu Kriegen führte. Timor wurde von Indonesien erobert und Opfer eines "erbarmungslosen Besatzerregimes". In Paraguay begab sich Loetscher auf die Spuren der Jesuiten: Ihre Rückkehr 1926 nach 150 Jahren Abwesenheit "war auch die Rückkehr zu einer Sprache, die ihr Volk überlebt hat".
1996 reiste Hugo Loetscher nach Kiew. Man liest die Beobachtungen über die Veränderungen in der "Mutterstadt der russischen Städte" als Momentaufnahme, die keine Ahnung des heutigen Kriegs aufkommen lässt. Kiew war 1945 zur Hälfte zerstört und wurde zur "drittgrößten Stadt der Sowjetunion" wiederaufgebaut. Loetschers Ausschweifungen in Geschichte und Kultur machen ihre tausendjährige Bedeutung für Russland deutlich.
Er hatte Leningrad besucht und kehrte 2001 nach Petersburg zurück. "Europa auf Russisch" überschrieb er den Bericht darüber. In einer zum Schwimmbad umfunktionierten Kirche der Lutheraner durfte wieder gebetet werden. Die Mafia war überall. Der Autor sinniert über die "Unabhängigkeit von der Sowjetunion": "Dem wäre ich gerne weiter nachgegangen."
Im Jahr vor seinem Tod publizierte Hugo Loetscher "Indische Nachhilfestunden". Indien mit seinen zwei Dutzend Landessprachen und seiner ethnischen wie religiösen Vielfalt präsentierte er den beengten Schweizern als Labor. Er bedauerte, dass der Postkolonialismus "kaum Einzug findet in unsere helvetischen Debatten". Inzwischen hat deren Ideologisierung aber auch die Schweiz erreicht.
Loetschers Herausgeber fühlten sich verständlicherweise bemüßigt, das N-Wort aus seinen Texten zu streichen. Der Autor selbst, so stellen sie in ihrem informativen Nachwort fest, hatte es seit den Neunzigerjahren nicht mehr verwendet. Andere Bezeichnungen, die heute als diskriminierend empfunden werden, haben sie übernommen. Kühner wäre es gewesen, die gesäuberten Stellen im Text zu markieren. Sie würden dem Leser zeigen, wie sensibel Loetscher auch sprachlich mit den Identitäten und Minderheiten umging, von denen er mehrere in Personalunion verkörperte. Einschließen ließ er sich von keiner. Wer in seiner Gegenwart von Wurzeln sprach, musste seine Socken ausziehen - für Loetscher hatten Menschen Füße.
Seine Reportagen sind nicht einfach "lesbar geblieben", die gesellschaftspolitischen Veränderungen seit ihrer Entstehung verleihen ihnen vielmehr eine Aktualität, die man avantgardistisch nennen darf. Sie sind auch kein Beiwerk, denn sie erschließen erst Hugo Loetschers Universum. In der Schweizer Literatur ist es einzigartig geblieben. Schmerzlich aber macht die glückliche Wiederbegegnung damit bewusst, wie sehr diese Stimme fehlt in einem Land, dessen neue Aushängeschilder Kim de l'Horizon und Nemo sind. JÜRG ALTWEGG
Hugo Loetscher: "So wenig Buchstaben und so viel Welt". Reise-Essays und Reportagen.
Hrsg. und Nachwort von Jeroen Dewulf und Peter Erismann. Diogenes Verlag, Zürich, 2024. 480 S., Abb., geb., 29,- Euro.
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