Ich habe dieses Buch zweimal gelesen: einmal 2004 auf englisch, und 2018 auf deutsch und englisch.
Sarah Waters erzählt eine gut konstruierte Gaunergeschichte mit perfiden Wendungen, ein psychologisches Drama, ein Porträt des harten, schmutzigen Alltags in den Armenvierteln der Zeit – und
zugleich die Geschichte von zarten Gefühlen zwischen zwei Frauen in einer Ära, als lesbische Liebe als…mehrIch habe dieses Buch zweimal gelesen: einmal 2004 auf englisch, und 2018 auf deutsch und englisch.
Sarah Waters erzählt eine gut konstruierte Gaunergeschichte mit perfiden Wendungen, ein psychologisches Drama, ein Porträt des harten, schmutzigen Alltags in den Armenvierteln der Zeit – und zugleich die Geschichte von zarten Gefühlen zwischen zwei Frauen in einer Ära, als lesbische Liebe als Perversion oder als Wahnsinn gesehen wurde. Eine ungewöhnliche Kombination, die funktioniert, weil die Autorin nichts beschönigt, dem Leser jedoch mit viel Gespür für zwischenmenschliche Nuancen die Charaktere so vorstellt, dass man sie zwar nicht immer lieben, aber zumindest verstehen kann.
Spannend fand ich schon wenigen Seiten, dass die Geschichte aus einem ganz anderen Blickwinkel erzählt wird, als man es als Leserin gewohnt ist: in einem Roman von Charles Dickens wäre Susan wahrscheinlich eher die Antagonistin gewesen als die Protagonistin.
Susan ist aufgewachsen unter Dieben und Hehlern. Das Einzige, was sie von ihrer leiblichen Mutter weiß, ist, dass diese als Mörderin gehenkt wurde – in den Kreisen, in denen sich Susan bewegt, keineswegs eine Schande, sondern fast eine Auszeichnung. Sie hat kaum Gefühl für Recht und Unrecht; anfangs lässt sie sich ohne große Skrupel darauf ein, mitzuwirken an einem Komplott, das eine unschuldige junge Frau um ihr Vermögen betrügen und ins Irrenhaus bringen soll, ersonnen von einem Schurken adliger Abstammung, den die Gauner nur "Gentleman" nennen.
Dennoch war ich bereit, Susan weiter zuzuhören, denn sie erschien mir nicht vollends verloren.
Dann trifft sie auf Maud: die stille, sanftmütige, naive Maud, bei der Susan sich als Zofe einschleichen soll, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Und das erscheint so einfach... Nur dass Susan erstens schon schnell das Gewissen plagt, und sie zweitens Gefühle für Maud entwickelt, die sie nicht recht einordnen kann, weil es nicht die Gefühle sind, die in ihrer Sicht der Welt eine Frau für eine andere entwickeln darf. Dabei soll sie Maud doch dazu bringen, Gentleman zu heiraten...
An dieser Stelle hätte das Buch so stereotyp wie verfrüht enden können, Sarah Waters hingegen macht es sich keineswegs so einfach. Stattdessen wirft man als Leserin einen Blick auf die Seitenzahl und stellt fest, dass man noch nicht mal die Hälfte der Geschichte erreicht hat.
Und ab dieser Stelle werde ich nichts weiter über die Handlung verraten – es juckt mir in den Fingern, mehr zu schreiben, aber dies ist ein Buch, bei dem man beim ersten Lesen auf gar keinen Fall vorher zu viel wissen darf. Man muss ungebremst hineinstürzen in das Kaninchenloch.
Lasst. Euch. Nicht. Spoilern.
Die Charaktere sind brillant geschrieben, gerade weil die Autorin nicht davor zurückschreckt, ihre Schwächen und charakterlichen Abgründe auszuloten.
Susans Gefühle für Maud sind mehr als ein Gimmick, mehr als nur ein Lippenbekenntnis zur Diversität.Und sie sind auch nicht das Wundermittel, dass Susan über Nacht zu einem guten Menschen macht. Sie ist eine zwiespältige Frau mit zwiespältigen Gefühlen.
Um über den Schreibstil zu schreiben, muss ich die Übersetzung erwähnen. Diese ist keineswegs schlecht, aber es geht zwangsläufig etwas verloren von der einzigartigen Sprachmelodie des Originals. Auch die Gaunersprache der Zeit lässt sich nur schwer eins zu eins ins Deutsche übertragen – im Original hat der Schreibstil einfach mehr Atmosphäre.
Großartig fand ich, wie Teile des Buches, die von verschiedenen Charakteren erzählt werden, auch vom Schreibstil her deutlich variieren.