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© BÜCHERmagazin, Lore Kleinert
Pädokriminalität, wo man sie nicht vermutet: Jan Costin Wagner wagt sich an ein heikles Thema.
Es ist was mit Zählen", hat Uwe Johnson in seinen "Vorschlägen zur Prüfung eines Romans" in seiner unnachahmlichen Art geschrieben. Und nur weil sein Text ein paar Jahrzehnte alt ist, müssen die Vorschläge ja nicht unbrauchbar geworden sein. Fangen wir also an, bei Jan Costin Wagners neuem Roman zu zählen: Personen, Vorfälle, Schauplätze, Motive, bis ein Geflecht entsteht, je dichter, desto besser.
"Sommer bei Nacht", mit dem Wagner nach seinen Romanen um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa eine neue Reihe eröffnen will, enthält vierzehn verschiedene Stimmen oder Perspektiven in insgesamt hundertdreiundzwanzig nicht allzu langen Abschnitten. Da es sich um einen Kriminalroman handelt, entfällt mehr als die Hälfte dieser Abschnitte auf die beiden Ermittler Ben Neven und Christian Sandner und noch mal ein Achtel auf Bens Mentor, den pensionierten Landmann. Es sind nicht ganz so viele Schauplätze wie Abschnitte, aber vom Ort der Entführung, einem Schulfest in Wiesbaden, führt der Weg über Frankfurt, Berlin, Salzburg und Rosenheim zurück auf einen Campingplatz am See im Raum Wiesbaden.
Die ersten Blicke gehören jedoch dem Täter, der Marko heißt und mit zwei Plüschteddys auf das Schulfest kommt. Der fünfjährige Jannis geht einfach mit. Auch er wird später einen Abschnitt haben. Es bleibt ein Bild von beiden, von einer Überwachungskamera im Parkhaus gegenüber. "Flauschig" wirkt der Täter darauf, wie ein Teddy; "schlecht" sei das, sagt Landmann, weil er so unauffällig sei, dass man ihn sofort vergesse. Abgebrüht ist der Mann, der den unbedarften Marko ausnutzt, ihm ein Alibi verschafft und glaubt, die Polizisten austricksen zu können. An den vierzehn Abschnitte erkennt man seine Rolle im Plot.
Durch diese häufigen Blick- und Szenenwechsel könnte leicht der Eindruck aufkommen, der Roman sei gebaut wie ein Drehbuch, woraus dann immer geschlossen wird, das Erzählen sei "filmisch". Natürlich kann man an Episodenfilme denken, an einen Klassiker wie "Short Cuts" von Robert Altman, in dem die Wege der Akteure einander eher zufällig kreuzen. Aber Wagner verfährt anders. Das Verbrechen ist der Magnet, auf den sich alle anderen Elemente ausrichten wie Eisenspäne, die ja auch nicht alle in dieselbe Richtung weisen.
Bei Wagner schaut man vor allem in die Köpfe der Figuren, hört den Ermittlern zu, erlebt, wie sie Schlüsse ziehen und Spuren deuten. Und weil man als Leser mit ihnen teilt, was die Figuren nicht miteinander teilen, blickt man auch in die Abgründe einer Person, von Ben Neven, der bei der Suche nach dem Täter einer eigenen Obsession folgt. Sie macht ihn ungeeignet zum Helden und ist doch ein mächtiger Antrieb bei seiner Arbeit.
Neven ist eine komplizierte Figur, wie überhaupt in den fiktionalen Welten von Jan Costin Wagner Grautöne überwiegen, gut und böse nie sauber und ordentlich auftauchen wie in Aktenordnern. Auch Nevens Kollege Christian kämpft mit seinen Dämonen. Sie treten plötzlich in die Gegenwart, sie lassen ihn mit einer Anteilnahme eintauchen in den Fall, die nicht ungefährlich ist.
Diese Streuung der Perspektiven ist eine Stärke des Romans. So werden die verschiedenen Gemütslagen und Empfindungen sichtbar, auch die zentrifugalen Kräfte in der Familie des entführten Jungen, weil Schwester, Mutter und Vater jeweils so ganz anders reagieren auf den Schock. Und weil Wagner auch Musiker ist, hat er ein sicheres Gespür für den Rhythmus, in dem diese Abschnitte aufeinander folgen müssen, für das Timing und für die verschiedenen Tempi.
Seine Sprache besteht aus sehr klaren, einfachen, fast schmucklosen Sätzen. Er hält sich strikt an die Wahrnehmung der jeweiligen Person, schreibt ihr nichts zu, was über ihren Horizont ginge. Manchmal gehen diese Sätze wie von selbst über in kleine Alltagslyrik, wenn Christian in Salzburg aus dem Fenster der Polizei schaut: "Hinter dem Fenster ergießt sich wie auf einer Postkarte das Bergmassiv in die Silhouette der Stadt." Nur selten verrutschen sie zu hochgestochen klingenden Sentenzen, die eher nach auktorialer Einflüsterung klingen, als dass sie zur Gedankenwelt dessen gehörten, aus dessen Perspektive da erzählt wird.
Am präzisesten wird Wagners Prosa, wenn sie von den kleinen Absencen der Akteure im Alltag handelt, Momenten, in denen die Realität kurz verrutscht. Lauter Mikrowahrnehmungen, wie man sie kennt, wenn man zu lange auf einen Fleck schaut oder anderen zuhört, ohne zu verstehen, was sie sagen. "Die Worte verschwimmen wieder, dann verkleben sie, trocknen in Sekundenschnelle, sind hart und undurchdringlich wie Beton" - so ergeht es Ben Neven in der Talkshow, in die er eingeladen wurde und in der anlässlich der Entführung über Kindesmissbrauch geredet wird.
Auf diese Weise entsteht langsam ein dichtes erzählerisches Gewebe, ohne dass Wagner es dabei auf kunstvolle Verrätselungen anlegte. Allenfalls könnte man bemängeln, wie er den entscheidenden Durchbruch bei der Fahndung inszeniert hat. Da ist, mehr soll nicht verraten sein, ein bisschen mehr Zufall im Spiel, als man glauben mag. Kaum vorstellbar, dass ein Autor von Wagners Souveränität nicht eine elegantere Lösung hätte finden können. Aber das sind Kleinigkeiten. "Sommer bei Nacht" ist ein Roman, dessen Wirkung nicht zu Ende geht, wenn man das Buch schließt. Da schwelt einiges weiter.
PETER KÖRTE.
Jan Costin Wagner: "Sommer bei Nacht". Roman.
Galiani Berlin Verlag, Berlin 2020. 320 S., geb., 20,- [Euro].
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