Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Alard von Kittlitz mischt in seinem Roman "Sonder" aus tausend Motiven keine Welt
"Zu Beginn dieser Geschichte", so beginnt diese Geschichte, "sehen wir Peter Siebert noch in den Kellern des Hauptquartiers von PepsiCo Neuseeland." Die Umgebung ist denkbar abweisend: kaltes Neonlicht, weiße Kacheln, poliertes Metall. "Er befindet sich in einem Labor er ist: allein." Dreihundert Seiten später wird Peter Siebert in ein dunkles Auto bugsiert. Er wurde gerade einer Gehirnwäsche unterzogen und glotzt blöde selig vor sich hin. Man könnte fast meinen, erlöst. Zwei Security-Fieslinge namens Frank und Frank sollen ihn zwischen Sils Maria und Sankt Moritz im Neuschnee aussetzen. Ein schneeweiß offenes Ende für den Helden dieser Geschichte, denn "das ist nun das allerletzte Mal, dass wir Peter Siebert sehen, bevor sich seine Spur verliert".
"Sonder" ist der Titel dieses Debüts des Zeitungsjournalisten Alard von Kittlitz, der von einigen Kritikern als Repräsentant der nächsten Generation von Popliteraten gefeiert wurde. Pop ist insofern richtig, als Marken, Firmen, Produkte die Wegweiser der Handlung sind. Und Pop ist auch richtig, wenn man die Bedeutung des Titels zur erkenntnistheoretischen Grundlage des Romans macht. Dort heißt es, im Englischen bezeichne man mit sonder die plötzliche Erkenntnis, "dass all die anderen Menschen um einen herum ebenfalls komplett existieren, dass die also Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, halt ein ganzes Leben haben, ein Zuhause, einen Geruch, ein Verhältnis zu ihrem Selbst, Überzeugungen. Wünsche. Und dass man in deren Dasein gerade auch bloß ein Statist ist."
Peter Siebert, die Hauptfigur von "Sonder", hat sich dieses Wahrnehmungsprinzip zur zweiten Natur gemacht. Er ist nicht nur Statist im Leben anderer, sondern auch in seinem eigenen. Man könnte unter diesen Umständen von einer schwachen Persönlichkeit sprechen: "Denn er sieht sich selbst dauernd durch die Augen der anderen Menschen, als eine Figur in deren Bewusstsein, und er vermeidet, ihr kritisches Urteil über ihn erkennen zu können. Immer will Peter erraten, was die anderen gerade in ihm sehen, was sie von ihm wollen, und er wünscht sich dabei inständig, ihnen zu gefallen oder, besser, nie jemanden zu reizen, zu irritieren, und empfindet sich selbst dabei noch stets als ein Ärgernis, als Laffe, Dünnbrettbohrer, Langweiler. Darunter leidet er natürlich."
Doch Peter macht aus seiner Not eine Tugend. Mit seiner Gabe, zu erraten, was andere begehren, hat er es zu einer respektablen Karriere als Produktdesigner gebracht. "Seine Produkte sind in bestimmten Branchen so was wie Fetischobjekte geworden." Spülmittel, Gummischlümpfe. Solche Sachen. Zuletzt war Siebert für Pepsi in Neuseeland tätig. Dort wird er quasi vom Parkplatz aus wegrekrutiert von einer bondgirlhaft durchtrainierten Anwältin mit einem wohlklingenden französischen Namen: Clementine Bouvet arbeitet für ein aufstrebendes Tech-Unternehmen und will Siebert für eine Mission gewinnen, die ihm wie uns zunächst verborgen bleibt.
Es herrscht also Unklarheit über die wahren Motive hinter Peters Quasi-Entführung auf die Luxusgüter, Luxusyachten und in die Luxusabsteigen seines neuen Chefs Drew Itautis. Der mephistophelische Gründerunternehmer bereitet sich gerne mit Nietzsche-Lektüre auf die Menschheitsfragen des 21. Jahrhunderts vor. Itautis laboriert an einem Produkt, das die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine überwinden will. Bislang experimentiert man mit einem klobigen Helm, den der Proband sich wie ein Sieb auf den Kopf setzen muss, um in den Genuss eines Gedanken-Enhancements zu gelangen. IQ-Verbesserungen von bis zu zwanzig Prozent wären denkbar, erfährt Peter, der aus dem Helm eine Art iPhone machen soll. Ein Objekt also, das jeder unbedingt haben will und das so tut, als wäre es immer schon dagewesen. Doch bevor Peter einen solchen instant classic designen kann, macht er am Flughafen von Los Angeles die Bekanntschaft seiner Traumfrau Anne. Wie sich später herausstellt, ist die nicht einfach Anne aus Deutschland, sondern Anne Donata Pegah Gräfin de Ferolle-Fougiers, eine schwerreiche Erbin, mit einem Hacker liiert. Weil Peter all das nicht weiß, renommiert er vor ihr mit seinem neuen Auftrag: "Das kann ikonisch werden", sagt er über das neue Interface. "Für die Massen, irgendwann auch für die Museen."
Der Erzähler dieses Romans will die Fäden seiner Geschichte fest in beiden Händen halten. Immer wieder werden die Leser mit "wir" angesprochen und somit als Zeugen der Geschehnisse über dem Helden angeordnet. Der hat aufgrund seiner Ich-Schwäche ohnehin nicht das Zeug zur Person. Also lässt der Erzähler uns mit paternalistischer Geste auf sein Laborrattendasein blicken. Na, was haben wir denn da?, scheint er zu fragen. Peter ist doch ein armes Würstchen, das die Käuflichkeit seiner Seele professionalisiert hat, dafür zwar Anerkennung, aber keine Liebe erfährt.
Auch der Leser kann mit Peter Siebert wenig anfangen. Er ist von Anfang an mehr Imago als Mensch und Spielball höherer Interessen. Drew Itautis will unbemerkt die Gehirnströme seines dauerbekifften Designers anzapfen. Ließe sich Peters Verkaufsgenie klonen, könnte Itautis auf einen menschlichen Systemfehler mehr verzichten. Seine Maschine wäre selbst kreativ.
Dort, wo die Figuren der Haupthandlung bewusst prototypisch bleiben und Kittlitz im Stil des Heldenepos von ihren Taten berichtet, macht er auf den Seitenpfaden seines Romans andere Register der Erzählkunst auf. Mit Schmelz berichtet er von einer amerikanischen Öko-Terroristin, von einer japanischen Forensikerin, von einem skrupellosen Banker, der den Erzengel Gabriel trifft und dadurch zum Krüppel wird. Und plötzlich bekommt dieser Roman, der kein Roman sein kann, weil er seine Figuren bewusst nicht leben lässt, in Gang. Hier ist man drin in einem Schicksal, in einem Konflikt, in einer Privatmythologie. Hier beginnt das, was der Anfang eines guten Romans sein könnte: "Infolge der schweren Erfrierungen, die Larry sich vor den Mauern der Chora zugezogen hatte, mussten ihm in den kommenden Tagen sechs Zehen, der Daumen der Linken, der Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand amputiert werden."
Die passende Philosophie zu diesem Auf- und Abdrehen der Erzählenergie liefert der Autor auch gleich mit: "Sonder: All die Geschichten auf dem Planeten. Milliarden von uns, allein in dieser Generation, und in einem jeden von uns hat die blinde Materie die Augen geöffnet und ist Bewusstsein geworden für einen kleinen, lichten Augenblick, bevor jene Dunkelheit, aus der wir traten, uns wieder umschließt."
Am Ende dieses Romans, der einen polyglotten und umfassend gebildeten Autor verrät, bleibt das seltsame Gefühl, ein Sammelsurium vor sich zu haben: einen Ideenroman, eine Thriller-Glosse, einen philosophischen Poproman. Die Intelligenz dieses Buchs strahlt in alle Richtungen und verpufft. Man kann zu "Sonder" deswegen keine Beziehung aufbauen. Ein Buch, das weder ich noch du sagt und doch genau davon handelt.
KATHARINA TEUTSCH
Alard von Kittlitz: "Sonder". Roman.
Piper Verlag, München 2020. 317 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main