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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Leichen mit Goldrand: Temur Babluani schreibt sowjetische Geschichte von der Warte der Straflagerhäftlinge aus
Als der junge Dschude, Schuhmachersohn aus der georgischen Hauptstadt Tiflis, im Sommer 1968 wegen eines Doppelmordes zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wird, macht die Justiz ihm ein Angebot: Wenn er bereit ist, seine Strafe in einem berüchtigten Arbeitslager abzubüßen, verringert sich deren Dauer auf ein Drittel. Dschude nimmt an, er ist jung und verliebt in das Mädchen Manuschaka und will so schnell wie möglich wieder zurück in die Freiheit. Hinzu kommt, dass er den Mord zwar gestanden, aber nicht begangen hat und sich dafür eine Belohnung von den wahren Tätern erhofft, die dem organisierten Verbrechen von Tiflis angehören.
Die Entscheidung für die Tortur in Sibirien ist nur eine von vielen, die Dschude in den knapp vierzig Jahren der Romanhandlung fällen muss - manche durchdenkt er tagelang im Voraus, andere werden ihm in dramatischen Situationen plötzlich abgenötigt. Aber meist hat er gar nicht die Wahl. "Mein Gott, was passiert hier mit mir?", fragt er ganz am Anfang des Romans, als er ins Schlamassel gerät, später gewöhnt er sich solche Fragen ab. Er ist dann einem an Umschwüngen reichen Schicksal unterworfen und irrt durch die Sowjetunion wie Grimmelshausens Simplicissimus durch den Dreißigjährigen Krieg, mit wachsender Einsicht, dass jeder Plan sinnlos ist, weil sich die Verhältnisse nicht durchschauen lassen, und dass er umso sicherer ins Verhängnis gerät, je mehr er ihm durch eigene Manöver zu entrinnen glaubt.
Natürlich gilt das auch umgekehrt, bisweilen widerfährt ihm ein unverhofftes Glück, das sich aber ebenso leicht in ein Unglück verkehren kann. Als Dschude, der eigentlich Iosseb heißt und im Verlauf der Romanhandlung noch mehrfach seinen Namen wechseln wird, in einem Goldbergwerk tief unter der Erde noch längst nicht genug Nuggets zusammengetragen hat, um wieder ans Tageslicht zu dürfen, beschert ihm ein anderer Häftling die fehlende Menge - allerdings wird Dschude nun um ein Haar von den anderen erschlagen, die ihm das Gold nehmen wollen, um selbst der Hölle in der Mine zu entkommen. Kleine Freiheiten im Lageralltag stellen sich für ihn auch ein, oft als Entgelt für Zeichnungen, die der talentierte junge Mann für die anderen nach deren Wünschen anfertigt, und verkehren sich in ihr Gegenteil, wenn ihm aufgeht, dass die Sonderstellung ihn angreifbar macht oder sogar in Lebensgefahr bringt.
Und es fehlt nicht an grässlichen Begebenheiten, die Dschude selbst betreffen oder diejenigen, die sein Schicksal teilen. Im Verlauf eines mühseligen bewachten Marsches auf dem Weg zu einem Gefangenenlager springt eines Nachts ein Mitgefangener plötzlich schreiend auf, "wahrscheinlich hatte er schlecht geträumt", glaubt Dschude: "Er war noch dabei, wach zu werden, als ihn vier Schüsse trafen und er umsank, direkt auf mich, sein Körper zuckend auf mir, während ich stocksteif dalag." Auch nach dem Tod des Unglücklichen floss dessen Blut "noch lange und besudelte meine Kleider. Bis zum Morgen lag ich so mit ihm bäuchlings auf mir, bis wir endlich bei Morgengrauen Erlaubnis bekamen, aufzustehen."
Als Dschude sich in Tiflis den Behörden stellte und als Minderjähriger die Morde auf sich nahm, für die ein Erwachsener die Höchststrafe erhalten hätte, war ein Motiv dafür die Treue, mit der er an seinem fünf Jahre älteren Jugendfreund Chaim hing, der wiederum auf nicht ganz transparente Weise in den Fall verstrickt war. Die Frage, wem man vertrauen kann und wem nicht, begleitet Dschude durch die gesamte Zeit seines Exils von Tiflis, das sich größtenteils in unterschiedlichen Haftanstalten abspielt.
Den richtigen Menschen zu vertrauen erweist sich als wichtig und ebenso, dabei die Grenzen im Zweifel eng zu ziehen - Dschude wird zum Handlanger eines Lagerarztes, mit dem ihn einiges verbindet, bis er begreift, dass der ihn in dem Moment aus dem Weg räumen will, in dem er ihn nicht mehr braucht. Dem geschickt platzierten Giftköder des Arztes entkommt er durch reinen Zufall, und auch seine Flucht von einem Friedhof, auf dem der Arzt verstorbene und von ihm obduzierte Häftlinge beerdigen lässt, deren Körper er mit geschmuggeltem Goldstaub spickte, steht auf Messers Schneide.
Ein anderes Mal stiehlt er die Papiere eines jungen Mannes, der ihm verblüffend ähnlich sieht, und handelt sich damit einen neuen Prozess mit einer neuen, langjährigen Haft ein, denn der Bestohlene hatte seinerseits genug verbrochen, um ihn hart zu bestrafen. Wieder flieht Dschude, begleitet von zwei Gewalttätern, die ihn mitnehmen, weil sie ihn in der kargen Wildnis als Proviant verwenden wollen, wieder entkommt er nur knapp, und als seine Begleiter schließlich tot aufgefunden und er selbst von der Justiz aufgegriffen wird, muss er sich ein weiteres Mal für eine Tat rechtfertigen, die er nicht begangen hat.
Tatsächlich nicht? Der spätberufene Autor Temur Babluani, geboren 1948 in der hoch gelegenen georgischen Region Swanetien, dessen Film "Die Sonne der Wachenden" 1993 auf der Berlinale ausgezeichnet worden ist, lässt Dschude, den Erzähler seines 2018 auf Georgisch erschienenen Debütromans "Sonne, Mond und Kornfeld", auch wesentliche Dinge verschweigen. Während den Lesern oft der Atem stocken dürfte, scheint Dschude in eine Art Überlebensmodus zu schalten, die ihn die Dinge registrieren, aber nicht unmittelbar empfinden lässt. Als Konstante erweist sich einzig seine hingebungsvolle Liebe zu Manuschaka, die angesichts der bedrückenden Realität keine Chance zu haben scheint und dann doch nach Dschudes Rückkehr ins nun postsowjetische Georgien für kurze Zeit zwischen den beiden Versehrten aufblühen darf. Und auch das organisierte Verbrechen hat die Jahrzehnte überdauert, teils mit denselben Protagonisten, und die Entscheidung, die Dschude am Ende fällt, trägt dem Rechnung.
Babluani legt einen glänzenden, rasant erzählten und tieftraurigen Roman vor, dessen Relevanz weit über die beschriebene Zeit und Region hinausweist. Rachel Gratzfelds Übersetzung tut das Ihre, um uns eine Geschichte nahezubringen, die einen eigenen Ton mit universaler Wahrheit verbindet. Denn dass Strukturen sowjetischer Justiz den Zerfall der Sowjetunion unbeschadet überstanden haben, ist dieser Tage weiterhin unübersehbar. TILMAN SPRECKELSEN
Temur Babluani: "Sonne, Mond und Kornfeld". Roman.
Aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld. Verlag Voland & Quist, Berlin 2023.
546 S., geb., 28,- Euro.
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