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Lise Villadsen erzählt von psychischer Störung
"Muss man wirklich die verlassen, die man liebt, damit sie sich selbst retten?" Hat auch die Schwester einer psychisch Kranken ein Recht zum Glücklichsein? Die 1985 geborene Autorin Lise Villadsen, die in ihrem Werk mit leichter Feder vertrackte Familienverhältnisse und prekäre juvenile Seelenlagen ergründet, ist eine innovative neue Größe der dänischen Jugendliteratur. In "Sowas wie Sommer, sowas wie Glück" verknüpft sie erste Liebe, verbotene Gefühle, die Mystik der Physik, Naturgesetze des Küssens und Notsignale jugendlicher Psyche.
Die Ich-Erzählerin Astrid ist ein sogenanntes "Schattengeschwister". Im Mittelpunkt der Familie steht ihre ältere Schwester Cecilie, im Abi-Stress von Angstattacken geplagt. Während der Vater, der für seine Firma mehr Verantwortung übernimmt als für die Familie, die Situation herunterspielt, ist die Mutter wie ein "Radar, das Unwetter aus weiter Entfernung erkennt". Auch Astrid lebt zunächst nur für ihre Schwester.
An der gleichen Schule geht Astrid in die elfte und Cecilie in die dreizehnte Klasse. Wegen der psychischen Probleme und hoher Fehlzeiten im Unterricht steht Cecilies Abi-Prüfung auf der Kippe. Oft schwänzt sie das Leben und verschanzt sich hinter unsichtbaren Mauern. Ihr Vermeidungsverhalten engt ihren Freundeskreis und Aktionsradius ein. Wenn ihr die Angst die Luft zu nehmen droht, macht Astrid mit ihr Atemübungen.
Doch als die Jüngere eine Interrail-Reise mit ihrem Klassenkameraden Jonas plant und Kristoffer auftaucht, Cecilies Klassenkamerad, zugleich einst ein Spielkamerad der beiden Schwestern, entstehen Risse in der Synchronizität. Zwischen Kristoffer und Astrid entwickeln sich zarte Bande.
Das Buch schildert, wie Kranke die sie Umsorgenden vereinnahmen können, und umgekehrt deren verbotene Gefühle verquerer Ohnmacht. Der "Quantensprung" (wie das Buch im Originaltitel heißt) illustriert Astrids schwierigen Abkoppelungsprozess: "Das Elektron, das die ganze Zeit um den Atomkern kreist, wechselt sozusagen die Bahn."
Die parallel geführten Erzählstränge der Beziehungsgeflechte und Krankheitsgeschichte queren und verheddern sich und enden im Gefühlswirrwarr: Auch im Streit um die richtige Therapie und den rechten Umgang mit der Kranken erkaltet die Ehe der Eltern. Dass ihr bester Freund Jonas bald mehr mit seiner neuen Liebe Veronica rumhängt als mit ihr, kränkt Astrid. Und manchmal hegt sie den Verdacht, dass Cecilies Warnung vor dem Frauenhelden Kristoffer doch nicht allein aus Eigennutz geschieht.
Der Roman lebt vom Wechselspiel zwischen depressiver Grundierung und gewitzten Dialogen schrulliger Charaktere vor sonnigem Dekor. Der das Genre parodierende Pennäler-Roman gibt Einblicke in Freuden und Intrigen des dänischen Highschool-Lebens. Zugleich zeigt er das Dilemma auf zwischen dem Wünschen, Wollen und Können der Kranken und ihren Grenzen - den Grenzen der Empathie und Inklusionsbereitschaft der Gesellschaft.
Lise Villadsen fängt Selbstmitleid und Selbsthass der Kranken ebenso ein wie das Unverständnis und Banalisierungen der pseudoverständnisvollen Umwelt. Sie übt Kritik an nur oberflächlicher Enttabuisierung psychischer Krankheiten, die sich auch hinter der einfachen Frage verbergen kann, ob es denn der Patientin besser gehe: "Die Frage, die am logischsten ist und die mich am meisten frustriert. Als ob sie bloß eine Grippe hätte und das bald überstanden wäre."
Zuletzt ist es ein Zitat Albert Einsteins ("Nothing happens until something moves"), das den Anstoß zu Veränderung gibt: Als Cecilie in die psychiatrische Notfallambulanz eingewiesen wird, übernimmt Astrid die Initiative. Sie spricht sich nicht nur für professionelle Hilfe von außen für die Schwester aus, sondern auch für eine Familientherapie aller Beteiligten.
Im offenen Ende klingt die Möglichkeit der Heilung an: Beim Anblick des Abi-Umzugs kann Astrid zugleich Kristoffer zujubeln und sich sicher sein, im nächsten Jahr Cecilie als Abiturientin auf einem der Wagen zu sehen. STEFFEN GNAM
Lise Villadsen: "Sowas wie Sommer, sowas wie Glück". Roman.
Aus dem Dänischen von Meike Blatzheim. Oetinger Verlag, Hamburg 2022. 256 S., geb., 18,- Euro. Ab 14 J.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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