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Willy Brandt wollte die Sozialdemokratie in der Welt stärken. Das gelang ihm - aber was blieb?
Es ist erst drei Jahre her, als ein ranghoher SPD-Politiker sagte: "Lateinamerika ist zu lange aus unserem Blick geraten." Heiko Maas, damals noch Außenminister, wollte die Beziehungen zwischen Deutschland und den Ländern südlich der Vereinigten Staaten mit einer Initiative stärken. Doch schon während einer Reise nach Brasilien fiel auf, wie wenig sich Lateinamerika von seinem Werben angesprochen fühlte. "Zwei Zeilen", schrieb die "Deutsche Welle" damals, "mehr als eine Mini-Meldung ist der größten brasilianischen Tageszeitung Folha de São Paulo der Besuch des deutschen Außenministers Heiko Maas anscheinend nicht wert." Von der Initiative war seither kaum noch etwas zu hören, was nicht nur an der Pandemie liegen dürfte.
Europa, so muss man konstatieren, hat in Lateinamerika den Anschluss verloren. Und das, obwohl man eigentlich starke kulturelle Gemeinsamkeiten hat und größtenteils demokratisch geprägt ist. Das große Geschäft in Lateinamerika aber macht in diesem Jahrhundert zunehmend China, mit allen politischen Folgen, die das nach sich zieht.
Es gab eine Zeit, da interessierte sich die westliche Welt, und insbesondere Deutschland, deutlich mehr für Lateinamerika und andersherum Lateinamerika mehr für Europa. Genau in diese Phase fällt die Amtszeit Willy Brandts als Präsident der Sozialistischen Internationale, von 1976 bis 1992. Brandt, schon durch sein Exil in Norwegen und Schweden während des NS-Regimes, später dann aufgrund seiner Regierungsjahre international gut vernetzt, wollte nach seiner Kanzlerschaft nicht in den Ruhestand gehen, sondern die Sozialdemokratie in der Welt stärken. Dies gelang ihm, wenn auch mit Abstrichen - und ohne bleibenden Erfolg, wie der Historiker Bernd Rother in "Sozialdemokratie global. Willy Brandt und die Sozialistische Internationale in Lateinamerika" veranschaulicht.
Sozialistische Internationale, kurz SI genannt, das klingt nach etwas Großem. Tatsächlich aber war die Organisation in ihren frühen Jahren nach der Gründung 1951 nicht ganz so international, wie es ihr Name versprach, sondern sehr auf Europa, den Alten Kontinent, fokussiert. Allen voran Brandt wollte dies ändern, und die Idee einer weltweiten Vernetzung kam ihm schon Anfang der Siebzigerjahre, als die europäische Sozialdemokratie, wie es Rother gleich zu Beginn in seinem Buch hervorhebt, in voller Stärke war. In Schweden regierte Olof Palme, in Österreich Bruno Kreisky. Felipe González und Mário Soares sollten in Spanien und Portugal folgen. Es waren auch die Errungenschaften der Zeit, die eine Vernetzung über Europa hinaus möglich machten, etwa Telefonverbindungen und ein größeres Angebot an Flügen über die Festlandgrenzen hinweg.
Dass sich die SI in den Jahren Brandts vergrößerte, lag an dessen Strategie, es mit Prinzipien und den Programmen der Mitgliedsparteien nicht ganz so genau zu nehmen. Für die Ausbreitung war das von Nutzen, es barg aber auch das Risiko, in der Heimat angreifbar zu werden, wenn sich herausstellte, dass man in der Ferne mit fragwürdigen Personen kooperierte. Dies war aus Sicht der SI aber nötig, um an Einfluss zu gewinnen, denn das Ziel war kein kleines, wie Rother nach jahrelanger Archivarbeit schreibt. Brandt und die Seinen wollten der Welt zeigen, dass es mehr gab als den Kapitalismus der Vereinigten Staaten und den Kommunismus der Sowjetunion; einen dritten Weg nämlich, den der Sozialdemokratie.
Einen größeren Abschnitt verwendet Rother auf die sandinistische Revolution in Nicaragua, die für die SI zu einem Interessenkonflikt führte. Hier hielt man früh zu den Kämpfern, die den Diktator Anastasio Somoza stürzten, sich aber schon bald selbst als undemokratisch herausstellen sollten. Die neuen Machthaber liebäugelten mit der Sowjetunion, wenngleich auch nur, bis diese vor ihrem Untergang in finanzielle Schwierigkeiten geriet. In der SI war man zunehmend gespalten, wie viel Hoffnungen man auf einen Wandel noch geben konnte. Doch aufgrund ihres Netzwerks an Gesprächspartnern in der Region war die SI, deren Verhältnis zu den Vereinigten Staaten distanziert war, selbst in Washington als Vermittler willkommen, obwohl, das wird auch deutlich, es eher einzelne Köpfe waren, die etwas bewirkten, und weniger die SI selbst. Die war eher ein "Scheinriese", wie Rother schreibt. Ohne die finanziellen Aufwendungen der SPD und die der ihr nahestehenden Friedrich-Ebert-Stiftung wäre wohl nichts gelaufen. Auch drängt sich der Eindruck auf, die SI habe sich oft eher mit sich selbst beschäftigt als mit ihren Ideen. Die einzelnen Mitglieder hatten den Vorteil, international vernetzt zu bleiben, auch ohne in einer Regierung zu sein, was in früheren Zeiten nicht selbstverständlich war. Aber wozu das alles? Konkrete Veränderungen blieben aus.
Es ist eine Schwäche von Rothers Buch, den Niedergang der Organisation nur am Rande zu streifen, ebenso wie den Arabischen Frühling, als einige Völker auch gegen Repräsentanten der SI kämpften. So wurde etwa die noch unter Brandt aufgenommene Staatspartei des tunesischen Machthabers Ben Ali gestürzt, obwohl dieser schon Ende der Achtziger kein lupenreiner Demokrat war. Zwar legt Rother den Fokus auf Lateinamerika, doch ein bisschen mehr hätte man dann doch gerne dazu gelesen, warum Brandts Wirken verpuffte. Heute ist die SI ein Schatten ihrer selbst. Rother schreibt ihr zu Recht ein "kümmerliches Dasein" zu. Die deutsche Presse nimmt schon seit Jahren keine Notiz mehr von ihr. Die letzte nennenswerte Erwähnung in der F.A.Z. stammt aus dem Jahr 2013, als der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel verkündete, die Mitgliedschaft seiner Partei in der SI ruhen zu lassen.
Doch auch außerhalb eines solchen Verbunds wäre es möglich, den Blick wieder nach Lateinamerika zu richten. Die linksliberale Ampelkoalition könnte dort durchaus Verbindungen knüpfen, etwa mit dem gewählten linken Präsidenten in Chile und vielleicht sogar bald mit einem politischen Genossen in Brasilien. Ansonsten verstärken andere ihren Einfluss, wie damals die Sowjetunion und heute China. TIM NIENDORF
Bernd Rother: Sozialdemokratie global. Willy Brandt und die Sozialistische Internationale in Lateinamerika.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021. 470 S., 39,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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