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Ein politischer Denker ist neu zu entdecken: Der Deutsch-Italiener Robert Michels
VON JÜRGEN KAUBE
Vor dem Soziologen liegt eine Verlobungsanzeige. Links steht: "Die Verlobung ihrer Tochter Eva mit Herrn Rittergutsbesitzer A. B. auf Groß-J. b. R. beehren sich anzuzeigen, M. N. und Frau Marie, geb. T." und rechts: "Meine Verlobung mit Fräulein Eva N., einzigen Tochter des Herrn M. N. und seiner Frau Gemahlin Marie, geb. T., beehre ich mich anzuzeigen. Rittergut Groß-J. bei R., A. B."
Was lässt sich an einer so unscheinbaren Mitteilung schon soziologisch ablesen? Wer will, kann die Probe darauf machen und erst einmal nicht weiterlesen, sondern den Text selber zu deuten versuchen. Wir sind im Jahr 1903, der Soziologe heißt Robert Michels, und seine "Analyse einer Verlobungkarte" findet sich jetzt erstmals wieder abgedruckt in einem Band mit Schriften dieses ebenso interessanten wie weitgehend vergessenen Forschers.
Robert Michels war ein Sozialdemokrat, was ihn im wilhelminischen Deutschland seine Habilitation kostete, ein lange Zeit staatenloser, in der Schweiz lehrender, in Italien lebender Parteien- und Nationalismusforscher - er hat 1926 den Begriff "Verfassungspatriotismus" geprägt -, ein Feminist und später ein Anhänger der italienischen Faschisten. 1876 in Köln geboren und 1936 in Rom gestorben, sind seine bekanntesten Arbeiten die "Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie" von 1911 und "Der Patriotismus" von 1929. Jetzt liegt, aufgrund jahrelanger Arbeiten des Berliner Politikwissenschaftlers Timm Genett, erstmals eine Auswahlausgabe der Schriften von Michels vor. Und darin ebenjene Deutung des scheinbar ja gar kein Material für Deutungen hergebenden Textes.
Michels beginnt so: "Der Bräutigam ist also Rittergutsbesitzer." Ob das ein Beruf sei? Landwirt, was der zu einer aktiven Bewirtschaftung des Ritterguts gehörige Titel wäre, fehlt auf der Anzeige. Andererseits scheint doch mehr als Besitz gemeint. "Kanarienvogelbesitzer" stünde wohl kaum in einer Familienanzeige, auch nicht "Besitzer von zweihundert silbernen Löffeln", was der Sache nach eine Analogie zur Größenangabe "Rittergut" wäre. Ausdrücke wie "Großlandwirt" oder "Länderbesitzer" kennt das Deutsche erst gar nicht, aber den Rittergutsbesitzer schon.
Es wird also nicht nur eine Steuerklasse mitgeteilt. Beim Vater der Verlobten hingegen wird gar nichts mitgeteilt. Wer den Herrn M. N. kenne, so fährt Michels fort, der wisse allerdings, dass der Herr M. N. gar nicht berufslos und auch kein bloßer untätiger Besitzer sei, sondern Inhaber eines großen Tuchgeschäftes. Sein Schwiegersohn ist ein Rittergutsbesitzer, er selbst verschweigt seinen Beruf. Für Michels ein Ausdruck von Scham. Kaufleute betitelten sich damals ungern als solche. Das Deutschland hing noch immer der Agrarverfassung und dem feudalen Zierat nach, die es doch längst schon überwunden hatte. Industrielle und Händler seien, so Michels, nur etwas, wenn sie feudale Kreise kopierten.
Und die Verlobte? Sie ist, unterstreicht der Soziologe, "die einzige Tochter" ihrer Eltern. Nicht sie selbst zeigt ihre Verlobung an, die Eltern tun es: "Kettung der Braut an den Willen der Eltern", notiert Michels, "Besitzwechsel aus der Hand des Vaters in die Hand des Bräutigams". Der Anzeige nach zu schließen, verlobe sich der Bräutigam eigentlich mehr mit den Eltern als mit seiner Braut. Dieselbe Inbesitznahme zeige sich auch in damals üblichen Titeln wie "Frau Leutnant", "Frau Geheimrat" oder "Frau Professor", wenn der Ehemann solche Titel führe.
Von den Eltern des Verlobten hingegen erfährt man nichts und vom Verlobten auch nicht, ob er ihr einziges Kind ist. Als Michels seinen Aufsatz veröffentlichte, erhielt die "Frankfurter Zeitung" eine Zuschrift zu jenem "einzig". Darin heißt es, die Angehörigen der Oberschicht seien sich selbst wie den Angehörigen ihrer Kaste eine Erklärung schuldig, wenn sie "nach unten" heirateten. Jenes Wort gebe diese Erklärung: Nur eine einzige Tochter kann die Tatsache ausgleichen, dass ihr Vater kein Rittergutsbesitzer ist. Wer in Frankreich seine Verlobung mit einer "fille unique" ankündige, würde sich hingegen lächerlich machen.
Was es allerdings auch in Frankreich und überall in Europa noch gebe, so Michels, sei die sprachliche Unterscheidung von Frau und Fräulein einerseits (madame/mademoiselle, madame/miss, mefrouw/mejuffrouw) und Herr andererseits, ohne weitere Qualifikation seines Familienstandes. Auch alte Schürzenjäger ohne Trauschein seien Herren, und selbst junge Junggesellen seien keine Herrchen.
"Tempi passati", mag man sagen und die Bewunderung für Michels ' soziologisches Kabinettstückchen von 1903 mit dem Gefühl verbinden, dass diese Ungleichheiten weitgehend beseitigt sind. Doch wer mag, kann ja Verlobungs- und Heiratsannoncen unserer Tage mit demselben Blick ansehen. Es werden sich nicht dieselben, aber andere Merkwürdigkeiten zeigen.
Robert Michels: Soziale Bewegungen zwischen Dynamik und Erstarrung. Essays zur Arbeiter-, Frauen- und nationalen Bewegung. Hrsg. von Timm Genett, Berlin 2008.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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