Die Jugoslawische Außenpolitik und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts nach 1945. Arno Trültzsch beschäftigt sich am Beispiel Jugoslawiens und seiner Aktivitäten in den Vereinten Nationen mit dem Zusammenwirken von Ideologie und Außenpolitik in der Entwicklung des Völkerrechts. Neben der persönlichen Reisediplomatie Titos war die jugoslawische Politik in der Konferenz- und UN Diplomatie verortet - ergänzt um eine dritte Komponente, die bewusst Bezug auf das Völkerrecht nahm. Jugoslawische Rechtsexperten und Diplomaten trugen in vielen Bereichen zur Weiterentwicklung des Völkerrechts bei - so in der Terrorismusproblematik, in den Abrüstungsverhandlungen, bei diversen menschenrechtlichen Resolutionen und Vertragswerken sowie im Völkerstrafrecht. Darüber hinaus benutzte die jugoslawische Diplomatie zusammen mit ihren blockfreien Partnern völkerrechtliche, besonders menschenrechtliche Argumente für gezielte politische Anliegen, wie die Überwindung des Kolonialismus oder die Neuordnung der Weltwirtschaft. Auch wenn dieses Bemühen im Kern zur Sicherung der eigenen Position in einer geteilten Welt diente, hatte die jugoslawische Außenpolitik einen signifikanten Einfluss auf die doktrinäre Entwicklung bzw. die Ideengeschichte des Völkerrechts.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Claus Kreß lässt sich von Arno Trültzsch die Völkerrechtspolitik Jugoslawiens unter Tito erläutern. Für Kreß eine echte Horizonterweiterung, da Jugoslawien als blockfreier Staat das Völkerrecht entscheidend mit veränderte, wenngleich mit handfesten eigenen Interessen, wie er feststellt. Wie der Autor die Rolle Jugoslawiens anhand diplomatischer Dokumente herausarbeitet, findet Kreß überzeugend. Schwächen entdeckt er bei der "rechtsbegrifflichen" Differenzierung, für Kreß ein Hinweis auf die enorme Herausforderung des Stoffes an einen Geisteswissenschaftler wie Trültzsch. Ein weiterer Kritikpunkt ist für den Rezensenten die nicht immer sorgfältige Schlussredaktion des Bandes.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2022Stärkung des Rechts
Wie Titos Jugoslawien mithilfe des Völkerrechts internationale Politik zu machen versuchte
Die Geschichte des Völkerrechts ist wissenschaftlich seit geraumer Zeit en vogue. Martti Koskenniemis um die Jahrtausendwende erschienenes Werk "The Gentle Civilizer of Nations" gilt vielen als die Initialzündung einer verstärkten Hinwendung der Völkerrechtler zur Geschichte ihrer Disziplin. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich dann auch Geschichtswissenschaftler verstärkt dem Völkerrecht zugewandt, in deutscher Sprache monographisch etwa Jörg Fisch mit einem Buch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, Fabian Klose mit einer Geschichte der humanitären Intervention, Kerstin von Lingen und Annette Weinke mit Studien zu Entwicklungslinien des Völkerstrafrechts und Marcus M. Payk mit einer Darstellung der Rolle des Völkerrechts bei den Pariser Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg.
Arno Trültzschs Analyse der Völkerrechtspolitik Jugoslawiens unter Tito fügt sich in diese Reihe ein. Das Thema ist nicht nur deshalb gut gewählt, weil der Autor über die zur Auswertung der jugoslawischen Originaldokumente erforderliche Sprachkompetenz verfügt. Reizvoll ist der Blick auf Jugoslawien vor allem deshalb, weil er den weltpolitischen Kontext des Völkerrechts im Kalten Krieg über die Blockkonfrontation hinaus um eine relevante Dimension erweitert. Denn der 1918 entstandene Staat wirkte unter Tito im Rahmen der seit den 1960er-Jahren zunehmend so genannten Bewegung der blockfreien Staaten ausgesprochen aktiv auf die Stärkung und zugleich auf die inhaltliche Veränderung des Völkerrechts hin.
Von einer Stärkung des Rechts in den internationalen Beziehungen versprach sich Jugoslawien zunächst einmal besseren Schutz. Dieser wurde als dringend empfunden, nachdem man bald nach dem Zweiten Weltkrieg nach eigener Wahrnehmung in eine "doppelte Isolation" gegenüber den beiden die Weltpolitik beherrschenden Staatenblöcken geraten war. Triebfeder des Einsatzes für eine inhaltliche Veränderung war demgegenüber in erster Linie die sozialistische Staatsideologie. Vor dem Hintergrund dieser Interessenlage nahmen die jugoslawischen Diplomaten etwa an den Verhandlungen zur Stärkung des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, an der Fortentwicklung des Völkerrechts der bewaffneten Konflikte und an der Aushandlung von Rüstungskontrollvereinbarungen aktiven Anteil. Auf dem Gebiet des internationalen Menschenrechtsschutzes ging es Jugoslawien wie den anderen sozialistischen Staaten um die Akzentuierung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte, und gemeinsam mit postkolonialen Staaten stritt man für die Erstreckung des Souveränitätsbegriffs auf die natürlichen Ressourcen, für mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit und eine Pflicht "des Nordens" zur Entwicklungshilfe zugunsten des "globalen Südens". Trültzsch versteht es gut, den jugoslawischen Einsatz in allen diesen Fällen aus den diplomatischen Akten nachzuzeichnen, und die Einschätzung, dass man dabei in so manchem Fall auch erfolgreich war, wird jeweils plausibel begründet.
Dabei nahm die jugoslawische Völkerrechtsdiplomatie gelegentlich auch einen Verlust von Normenklarheit in Kauf, um der Verwirklichung eigener völkerrechtspolitischer Überzeugungen näher zu kommen. Die Befürwortung eines juristisch kaum zu fassenden "Rechts auf Entwicklung" ist hierfür ein gutes Beispiel. Spannend zu lesen ist, dass sich die auf allgemeine Anwendung gerichtete Logik des Rechts für Jugoslawiens Völkerrechtspolitik wiederholt als sperrig erwies, nicht zuletzt etwa bei der Aushandlung von völkerrechtlichen Abkommen gegen terroristische Handlungen bei gleichzeitiger Neigung zur Parteinahme selbst für die terroristischen Auswüchse des palästinensischen "Befreiungskampfs".
Schwächen weist das Buch nicht selten dort auf, wo es auf präzise rechtsbegriffliche Unterscheidungen angekommen wäre. So bleibt etwa die Analyse des diplomatischen Ringens um die Formulierungen zu Gewalt- und Aggressionsverbot in den zwei hierfür zentralen Entschließungen der UN-Generalversammlung zu unscharf, um die jugoslawische Völkerrechtsposition an den wichtigsten Streitlinien genau bestimmen zu können. Diese Defizite zeigen die enorme Herausforderung, die es für einen Geschichtswissenschaftler bedeuten muss, sich mit einer Fülle von teils sehr unterschiedlichen völkerrechtlichen Einzelfragen vertraut zu machen, die sich über ein weit verzweigtes Territorium erstrecken.
Am Ende des Buchs, das in formaler Hinsicht eine sorgfältigere Schlussredaktion hätte vertragen können, steht die Feststellung, die Vorstellung sei widerlegt, "dass es sich bei der Völkerrechtsordnung um ein geschlossenes philosophisch-ideeles (sic!) System von rechtlich-moralischen Normen handelt, das zeitlos und universell neben oder über Politik und Zeitgeschichte stünde". Indessen dürfte ein Völkerrechtler, der eine solche Vorstellung hegt, gegenwärtig nicht leicht zu finden sein. Weitaus bedeutsamer ist daher der Befund, dass das heute geltende Völkerrecht zwar in sehr beträchtlichem Umfang "westlichen" Ursprungs ist, dass es inzwischen aber nicht unerheblich über diese anfängliche Imprägnierung hinausweist. Dass blockfreie Staaten, und hier nicht zuletzt Titos Jugoslawien, an dieser Entwicklung durch aktive Völkerrechtspolitik vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen ihren Anteil hatten, belegt das Buch überzeugend.
Hierzu begab sich die jugoslawische Völkerrechtsdiplomatie freilich zunächst einmal auf den Boden der vorgefundenen Völkerrechtsordnung und ihrer Begriffe. Für die Verneinung der Frage "Is International Law International?", die die australische Völkerrechtlerin Anthea Roberts in einer viel beachteten jüngeren Studie gestellt hat, gibt Trültzschs Werk daher ungeachtet des hierin thematisierten intensiven politischen Ringens um das Völkerrecht wenig her. Trültzsch selbst spricht in diesem Zusammenhang - in der Sache treffend, wenn auch nicht eben elegant - von der "transhistorische(n) Kontinuität des Völkerrechts in der Geschichte".
In einem Fall hatte Jugoslawiens Drängen übrigens lange Zeit keinen Erfolg: Auf eine Pflicht zum Schutz von Minderheiten als kollektives Subjekt des Völkerrechts wollten sich die Staaten in ihrer Mehrheit anders als von der jugoslawischen Diplomatie erstrebt partout nicht verpflichten. Einen bemerkenswerten Schritt in diese Richtung machte erst eine 1992 von der UN-Generalversammlung angenommene Empfehlung. Ironie der Geschichte: Den politischen Hintergrund bildete der zwischen den Völkern Jugoslawiens ausgebrochene grausame Kampf, der in den Zerfall des alten Jugoslawiens mündete. CLAUS KRESS
Arno Trültzsch: Sozialismus und Blockfreiheit. Der Beitrag Jugoslawiens zum Völkerrecht 1948 -1980/91.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 450 S., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Titos Jugoslawien mithilfe des Völkerrechts internationale Politik zu machen versuchte
Die Geschichte des Völkerrechts ist wissenschaftlich seit geraumer Zeit en vogue. Martti Koskenniemis um die Jahrtausendwende erschienenes Werk "The Gentle Civilizer of Nations" gilt vielen als die Initialzündung einer verstärkten Hinwendung der Völkerrechtler zur Geschichte ihrer Disziplin. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich dann auch Geschichtswissenschaftler verstärkt dem Völkerrecht zugewandt, in deutscher Sprache monographisch etwa Jörg Fisch mit einem Buch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, Fabian Klose mit einer Geschichte der humanitären Intervention, Kerstin von Lingen und Annette Weinke mit Studien zu Entwicklungslinien des Völkerstrafrechts und Marcus M. Payk mit einer Darstellung der Rolle des Völkerrechts bei den Pariser Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg.
Arno Trültzschs Analyse der Völkerrechtspolitik Jugoslawiens unter Tito fügt sich in diese Reihe ein. Das Thema ist nicht nur deshalb gut gewählt, weil der Autor über die zur Auswertung der jugoslawischen Originaldokumente erforderliche Sprachkompetenz verfügt. Reizvoll ist der Blick auf Jugoslawien vor allem deshalb, weil er den weltpolitischen Kontext des Völkerrechts im Kalten Krieg über die Blockkonfrontation hinaus um eine relevante Dimension erweitert. Denn der 1918 entstandene Staat wirkte unter Tito im Rahmen der seit den 1960er-Jahren zunehmend so genannten Bewegung der blockfreien Staaten ausgesprochen aktiv auf die Stärkung und zugleich auf die inhaltliche Veränderung des Völkerrechts hin.
Von einer Stärkung des Rechts in den internationalen Beziehungen versprach sich Jugoslawien zunächst einmal besseren Schutz. Dieser wurde als dringend empfunden, nachdem man bald nach dem Zweiten Weltkrieg nach eigener Wahrnehmung in eine "doppelte Isolation" gegenüber den beiden die Weltpolitik beherrschenden Staatenblöcken geraten war. Triebfeder des Einsatzes für eine inhaltliche Veränderung war demgegenüber in erster Linie die sozialistische Staatsideologie. Vor dem Hintergrund dieser Interessenlage nahmen die jugoslawischen Diplomaten etwa an den Verhandlungen zur Stärkung des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, an der Fortentwicklung des Völkerrechts der bewaffneten Konflikte und an der Aushandlung von Rüstungskontrollvereinbarungen aktiven Anteil. Auf dem Gebiet des internationalen Menschenrechtsschutzes ging es Jugoslawien wie den anderen sozialistischen Staaten um die Akzentuierung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte, und gemeinsam mit postkolonialen Staaten stritt man für die Erstreckung des Souveränitätsbegriffs auf die natürlichen Ressourcen, für mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit und eine Pflicht "des Nordens" zur Entwicklungshilfe zugunsten des "globalen Südens". Trültzsch versteht es gut, den jugoslawischen Einsatz in allen diesen Fällen aus den diplomatischen Akten nachzuzeichnen, und die Einschätzung, dass man dabei in so manchem Fall auch erfolgreich war, wird jeweils plausibel begründet.
Dabei nahm die jugoslawische Völkerrechtsdiplomatie gelegentlich auch einen Verlust von Normenklarheit in Kauf, um der Verwirklichung eigener völkerrechtspolitischer Überzeugungen näher zu kommen. Die Befürwortung eines juristisch kaum zu fassenden "Rechts auf Entwicklung" ist hierfür ein gutes Beispiel. Spannend zu lesen ist, dass sich die auf allgemeine Anwendung gerichtete Logik des Rechts für Jugoslawiens Völkerrechtspolitik wiederholt als sperrig erwies, nicht zuletzt etwa bei der Aushandlung von völkerrechtlichen Abkommen gegen terroristische Handlungen bei gleichzeitiger Neigung zur Parteinahme selbst für die terroristischen Auswüchse des palästinensischen "Befreiungskampfs".
Schwächen weist das Buch nicht selten dort auf, wo es auf präzise rechtsbegriffliche Unterscheidungen angekommen wäre. So bleibt etwa die Analyse des diplomatischen Ringens um die Formulierungen zu Gewalt- und Aggressionsverbot in den zwei hierfür zentralen Entschließungen der UN-Generalversammlung zu unscharf, um die jugoslawische Völkerrechtsposition an den wichtigsten Streitlinien genau bestimmen zu können. Diese Defizite zeigen die enorme Herausforderung, die es für einen Geschichtswissenschaftler bedeuten muss, sich mit einer Fülle von teils sehr unterschiedlichen völkerrechtlichen Einzelfragen vertraut zu machen, die sich über ein weit verzweigtes Territorium erstrecken.
Am Ende des Buchs, das in formaler Hinsicht eine sorgfältigere Schlussredaktion hätte vertragen können, steht die Feststellung, die Vorstellung sei widerlegt, "dass es sich bei der Völkerrechtsordnung um ein geschlossenes philosophisch-ideeles (sic!) System von rechtlich-moralischen Normen handelt, das zeitlos und universell neben oder über Politik und Zeitgeschichte stünde". Indessen dürfte ein Völkerrechtler, der eine solche Vorstellung hegt, gegenwärtig nicht leicht zu finden sein. Weitaus bedeutsamer ist daher der Befund, dass das heute geltende Völkerrecht zwar in sehr beträchtlichem Umfang "westlichen" Ursprungs ist, dass es inzwischen aber nicht unerheblich über diese anfängliche Imprägnierung hinausweist. Dass blockfreie Staaten, und hier nicht zuletzt Titos Jugoslawien, an dieser Entwicklung durch aktive Völkerrechtspolitik vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen ihren Anteil hatten, belegt das Buch überzeugend.
Hierzu begab sich die jugoslawische Völkerrechtsdiplomatie freilich zunächst einmal auf den Boden der vorgefundenen Völkerrechtsordnung und ihrer Begriffe. Für die Verneinung der Frage "Is International Law International?", die die australische Völkerrechtlerin Anthea Roberts in einer viel beachteten jüngeren Studie gestellt hat, gibt Trültzschs Werk daher ungeachtet des hierin thematisierten intensiven politischen Ringens um das Völkerrecht wenig her. Trültzsch selbst spricht in diesem Zusammenhang - in der Sache treffend, wenn auch nicht eben elegant - von der "transhistorische(n) Kontinuität des Völkerrechts in der Geschichte".
In einem Fall hatte Jugoslawiens Drängen übrigens lange Zeit keinen Erfolg: Auf eine Pflicht zum Schutz von Minderheiten als kollektives Subjekt des Völkerrechts wollten sich die Staaten in ihrer Mehrheit anders als von der jugoslawischen Diplomatie erstrebt partout nicht verpflichten. Einen bemerkenswerten Schritt in diese Richtung machte erst eine 1992 von der UN-Generalversammlung angenommene Empfehlung. Ironie der Geschichte: Den politischen Hintergrund bildete der zwischen den Völkern Jugoslawiens ausgebrochene grausame Kampf, der in den Zerfall des alten Jugoslawiens mündete. CLAUS KRESS
Arno Trültzsch: Sozialismus und Blockfreiheit. Der Beitrag Jugoslawiens zum Völkerrecht 1948 -1980/91.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 450 S., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Trültzsch versteht es gut, den jugoslawischen Einsatz (...) aus diplomatischen Akten nachzuvollziehen« (Claus Kress, FAZ, 01.02.2022) »eine spannende Studie« (Sabina Ferhadbegovic, Connections, 13.05.2022)