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Herrschaft fällt nicht vom Himmel: Rebekka Klein bringt die politische Philosophie in Verlegenheit
In seiner Gesellschaftsvertragslehre vollzieht Hobbes einen folgenschweren Bruch mit dem politischen Aristotelismus. Während der Mensch für Aristoteles von Natur aus ein politisches Lebewesen ist, gilt er Hobbes als ein genuin apolitischer Selbsterhaltungsakrobat. Der konstruktive Dreischritt "Naturzustand-Vertragsschluss-Staat" nimmt der politischen Herrschaft ihren Charakter als sozialontologisches Apriori. In den Worten der evangelischen Theologin Rebekka Klein hält der Naturzustand vielmehr "ein ,konstitutives Außerhalb' der Identität und Totalität sozialer und politischer Ordnungsformen in der Reflexion auf die Herausbildung von Herrschaft präsent".
Zwar verwendet Hobbes große Mühe darauf, die Entscheidung zur Etablierung eines Herrschaftsverbandes als rational zwingend darzustellen. Die Natur des Menschen sei so beschaffen, dass erst seine Unterwerfung unter einen mit umfassender Herrschaftsmacht ausgestatteten Souverän ihm den ersehnten Frieden zu verschaffen vermöge. Wie Klein hervorhebt, gerät diese Begründungsstrategie jedoch ins Wanken, sobald sich die Einsicht durchsetzt, dass die menschliche Natur "kein objektiver Bezugspunkt außerhalb der sozialen Ordnungsmuster und institutionellen Rahmenbedingungen der Gesellschaft sein kann, sondern vielmehr mit diesen zusammen geschichtlich geworden ist". Diese Historisierung des vermeintlich Natürlichen stellt die am Modell des Gesellschaftsvertrags festhaltenden Philosophen vor ein gravierendes Problem. Sie führt dazu, dass die politische Philosophie sich als außerstande erweist, den von ihr angemahnten Legitimationsbedarf von Herrschaft überzeugend zu stillen. Wenn sich nämlich das von der Gesellschaftsvertragslehre vorausgesetzte "konstitutive Außerhalb" in der Wirklichkeit nicht auffinden lässt, läuft das Begründungsprogramm dieser Auffassung notwendigerweise leer.
Aus diesem Dilemma findet man nur heraus, indem man das "Außerhalb" an einer Instanz festmacht, die wegen ihres überzeitlichen Charakters, kraft dessen sie sich von Ewigkeit zu Ewigkeit gleich bleibt, jeder Historisierung entzogen ist. Als Rettungsanker für eine Konzeption, die angetreten ist, um eine dezidiert säkulare Form der Herrschaftsbegründung zu ermöglichen, bietet sich somit Gott an.
Wie Klein zeigt, zieht die theologische Sicht der menschlichen Sozialität bedeutsame Verschiebungen der gewohnten Denkmuster nach sich. Sie zeichnet sich dadurch aus, "dass sie den Menschen und seine sozialen Lebensstrukturen stets im Lichte einer dritten Größe, nämlich der Gegenwart Gottes in dieser Welt, thematisiert". Damit läuft sie auf eine radikale Entsäkularisierung der gängigen Begründungsmuster der praktischen Philosophie hinaus. Der achtsame und fürsorgliche Umgang mit anderen Menschen, den das Christentum im Begriff der Nächstenliebe zusammenfasst, ist danach "keine besondere Form einer allgemeinen Menschenliebe, bei der etwa in jedem Menschen die Menschheit in seiner Person geachtet wird". Die Nächstenliebe erweist sich vielmehr "als ein dyadisches Liebesverhältnis, in dem sich die Liebenden nicht primär zueinander verhalten, sondern jeder einzelne sich zuerst zu Gott verhält, um sich von seinem Gottesverhältnis her dem anderen zuzuwenden".
Auf den ersten Blick scheint diese von Kierkegaard inspirierte Konzeption die konkrete Gegenständlichkeit des Mitmenschen zugunsten einer einseitig himmelwärts gerichteten Lebensführung zu negieren. So ist es aber keineswegs. Nicht Indifferenz gegenüber dem Schicksal des je konkreten anderen, sondern die kompromisslose Betonung der Gleichheit aller Menschen vor Gott bildet den Kern von Kleins Verständnis der Nächstenliebe. Christliche Nächstenliebe lässt sich demnach weder von der physischen noch von der moralischen Depravierung eines Mitmenschen beirren. Wie armselig und hässlich sich der andere auch immer präsentieren mag, er bleibt doch immer ein Nächster Gottes. Der Christ freut sich deshalb selbst dann nicht über die Tötung eines Menschen, wenn es sich bei diesem um den meistgesuchten Terroristen der Welt handelt.
Der "phänomenale Überschuss der theologischen Berufung auf Gott" liegt in der Lesart Kleins darin, dass sie es erlaubt, die "Immanenz der sozialen Ordnungsmuster" zu überschreiten. Diese Eigenschaft entzieht eine theologisch inspirierte Sozialphilosophie à la Klein freilich von vornherein jeder politischen Domestizierbarkeit. Eine derart radikal verstandene Nächstenliebe taugt daher nicht als soziales oder politisches Ordnungsprinzip. Auch durch die Zuhilfenahme Gottes lässt sich das "konstitutive Außerhalb" der Gesellschaftsvertragslehre folglich nicht in brauchbarer Weise fixieren.
Dieser Befund spricht dafür, ernsthaft darüber nachzudenken, ob nicht eine Absenkung der Legitimationsanforderungen an politische Herrschaft auf deren vorhobbesianisch-aristotelisches Niveau geboten ist. Nicht ob Herrschaft überhaupt sein darf, sondern nur wie sie institutionell auszugestalten ist, wäre demnach das Thema der politischen Philosophie. Der Theologie aber obläge es, die Erinnerung daran wachzuhalten, dass aus der Perspektive Gottes keine Herrschaft frei von Lieblosigkeit ist.
MICHAEL PAWLIK.
Rebekka Klein (Hrsg.): "Sozialität als Conditio Humana". Eine interdisziplinäre Untersuchung zur Sozialanthropologie in der experimentellen Ökonomik, Sozialphilosophie und Theologie.
Edition Ruprecht, Göttingen 2010. 325 S., geb., 48,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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