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Von der krankmachenden Lust an immer neuen Verbindungen: Urs Stäheli untersucht den Aktivitätszwang digitaler Kulturen und denkt über Möglichkeiten der Entnetzung nach.
Was lässt sich mit einem Netz bewirken? Für den Ethnologen Julius Lips waren Fang- und Haltenetze in seinen 1927 erschienenen "Fallensystemen der Naturvölker" noch eindeutig als Falle zu beschreiben. Sein Kollege Sture Lagercrantz erwiderte zehn Jahre später, dass es sich beim Netzgebrauch lediglich um eine "fallenähnliche Fangmethode" handele. Netze waren im ethnologischen Wissen lange ambivalente, weil verschlingende, verfangende oder gar niederschlagende Objekte materieller Kultur. Soziale Netzwerke beflügelten hingegen in einer Konjunktur, die seit den 1930er Jahren bis in die Gegenwart andauert, kulturelle Praxis, Medientechniken und Wissenschaften meist positiv.
Gelegentlich ist dem allzu enthusiastischen Netzwerken Skepsis entgegengebracht worden, am deutlichsten in den gemeinsamen Studien von Luc Boltanski und Ève Chiapello. Den "Neuen Geist des Kapitalismus" verorteten beide bereits 1999 in der Organisation flexibler, neoliberal formierter Netzwerke. Mit Urs Stäheli hat nun ein systemtheoretisch geprägter Medien- und Sozialtheoretiker eine avancierte Soziologie der Entnetzung vorgelegt. Wie Boltanski und Chiapello liest Stäheli dafür aktuelle organisationstheoretische Literatur, die nunmehr Ratschläge zur Entnetzung erteilt. Zu viele Meetings und zu viel analoge wie digitale Netzwerkarbeit kommen schnell an ihre koordinativen Grenzen.
Entnetzung, so einer der durchgehenden Befunde, muss unter digitalen Bedingungen räumlich und vor allem zeitlich organisiert werden. Sie stellt sich nicht von selbst ein; einer Rückkehr zu vermeintlich entschleunigter, unvernetzter und analoger Sozialität erteilt das Buch durchgängig eine Absage. Sogar Einladungen zum "digital detox" folgen immer noch den Verbindungslogiken, die für einen Moment suspendiert werden sollen. Wer sein Smartphone gezielt ein Wochenende abgibt, tut dies unter dem Motto "Disconnect to reconnect".
Plausibel wird die Soziologie der Entnetzung in einer Vielzahl von Fallstudien, etwa einem instruktiven Kapitel zur Figur des Schüchternen, in Bemerkungen zum Ladenhüter als entnetztem Ding und zur fragilen Zeitlichkeit digitaler Datenströme, die auf ständiges Zwischenspeichern angewiesen bleiben. Stäheli hinterfragt dergestalt den ständigen Aktivitätszwang in digitalen Kulturen. Am überzeugendsten ist seine Argumentation immer dann, wenn sie die konkreten Praktiken, Imaginationen und Infrastrukturen des temporären Entnetzens in Anschlag bringt: War die offene Bürolandschaft der falsche Weg? Brauchen Organisationen den gelegentlichen Leerlauf? Ist digitaler Verfall von Daten der Normalzustand?
Mit spürbarer Lust führt der Autor durch einen breiten Parcours von Entnetzungspraktiken: Ob nun in Science-Fiction-Szenarien wie einem auf menschlichen Boten basierenden "sneakernet" oder in Szenarien der Wahrung sicherheitspolitischer Interessen, die bis hin zum internetabschaltenden "Kill Switch" oder abgeschlossenen nationalen Netzen reichen. "Wir können das Netz, in dem wir stehen, nicht zuziehen", hat Walter Benjamin einmal in erzähltheoretischer Absicht formuliert. Mit Stähelis listiger Studie ist aber zumindest einem allzu einseitigen Vernetzungsenthusiasmus eine medien- und sozialtheoretische Falle gestellt.
Als Netzwerkkritik greift der Text auffällig oft auf medizinisches Vokabular zurück, gerade wenn er von ökonomischen und soziotechnischen Phänomenen handelt. So diagnostiziert Stäheli, mit einem Terminus des Architekturtheoretikers Mark Wigley, vielerorts ein "Netzwerkfieber". Netzwerke sind dabei Antrieb und Ausdruck paranoiden Denkens und Operierens. Zugleich konstatiert Stäheli eine große Erschöpfung, ausgelöst durch eine "krankmachende Lust an der Herstellung von immer neuen Verbindungen".
Obwohl das Buch weder Zeitdiagnose noch Entnetzungsratgeber sein will, lässt es sich in vielen Passagen als kollektive Psychoanalyse lesen. Auch Zersetzungsmetaphern wie "digital decay" oder "rubble" greifen auf eine Sprache zurück, die Organisches und Materielles miteinander verbindet. Die letzte Grenze der digitalen Netzwerke scheinen erschöpfte Körper und der allgegenwärtige Datenmüll zu sein.
Als schrittweise vorgehende Suche nach kulturellen Reserven erzählt diese "Soziologie der Entnetzung" vielleicht mehr über digitale Lebenswelten, als uns lieb sein kann. Sie ist, ganz ohne plakativen Bezug zur Corona-Pandemie, fraglos aktuell.
SEBASTIAN GIESSMANN
Urs Stäheli: "Soziologie der Entnetzung".
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021. 551 S., br., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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