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Anja Röcke analysiert Konzepte der Selbstoptimierung
Mittlerweile wird gern vor dem Ziel permanenter Selbstoptimierung gewarnt, vor dem Glauben, seine kognitiven und körperlichen Fähigkeiten durch den Konsum von Psychopharmaka und Aufputschmitteln, durch den Einsatz von Geräten zur Selbstvermessung oder sogar durch gentechnische Eingriffe verbessern zu können. Dergleichen treibe immer mehr Menschen als Folge wachsenden Leistungsdrucks in Burnout oder Depression. Doch trotz solch düsterer Winke erhoffen sich vor allem Jüngere, Männer wie Frauen, von Selbstoptimierung bessere Chancen im beruflichen Konkurrenzkampf, Fitness, Gesundheit, auch Steigerung des Selbstwertgefühls, wenn sich schnelle, messbare Erfolge einstellen.
Wodurch aber unterscheidet sich Selbstoptimierung von anderen Methoden, intellektuelle, mentale oder physische Kompetenzen zu verbessern, etwa Praktiken der Selbstdisziplinierung und Selbstkontrolle, wie sie in vielen Religionen entwickelt und seit langem in der Ratgeberliteratur zur Kunst des guten Lebens empfohlen werden? Antwort auf diese Frage verspricht die Berliner Sozialwissenschaftlerin Anja Röcke in ihrer "Soziologie der Selbstoptimierung".
Selbstoptimierung wird von Röcke reichlich abstrakt definiert "als eine Form kompetitiver Subjektivität, die in wachsendem Maße auf quantifizierenden Formen des sozialen Vergleichs beruht". Spezifisch seien die konsequente Orientierung am individuellen Erfolg, das Fehlen eines religiösen, oft auch eines spirituellen Bezugs. Das Streben, sich immer aufs Neue zu optimieren, schließe die Möglichkeit aus, jemals ein Optimum zu erreichen. Selbstoptimierung werde zur neuen Bürgerpflicht, vor allem bei den in "Kreativbranchen" arbeitenden Angehörigen der akademisch ausgebildeten urbanen Mittelschicht.
Röckes Arbeit ist der Versuch der genealogischen Rekonstruktion des seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Soziologie und Psychologie aufkommenden Begriffs der Selbstoptimierung, keine empirische Studie. An aussagekräftigen Zahlen zur Verbreitung diverser Psychotechniken, zum Konsum leistungssteigernder Drinks oder Tabletten, zu Schönheitsoperationen und minimalinvasiven Eingriffen mangelt es ohnehin. Überzeugend ist die Darstellung, wenn Röcke die Differenzen zu verwandten Begriffen und Ideen analysiert, etwa zu Foucaults Arbeiten über Lebenskunst und Selbstsorge in der Antike, zu Max Webers Analysen kapitalistischer Rationalisierung oder auch zu Idealen humanistischer Bildung.
Bei Praktiken der Selbstoptimierung wechselt häufig das Ziel, das man erreichen möchte, denn wer erfolgreich sein will, muss flexibel sein und erkennen, was der Markt verlangt. Unveränderlich ist nur die Konkurrenz um Anerkennung in der modernen Arbeitswelt. Wie Andreas Reckwitz - in "Die Gesellschaft der Singularitäten" und "Das Ende der Illusionen" - interpretiert Röcke die Maxime der Selbstoptimierung als spannungsreiche Synthese zweier Traditionen, des klassisch-bürgerlichen Leistungsethos und des von der Romantik inspirierten Wunsches nach Authentizität und Selbstverwirklichung. Nicht die beflissene Erfüllung von Pflichten verbessert die Chancen auf sozialen Aufstieg und Anerkennung, sondern die Fähigkeit, sich selbst als kreativ darzustellen, sich von Konkurrenten abzuheben, zugleich aber alle Erwartungen erfüllen zu können.
Utopien oder Dystopien der eugenischen Züchtung eines neuen Menschen, wie sie nicht erst seit Nietzsche durch die Kulturgeschichte geistern, werden von Röcke nur am Rande erwähnt, so auch die Debatten um Chancen und Risiken der Präimplantationsdiagnostik, gentechnische Manipulationen am Erbgut und "Designerbabys". Dennoch bietet ihre akademische Fleißarbeit - eine nüchterne Analyse und nicht, wie oft bei diesem Thema, ein kulturkritisches Lamento - einen guten Überblick über die Diskussion zu sozialen und psychischen Aspekten der Selbstoptimierung.
GERD SCHRADER.
Anja Röcke: "Soziologie der Selbstoptimierung".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
250 S., br., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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