29,99 €
inkl. MwSt.
Sofort per Download lieferbar
  • Format: ePub

Im Jahr 1966 fällt der Startschuß für eine einzigartige Karriere in der deutschsprachigen Soziologie: Niklas Luhmann wird an der Universität Münster nicht nur promoviert und habilitiert, sondern beginnt auch umstandslos mit der Präsentation seines Programms einer Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Systemen. In nur vier Jahren entwirft er in beeindruckender Souveränität die Grundlagen seines Forschungsprogramms der nächsten Jahrzehnte. Die ausführlichen Vorlesungsskripte, die Luhmann beim Verfertigen seiner Theoriegrundlagen und ihrer ersten Anwendung auf Politik und Recht zeigen, werden hier erstmals aus dem Nachlaß publiziert.…mehr

Produktbeschreibung
Im Jahr 1966 fällt der Startschuß für eine einzigartige Karriere in der deutschsprachigen Soziologie: Niklas Luhmann wird an der Universität Münster nicht nur promoviert und habilitiert, sondern beginnt auch umstandslos mit der Präsentation seines Programms einer Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Systemen. In nur vier Jahren entwirft er in beeindruckender Souveränität die Grundlagen seines Forschungsprogramms der nächsten Jahrzehnte. Die ausführlichen Vorlesungsskripte, die Luhmann beim Verfertigen seiner Theoriegrundlagen und ihrer ersten Anwendung auf Politik und Recht zeigen, werden hier erstmals aus dem Nachlaß publiziert.

Autorenporträt
Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und starb am 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Im Alter von 17 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolvierte seine Referendarausbildung. 1952 begann er mit dem Aufbau seiner berühmten Zettelkästen. Von 1954 bis1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, danach als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. Luhmann erhielt 1960/1961 ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. 1964 veröffentlichte er sein erstes Buch Funktionen und Folgen formaler Organisation. 1965 wird Luhmann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt. 1966 wurden Funktionen und Folgen formaler Organisation sowie Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung als Dissertation und Habilitation an der Universität Münster angenommen. Von 1968 bis 1993 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1997 erschien sein Hauptwerk, das Resultat dreißigjähriger Forschung: Die Gesellschaft der Gesellschaft.

Christoph Gesigora ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Akademieprojekts »Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses« an der Universität Bielefeld.

André Kieserling ist Professor für allgemeine Soziologie und soziologische Theorie an der Universität Bielefeld und Leiter des Akademieprojekts Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses an der Universität Bielefeld.

Johannes Schmidt ist wissenschaftlicher Koordinator des Akademieprojekts »Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses« an der Universität Bielefeld.

Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit Niklas Luhmann verhält es sich ähnlich wie Michel Foucault. Er bleibt auch nach seinem Tod ungeheuer produktiv, und der Suhrkamp Verlag kann einen neuen Band nach dem anderen raushauen, freut sich Rezensent Peter Laudenbach. Hier nun also die Vorlesungen aus den bewegten Jahren 1966 bis 1970, die er teils in Frankfurt in Vertretung Adornos hielt. Für Laudenbach ist das so ein Leseglück, weil Luhmann hier doch noch eine "deutlich stärkere Bodenhaftung" aufweise als in seinen späteren, teil sehr abstrakten Hauptwerken. Wenn Luhmann etwa beschreibt, dass eine schlecht gemanagte Organisation "durch ihre eigene Arbeitslogik den Verkehr mit Nichtmitgliedern erschwert, also Probleme schafft, die ihre Außenbeziehungen belasten", dann hat er für Laudenbach damit schon das Problem heutiger Callcenter und labyrinthischer FAQs beschrieben. Luhmann erweist sich für Laudenbach auch in diesen frühen Texten vor allem als ein hervorragender Organisationssoziologe, der mit Ironie und Präzision das Funktionieren und Versagen größerer Institutionen beschreibt. Wie übrigens Foucault betrachtet Luhmann dabei Marx, der zu seiner Zeit so en vogue war, als "erloschenen Vulkan", aber konservativ war er laut Laudenbach nicht, zwar liebe er Institutionen - auch die der Ehe etwa -, aber er feiere die Hierarchie nicht, er durchschaue sie.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Die ... frühen Vorlesungen bieten einen hervorragenden Einstieg in Niklas Luhmanns Theorie- und Begriffsentwicklung, sozusagen die ersten, schon sehr präzise ausgearbeiteten und weiträumig angelegten Entwurfszeichnungen ... [Sie bieten] nebenbei das Vergnügen, das subversive Potential Niklas Luhmanns zu entdecken.« Peter Laudenbach Süddeutsche Zeitung 20240815

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.08.2024

Ohne Ehe kein Ehebruch, schade
Soziologie war für Niklas Luhmann die Beschreibung des Wirklichen, nicht des Richtigen.
Seine frühen Vorlesungen sind der perfekte Einstieg in ein Denken, mit dessen Hilfe sich immer noch vieles klarer sehen lässt.
VON PETER LAUDENBACH
Luhmann zu lesen ist ein wenig, wie Techno zu hören: Man muss schon etwas länger dabeibleiben, um zu verfolgen, wie das Mastermind der Systemtheorie, einer der wichtigsten Soziologen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, seine Theorie-Module entwickelt. Der Sound klingt am Anfang fremd, aber nach den ersten 400 bis 500 Seiten kommen Luhmanns Begriffe wie gute Bekannte vorbei, die das Denken zuverlässig sortieren: Komplexitätsreduktion! Funktionale Äquivalenz! Struktur als generalisierte Verhaltenserwartung! Im „Archipel Luhmann“ (Peter Sloterdijk) ist alles immer schon da, jede Begriffsdefinition verweist in der selbsttragenden Konstruktion dieser Theorie-Kathedrale auf alle anderen. Das steigert natürlich die Neugier auf die Anfänge dieses Großprojekts soziologischer Aufklärung mit dem von Beginn an formulierten universellen Anspruch, „alle sozialen Sachverhalte mit einem begrenzten Schatz an begrifflichen Hilfsmitteln zu bearbeiten“.
Die jetzt veröffentlichten frühen Vorlesungen bieten einen hervorragenden Einstieg in Niklas Luhmanns Theorie- und Begriffsentwicklung, sozusagen die ersten, schon sehr präzise ausgearbeiteten und weiträumig angelegten Entwurfszeichnungen dessen, was er knapp zwei Jahrzehnte später im Untertitel seines Hauptwerks den „Grundriss einer allgemeinen Theorie“ nennen wird. Mit dem programmatischen Titel seiner Antrittsvorlesung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Januar 1967, also noch vor seiner Berufung an die frisch gegründete Universität Bielefeld, ist der dezidiert nüchterne Tonfall des Lebenswerkes gesetzt: „Abklärung der Aufklärung“.
Unter Überhitzung leidende Ideologien, etwa „die erloschenen Vulkane des Marxismus“ oder eine „Entlarvungsaufklärung“, sind für ihn nicht viel mehr als Restbestände versunkener Epochen. In einer Einführungsvorlesung treibt Luhmann den Studierenden gleich mal die normativen Flausen aus, wenn er festhält, Soziologie sei „die Beschreibung des Wirklichen, nicht des Richtigen. Und das Wirkliche soll nicht als vernünftig genommen werden“.
Das liest sich natürlich wie die Vorwegnahme seiner spöttischen Kommentare in der späteren Auseinandersetzung mit der Diskursethik seines Antipoden Jürgen Habermas. Mit der Edition der Vorlesungen der Jahre 1966 bis 1970 setzt der Suhrkamp-Verlag den Strom an Veröffentlichungen aus dem offenbar unerschöpflichen Nachlass des 1998 verstorbenen Soziologen fort. Wie die früheren, vom Bielefelder Soziologen André Kieserling aus dem Nachlass herausgegebenen Publikationen laden auch die Vorlesungen zur Entdeckung der ungehobenen Schätze des enorm reichen, in seiner Bedeutung lange unterschätzten Frühwerks ein.
Luhmann selbst hat mit der Bemerkung, alle Arbeiten vor dem 1984 erschienenen Hauptwerk „Soziale Systeme“ (und das sind sehr viele) seien nur die „Nullserie“ seiner Theorieproduktion, zu dieser Fehleinschätzung beigetragen. Sie verstellt den Blick auf Arbeiten, in denen die Abstraktionsgrade noch nicht solche Höhenlagen erreichen, dass „der Flug über den Wolken stattfinden“ muss, wie Luhmann seine Leser im Vorwort von „Soziale Systeme“ warnt: „Es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen.“ Im Spätwerk wird mit den „Abstraktionsgewinnen“ (eine Lieblingsvokabel Luhmanns) dank Autopoiesis und Formkalkül die Luft sehr dünn. Die frühen Vorlesungen halten dagegen deutlich stärkere Bodenhaftung. In der Vorlesung zur Organisationssoziologie zum Beispiel stößt man andauernd auf Beobachtungen, die wirken, als würden sie direkt an heutige Erfahrungen mit mehr oder weniger dysfunktionalen Organisationen anknüpfen. Wer als Kunde in Callcenter-Warteschleifen hängt oder aufgefordert wird, endlose Kontaktformulare auszufüllen, kennt das Problem, dass sich eine schlecht gemanagte Organisation „durch ihre eigene Arbeitslogik den Verkehr mit Nichtmitgliedern erschwert, also Probleme schafft, die ihre Außenbeziehungen belasten. Das ist ein typischer Fall widersprüchlicher Systeminteressen. Die Organisation hat Interesse, es zu tun und es nicht zu tun“.
Behörden oder Unternehmen wie die Postbank, Internetprovider oder Versandhändler wollen ihren Kunden Kommunikationskanäle anbieten, sich davon aber nicht stören lassen. Dank Luhmann weiß man jetzt wenigstens, wie es dazu kommt. Noch ein Beispiel: Luhmann beobachtet, dass „eine Unterausstattung mit Formalität“, also der Mangel formaler Regelungen der Abläufe in einer Organisation, „eine Aufblähung des Konsensbedarfs und des Zeitbedarfs zur Folge“ haben kann. Das ist der Preis schlecht gebauter flacher Hierarchien: Was nicht geregelt ist, muss endlos debattiert werden, bis alle einverstanden oder müde sind. Weil das Zeit und Nerven kostet und nebenbei unkontrollierten Einflussnahmen Tür und Tor öffnet, brauchen zum Beispiel Start-ups ab einer gewissen Größe formale Strukturen.
An einer anderen Stelle konstatiert Luhmann, dass die professionellen Standards der Berufsausübung „häufig in mehr oder weniger starker Diskrepanz zu den offiziellen Organisationszielen“ stehen. Wer seine Arbeit gut machen will, bekommt leicht Ärger, wenn es eher um zügiges Abarbeiten, Kostensenkungsprogramme, das Jonglieren mit einer dünnen Personaldecke oder lediglich die Wahrung des formal korrekten Scheins geht. Überarbeitete Klinikärztinnen, Bahn-Mitarbeiter und Lehrerinnen an der Burn-out-Grenze dürften wissen, wovon die Rede ist.
Die frühen Vorlesungen markieren den Beginn von Luhmanns akademischer Laufbahn, nachdem er 1966 relativ unkonventionell innerhalb eines Jahres promoviert und habilitiert wurde. Seinen exzessiven Theorieinteressen ist der Verwaltungsjurist bis dahin als Referent am niedersächsischen Kulturministerium nach Feierabend oder als Stipendiat an der Harvard-Universität nachgegangen. Eine Frucht des Harvard-Aufenthalts wie seiner teilnehmenden Beobachtung der öffentlichen Verwaltung ist 1964 eine bahnbrechende organisationssoziologische Studie, „Funktion und Folgen formaler Organisation“. Dort kann man fasziniert das bunte Treiben im Unterholz der Organisation verfolgen und ist anschließend für alle Zeiten von der naiven Vorstellung geheilt, Organisationen seien reibungslos funktionierende Maschinen. Die Vorlesungen zur Organisationssoziologe profitieren von dieser Studie. Andere Vorlesungen sind Einführungen in Luhmanns Kernthemen: Theorie der Gesellschaft, soziale Systeme, politische Soziologie, Rechtssoziologie, Interaktion.
Nicht nur in Luhmanns Biografie, auch in der Geschichte der Bundesrepublik markieren die Jahre der hier vorgelegten Vorlesungen eine Zäsur. Die politisch bewegten Zeiten finden in den Vorlesungen nur in Form knapper Distanzierungsgesten ein Echo. Als Luhmann im turbulenten Wintersemester 1968/69 an der Frankfurter Universität Adorno vertritt (übrigens auf Wunsch und Einladung Adornos), kann er sich eine kleine Spitze gegen die protestierenden Studenten nicht verkneifen. Er attestiert ihnen eine dürftige Theorie-Grundausstattung, mit der es ihnen „nicht gelingt, das, was sie lernen, in eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft umzusetzen“. Stattdessen demonstrieren die antiautoritären Aufwallungen in Luhmanns Augen nur ein „hoffnungslos naives Situationsverständnis“. Das Anliegen der Kritischen Theorie fasst Luhmann mit einem müden Stoßseufzer nicht ganz fair so zusammen: „Emanzipation, Freiheit von jeder fremden Festlegung werden verabsolutiert in Form von permanenter Kritik.“ Das wird ungerührt und wie im Vorbeigehen als „die letzte Phase des Todeskampfes der alteuropäischen Tradition“ abgehakt.
Ähnlich trocken reagiert Luhmann auf die Befreiungsversprechen dessen, was man damals „sexuelle Revolution“ nannte – für den Soziologen eine Art zivilisatorischer Rückfall, „die Reduktion einer im ganzen sinnvollen Moral auf die Vielfältigkeit des nach der Natur des Menschen Möglichen“. Der Ironiker sieht in der Aushöhlung der Institution der Ehe mit Bedauern die „Zerstörung gegeninstitutionellen Verhaltens“. Ohne Ehe kein Ehebruch, und das wäre schade: „Bezog Intimität, bezog Liebe (im Sinne von Passion) nicht wesentliche Motive aus der Gemeinsamkeit des Abweichens, so dass sich mit dem Wegfall der Institution alles in Trivialität auflöst?“
Hier ahnt man, dass Luhmann für die kulturrevolutionären Aufgeregtheiten der Achtundsechziger bestenfalls kühlen Spott übrig hatte. Auch dass er in seinen Vorlesungen zur politischen Theorie die Funktion der Politik nüchtern als „Lösung offener Probleme durch bindende Entscheidungen“ definiert und in der Ausdifferenzierung von Herrschaftsrollen keine autoritäre Zumutung, sondern einen evolutionären Fortschritt sieht, dürfte in den Jahren um 1968 unter der revolutionsbegeisterten studentischen Jugend nicht unbedingt auf Zustimmung gestoßen sein. Den Systemtheoretiker deshalb für einen Strukturkonservativen oder gar einen hierarchiegläubigen Sozialtechnokraten zu halten, wäre allerdings reichlich naiv.
Luhmann feiert die formale Hierarchie nicht, er durchschaut sie. Dabei beobachtet er die Grenzen ihrer Wirksamkeit, wenn er feststellt, dass „die Macht des Untergebenen über seinen Vorgesetzten auf dessen Überlastung mit Komplexität“ beruht. Schon weil Chefs immer viel zu wenig Zeit und viel zu viele Baustellen haben, wissen erfahrene Organisationsprofis, wie sie ihre eigenen Freiräume schützen. Die Illusion, dass mit dem Platz in der Rangordnung zwangsläufig die Kompetenz zunimmt, hat Luhmann ohnehin nicht: „Die Behandlung von Versagern ist ein delikates Problem, besonders bei einem hohen Status des betroffenen Organisationsmitglieds.“ So bieten die frühen Vorlesungen nebenbei das Vergnügen, das subversive Potenzial Niklas Luhmanns zu entdecken.
Luhmann feiert die
formale Hierarchie nicht,
er durchschaut sie
Die Illusion, dass mit einem höheren Platz in der Rangordnung zwangsläufig die Kompetenz zunimmt, hatte er nicht: Niklas Luhmann. Foto: DPA
Revolte oder bloß „hoffnungslos naives Situationsverständnis“? Kommunarde Rainer Langhans bei seiner Festnahme am 30. September 1967 nach einer Demo auf dem Berliner Kurfürstendamm für den in Untersuchungshaft sitzenden Studenten Fritz Teufel.
Foto: DPA
Niklas Luhmann: Soziologie unter Anwesenden – Systemtheoretische Vorlesungen 1966-1970. Suhrkamp
Verlag, Berlin, 2024.
660 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr