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Wie der Fall Demjanjuk in Amerika, Israel und Deutschland teils groteske Justizgeschichte schrieb
Es muss eine sonderbare Atmosphäre gewesen sein auf dem betongrauen Vorplatz des Münchener Landgerichts. Ein unüberschaubares Gedränge von Journalisten, Schaulustigen und Holocaust-Überlebenden aus aller Welt zwischen Ü-Wagen und überforderten bayerischen Polizisten. Mittendrin der amerikanische Rechtsprofessor Lawrence Douglas, der sich das historische Ereignis nicht entgehen lassen wollte. Ein Schild "Demjanjuk-Sammelzone" wies den Punkt aus, zu dem sich die Menge durch einen Pferch hin treiben lassen musste. "Das Einzige, was fehlt, sind die Eisenbahngleise", kommentierte einer die unweigerliche Erinnerung an eine Deportationssammelstelle.
Als hätten die deutschen Behörden beweisen wollen, dass sie nicht mehr so furchterregend effizient sind, begann der Münchner Prozess gegen John Demjanjuk im Chaos. Der Justiz war offenbar sehr daran gelegen, aus dem Fall ein ganz gewöhnliches Verfahren zu machen. Ein Anliegen, das scheitern musste, schließlich hatte Demjanjuk schon Jahrzehnte zuvor in Amerika und Israel Justizgeschichte geschrieben. Lawrence Douglas hat die Rechtswege in diesem Fall nun in einem anschaulichen Buch zusammengetragen und liefert so einen neuen Blick auf die Geschichte der Verfolgung von NS-Verbrechen in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Israel.
Als ukrainischer Bauernsohn kam Iwan Demjanjuk 1920 zur Welt. Er überlebte als Kind die Hungersnöte durch Stalins Zwangskollektivierung und wurde im Sommer 1941 von der Roten Armee eingezogen, doch schon im Mai 1942 geriet er in deutsche Gefangenschaft. Nach dem Krieg verdingte er sich in Süddeutschland als Lkw-Fahrer für die Amerikaner, bis er 1952 ein Visum für die Vereinigten Staaten bekam. Dort änderte er seinen Vornahmen in John, erhielt eine Anstellung bei Ford in Cleveland und lebte ein beschauliches Leben als gesetzestreuer Amerikaner. Es hätte ein amerikanischer Traum werden können, wäre nicht Jahrzehnte später, 1975, ein republikanischer Senator an eine Liste von 70 in den Vereinigten Staaten lebenden Ukrainern gekommen, die sich in ihrem früheren Leben an Kriegsverbrechen beteiligt haben sollen. Auf der Liste fand sich der Name Iwan Demjanjuk, einstmals Wachmann im NS-Vernichtungslager Sobibor.
Es war eine Zeit, in der sich die amerikanische Öffentlichkeit langsam bewusst wurde, dass ihr Land im antikommunistischen Eifer der Nachkriegsjahre unzählige Helfer der Nazis willkommen geheißen hatte, die nun amerikanische Bürger waren. Eine strafrechtliche Verfolgung der Täter kam allerdings nicht in Frage, da amerikanische Staatsanwälte nur Taten ahnden konnten, die entweder auf amerikanischem Boden oder an Amerikanern begangen worden waren, was auf die Opfer von Sobibor nicht zutraf - hier waren Hunderttausende europäischer Juden vergast worden. Und ähnlich ihren deutschen Kollegen scheuten sich die Ermittler, neue Wege zu gehen, wie sie es noch in den Nürnberger Prozessen getan hatten. Was blieb, war allein, den Tätern die amerikanische Staatsbürgerschaft abzuerkennen - und das nicht etwa weil sie grausame Verbrechen begangen hatten, sondern weil sie ihre Taten im Einbürgerungsverfahren verheimlicht hatten.
Douglas beschreibt in seinem Buch anschaulich, wie damals die Vorläufer des Office of Special Investigations (OSI) gegründet wurden, in denen ein paar überforderte und im Kompetenzgerangel zerriebene Juristen die historischen Fälle aufarbeiten sollten. In einem vielstufigen Verfahren mit unzähligen Rechtsmitteln bis hinauf zum Obersten Gerichtshof sollten sie den Verdächtigen erst die Staatsbürgerschaft entziehen und dann in einem zweiten Verfahren die Ausweisung erwirken. Es sei bei einem Amerikaner leichter, merkt Douglas an, ihn lebenslang hinter Gitter zu bringen, als ihm die Staatsangehörigkeit abzuerkennen und ihn auszuweisen.
Demjanjuk, der bis zum Ende bestritt, jemals in einem NS-Lager Dienst getan zu haben, war einer der ersten Fälle. Dass er schon damals zum Medienereignis wurde, hatte mit einer Verwechslung zu tun: Mehrere Überlebende der Vernichtungslager waren sicher, in ihm den berüchtigten "Iwan den Schrecklichen" erkannt zu haben, der in Treblinka, nicht aber in Sobibor die Gaskammer bewachte. Als das OSI schließlich 1985 die Ausweisung erwirkt hatte und die Amerikaner vor der schwierigen Frage standen, wer Demjanjuk nun aufnehmen werde, beantragte Israel die Auslieferung.
Israel hatte anders als Amerika und Deutschland ein eigenes Gesetz für NS-Verbrechen erlassen. Nach Adolf Eichmann wurde Demjanjuk der zweite große Fall - und er sollte wie der erste zum nationalen Ereignis werden. Douglas beschreibt eindrücklich, wie das Verhängnis seinen Lauf nahm. Während die Nürnberger Prozesse, die größtenteils auf Aktenbeweise gestützt waren, von Langeweile geprägt waren, setzte Israel auf die eindringlichen Berichte der wenigen Überlebenden von Treblinka. Selbst die Richter erhoben den Prozess zu einem historischen Monument, in dem Zweifel unangebracht waren: Demjanjuk wurde zum Tod verurteilt. Doch während des Berufungsverfahrens fiel der Eiserne Vorhang, und aus sowjetischen Archiven kamen Beweise ans Licht, dass sich die Zeugen geirrt hatten. Demjanjuk war zwar in Sobibor, nie aber in Treblinka. Er verließ Israel 1993 als freier Mann mit einem Businessclass-Ticket, in Amerika ging das Verfahren von vorne los. 16 weitere Jahre sollte es dauern, bis Demjanjuk abermals ausgewiesen wurde und schließlich nach Deutschland kam - und das auch nur, weil ein Mitarbeiter der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen bei einer Google-Recherche zufällig auf den Fall stieß und in ihm die Möglichkeit sah, endlich mit der deutschen Justizpraxis zu brechen, dass KZ-Wachmänner nur dann verurteilt werden, wenn ihnen eigene Mordtaten nachgewiesen werden.
In dem langwierigen Münchner Verfahren, das Douglas im Stil eines Gerichtsreporters beschreibt, stützten sich die Richter allein auf historische Sachverständige und Dokumente - es war eine neue Phase der Aufarbeitung von NS-Unrecht. So konnte belegt werden, dass Demjanjuk als Wachmann in Sobibor war und dass dort jeder Wachmann an der Aufrechterhaltung des Tötungsbetriebs mitwirkte. Jeder machte sich also schon durch seine Anwesenheit der Beihilfe zum Mord schuldig. Demjanjuk starb, noch bevor der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil bestätigen konnte. In Deutschland hinterließ sein Prozess den Makel, dass ausgerechnet ein zwangsverpflichteter Ukrainer, der bereits sieben Jahre in israelischer Haft gesessen hatte, für Taten büßen sollte, für die die meisten deutschen SS-Männer nie verfolgt worden waren.
Doch der Prozess gegen Demjanjuk war noch in einer weiteren Dimension historisch. Er gab den deutschen Ermittlern den Anstoß, ihre träge Verfolgungspraxis zu überdenken. Dutzende Ermittlungsverfahren gegen greise SS-Veteranen kamen plötzlich in Gang. 2016 konnte der BGH im Fall Oskar Gröning schließlich die Rechtsauffassung des Demjanjuk-Urteils bestätigen und damit feststellen, dass die deutsche Justiz über Jahrzehnte unzählige SS-Männer zu Unrecht straflos ließ.
ALEXANDER HANEKE
Lawrence Douglas: Späte Korrektur. Die Prozesse gegen John Demjanjuk.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 297 S., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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