Wegen "unnationalsozialistischer Lebensweise" sitzt der Maler Rudolf Schlechter 1938 in Berlin-Erkner in Untersuchungshaft. Der Grund ist sein als skandalös empfundenes Verhalten, das er zusammen mit seiner Frau "Speedy" an den Tag legt. Er nutzt diese Gelegenheit, um sein Leben mit "Speedy" aufzuschreiben. In 260 kurzen Kapiteln steuern all die Abenteuer und Betrachtungen auf eine "andere" Ästhetik des Widerstands zu – strikt individualistisch, sexuell. Schlechter der Masochist, der Mann, der eine Frau sein möchte, wirft einen entwaffnend unverstellten Blick auf die Welt, rechts und links, oben und unten. Skandalös, bohrend und unterhaltend beschreibt und seziert er die anderen – und sich selbst immer mit. Weil "Speedy" mit anderen Männern schlief, wurde Schlechter eingesperrt. Weil sie am Ende gezielt mit den richtigen schläft, kommt er schließlich wieder frei. Der große Roman über eine Liebesbeziehung in den wilden Zwanziger Jahren und in der Zeit des Nationalsozialismus ist inspiriert von der Figur des Malers Rudolf Schlichter (1890–1955), der in Berlins linken wie rechten Zirkeln mit Ernst Jünger, Bertolt Brecht und vielen anderen verkehrte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2022Was war dieser Mann denn noch nicht?
Wandel- und wunderbar: Zum Siebzigsten des Schriftstellers Florian Havemann
Florian Havemann ist der Mann für Obsessionen. Das hat mit unvergleichlicher Intensität kürzlich sein Roman "Speedy" gezeigt, der zuvor jahrelang auf einen mutigen Verleger gewartet hatte. In "Speedy" wird auf mehr als achthundert Seiten - bei normalem Schriftbild wären es weit mehr als tausend geworden - die Geschichte der Liebe zwischen dem Neue-Sachlichkeit-Maler Rudolf Schlichter und Elfriede Elisabeth Köhler, Modell, Muse und schließlich Ehefrau, genannt Speedy, erzählt. Schlichter heißt im Roman Schlechter, sonst hat Havemann nichts geändert, nicht die erotischen Capricen des begeisterten Crossdressers, Masochisten und Fetischisten, nicht die Nymphomanie seiner Partnerin, aber auch nicht die Zeitumstände dieser Passion, die sich durchs ganze "Dritte Reich" zog und den Mann ins Gefängnis brachte, aus dem die Frau ihn dann unter Einsatz aller ihrer Möglichkeiten befreite. Und doch ist dieses Buch eine gewaltige Phantasmagorie, die dem Ich-Erzähler eine bisweilen delirierende, dann wieder eiskalt sich selbst und andere analysierende Chronik der Gefühle, des Abscheus und der Abscheulichkeiten entlockt. "Speedy" ist der größte Künstlerroman der letzten Jahre.
Er profitiert davon, dass sein Autor Havemann selbst Künstler ist, der seine Bilder dank mäzenatischen Engagements eines amerikanischen Bewunderers in einer Galerie der Berliner Friedrichstraße zeigen kann. Aber was war Havemann eigentlich noch nicht? Was er war: Musiker, Hausmeister, Zeitungskolumnist, Berater, Elektriker, Zeitschriftenherausgeber, Häftling, Bühnenregisseur, Flüchtling, Designer, Politiker, Verfassungsrichter in Brandenburg. Als Letzterer nominiert von der PDS. Ausgerechnet!
Denn es war diese damals noch als SED firmierende Partei, die Havemann 1968, als Sechzehnjährigen, in den Knast brachte, gemeinsam mit einigen weiteren Kindern ostdeutscher Prominenter, die gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestiert hatten. Florian Havemann, Sohn des Naturwissenschaftlers Robert Havemann, der 1964 aus der SED ausgeschlossen worden war, erlebte Festnahme und Haftzeit als Enttäuschung aller Hoffnungen auf die DDR. 1971 floh er in die Bundesrepublik, wo es dann bis 2007 dauerte, ehe mit "Havemann" sein erster Roman erschien: die eigene Familiengeschichte. Aufgrund diverser Klagen wegen Persönlichkeitsschutzverletzung, darunter auch solche der Verwandtschaft, wurde der Roman erst zurückgezogen, dann geschwärzt, schließlich gekürzt. Das machte Havemanns Suche nach einem Ort für das damals schon existierende "Speedy"-Manuskript nicht leicht.
Leicht macht er es aber auch seinem Publikum nicht. Doch Havemann ist ein literarischer Überzeugungstäter. Deshalb hat er die Geschichte ums Ehepaar Schlechter auch über das Jahr 1938, den Schlusspunkt von "Speedy", fortgeschrieben. Möglichst bald soll dieser neue Roman erscheinen, diesmal in einem selbst gegründeten Verlag, an dem der amerikanische Mäzen auch beteiligt ist. Das wäre ein Glücksfall für uns, die wir nicht wieder jahrelang warten müssten. Und für Florian Havemann selbst. Heute wird er siebzig. ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wandel- und wunderbar: Zum Siebzigsten des Schriftstellers Florian Havemann
Florian Havemann ist der Mann für Obsessionen. Das hat mit unvergleichlicher Intensität kürzlich sein Roman "Speedy" gezeigt, der zuvor jahrelang auf einen mutigen Verleger gewartet hatte. In "Speedy" wird auf mehr als achthundert Seiten - bei normalem Schriftbild wären es weit mehr als tausend geworden - die Geschichte der Liebe zwischen dem Neue-Sachlichkeit-Maler Rudolf Schlichter und Elfriede Elisabeth Köhler, Modell, Muse und schließlich Ehefrau, genannt Speedy, erzählt. Schlichter heißt im Roman Schlechter, sonst hat Havemann nichts geändert, nicht die erotischen Capricen des begeisterten Crossdressers, Masochisten und Fetischisten, nicht die Nymphomanie seiner Partnerin, aber auch nicht die Zeitumstände dieser Passion, die sich durchs ganze "Dritte Reich" zog und den Mann ins Gefängnis brachte, aus dem die Frau ihn dann unter Einsatz aller ihrer Möglichkeiten befreite. Und doch ist dieses Buch eine gewaltige Phantasmagorie, die dem Ich-Erzähler eine bisweilen delirierende, dann wieder eiskalt sich selbst und andere analysierende Chronik der Gefühle, des Abscheus und der Abscheulichkeiten entlockt. "Speedy" ist der größte Künstlerroman der letzten Jahre.
Er profitiert davon, dass sein Autor Havemann selbst Künstler ist, der seine Bilder dank mäzenatischen Engagements eines amerikanischen Bewunderers in einer Galerie der Berliner Friedrichstraße zeigen kann. Aber was war Havemann eigentlich noch nicht? Was er war: Musiker, Hausmeister, Zeitungskolumnist, Berater, Elektriker, Zeitschriftenherausgeber, Häftling, Bühnenregisseur, Flüchtling, Designer, Politiker, Verfassungsrichter in Brandenburg. Als Letzterer nominiert von der PDS. Ausgerechnet!
Denn es war diese damals noch als SED firmierende Partei, die Havemann 1968, als Sechzehnjährigen, in den Knast brachte, gemeinsam mit einigen weiteren Kindern ostdeutscher Prominenter, die gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestiert hatten. Florian Havemann, Sohn des Naturwissenschaftlers Robert Havemann, der 1964 aus der SED ausgeschlossen worden war, erlebte Festnahme und Haftzeit als Enttäuschung aller Hoffnungen auf die DDR. 1971 floh er in die Bundesrepublik, wo es dann bis 2007 dauerte, ehe mit "Havemann" sein erster Roman erschien: die eigene Familiengeschichte. Aufgrund diverser Klagen wegen Persönlichkeitsschutzverletzung, darunter auch solche der Verwandtschaft, wurde der Roman erst zurückgezogen, dann geschwärzt, schließlich gekürzt. Das machte Havemanns Suche nach einem Ort für das damals schon existierende "Speedy"-Manuskript nicht leicht.
Leicht macht er es aber auch seinem Publikum nicht. Doch Havemann ist ein literarischer Überzeugungstäter. Deshalb hat er die Geschichte ums Ehepaar Schlechter auch über das Jahr 1938, den Schlusspunkt von "Speedy", fortgeschrieben. Möglichst bald soll dieser neue Roman erscheinen, diesmal in einem selbst gegründeten Verlag, an dem der amerikanische Mäzen auch beteiligt ist. Das wäre ein Glücksfall für uns, die wir nicht wieder jahrelang warten müssten. Und für Florian Havemann selbst. Heute wird er siebzig. ANDREAS PLATTHAUS
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus begegnet eine solche Leidenschaft der detaillierten Stoffbehandlung nur alle paar Dekaden. Florian Havemanns Riesenwerk wird bequeme Leser eher abschrecken, vermutet der Rezensent. Er selbst hat sich diesem monströsen Roman ausgesetzt, ist mit dem Erzähler, einem verfemten Maler mit sexueller Obsession während der NS-Zeit in die sozialen und erotischen Abgründe hinabgestiegen und hat erfahren, was es heißt durch das Raster einer Gesellschaft zu fallen. Für Platthaus eine enorme Fantasieleistung, was Havemann da vorlegt, ein Albtraum, ein Ereignis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Speedy wird als großer Solitär in die deutsche Literaturgeschichte eingehen, er wird das Publikum spalten, Beifall falscher Freunde und Ablehnung bequemer Leser ernten. Aber man muss ihn lesen. Dergleichen Leidenschaft gibt es einmal alle paar Jahrzehnte." (FAZ, 17.03.2021) "Speedy ist die interessanteste Frauenfigur, die mir seit langer Zeit in einem deutschsprachigen Werk begegnet ist ... wäre dies ein französisches oder amerikanisches Buch, hätte es längst preisberegnet seinen Weg in unsere Regale angetreten ..." (Clemens J. Setz, FAZ)