Sphinx is the remarkable debut novel, originally published in 1986, by the incredibly talented and inventive French author Anne Garréta, one of the few female members of Oulipo, the influential and exclusive French experimental literary group whose mission is to create literature based on mathematical and linguistic restraints, and whose ranks include Georges Perec and Italo Calvino, among others.
A beautiful and complex love story between two characters, the narrator, "I," and their lover, A***, written without using any gender markers to refer to the main characters, Sphinx is a remarkable linguistic feat and paragon of experimental literature that has never been accomplished before or since in the strictly-gendered French language.
Sphinx is a landmark text in the feminist and LGBT literary canon appearing in English for the first time.
Anne Garréta (b. 1962) is a lecturer at the University of Rennes II and research professor of literature and Romance studies at Duke University. She joined the Oulipo in 2000, becoming the first member to join born after the Oulipo was founded. Garréta won France's prestigious Prix Médicis in 2002, awarded each year to an author whose "fame does not yet match their talent," for her novel Pas un jour.
Emma Ramadan is a graduate of Brown University and received her master's in literary translation from the American University of Paris. Her translation of Anne Parian's Monospace is forthcoming from La Presse. She is currently on a Fulbright Fellowship for literary translation in Morocco.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2016Verstehen als Verwandlung
Der Oulipo-Roman "Sphinx" von Anne Garréta ist ein atemberaubend kühner Versuch, das Unsagbare der Liebe ohne Angst auszusprechen.
Von Dietmar Dath
Liebe schaut und spricht: "Ich war versunken in die Betrachtung des schlafenden, ganz dicht bei mir sitzenden Wesens, dem der Kopf auf die Brust fiel. Schaute auf das wirre Haar, den geschwungenen, schlanken Nacken, der elegant im Schatten der Haarspitzen lag." So liest sich das auf Deutsch, in Worten, die der Übersetzerin Alexandra Baisch eingefallen sind. Das "schlafende, ganz dicht bei mir sitzende Wesen" braucht in der Ursprache dieses Seufzers, bei der Verfasserin Anne Garréta, ein Komma mehr: "cet être endormi là, tout près, assis", und in Emma Ramadans englischer Übersetzung liest man's als "this being, asleep, so close, seated". Wer Liebe zur Sprache bringen will, braucht Einzelheiten, die sich beschreiben lassen, Merkmale, Anzeichen.
Menschen, die im Weltraum ihre Fahrzeuge verlassen haben, berichten von Lichtblitzen im Blickfeld; das sind hochenergetische Elementarteilchen, von intensiver Sonnenaktivität fortgeschleudert und auf die Netzhaut geworfen, die wir auf der Erde nicht zu sehen bekommen. Liebe ist auch eine Sonne, groß, heiß, gefährlich; ein Text kann eine Netzhaut sein, wo Einzelbeobachtungsteilchen Funken schlagen; das Wort kann nicht von ihnen absehen. Aber an A***, die Person, die in der soeben dreisprachig zitierten Erzählung "Sphinx" von einer anderen Person namens "ich" geliebt wird, gleiten gewisse Fragen nach Einzelheiten ab - sie hat nämlich kein grammatisches Geschlecht und damit für die Dauer der Erzählzeit weder ein soziales noch ein biologisches, also auch nichts, was mit dem Schubladenbegriff der "sexuellen Orientierung" etikettiert werden könnte.
Wir erfahren durchaus einiges über A*** und "ich", vom Altersunterschied etwa, vom Herkunftsunterschied (Amerika und Frankreich sind die Hintergründe), vom Beruf (A*** tanzt), auch Ethnisches. Aber alle diese Attribute beider wirken schattenhaft, unzuverlässig, wie angeknabbert von der Auslassung der Geschlechterzuordnung.
Manches, das gesagt wird, lässt zwar vermuten, dass es sich um eine Geschichte zwischen zwei Frauen handeln könnte, aber diese Menschen "lesbisch" zu nennen wäre, weil ihre Passion auf sprachlich so rigoros durchkomponierte Weise zugleich beredt und verschwiegen ist, etwa so sinnvoll, wie wenn man einen Propheten als "religiös" bezeichnen würde. Die Adjektive sind in beiden Fällen zu klein und verraten nur etwas, das allenfalls Unbeteiligte interessieren könnte.
"Sphinx" lässt alles weg, was Unbeteiligte interessieren könnte, nicht nur das grammatische Geschlecht. "Sphinx" lässt in gewisser, geradezu dämonisch-tragisch überwältigende Weise am Ende vielleicht sogar die Liebenden weg, von denen im Text nur die Liebe bleibt.
Anne Garréta, die Verfasserin dieses Textes, ist eine Oulipienne, das heißt: weibliche Kunstschaffende im Kollektiv Oulipo, dem "Ouvroir de Littérature potentielle" oder "Arbeitskreis möglicher Literatur". Dieser Zusammenhang hat sich aus einem Treffen von zehn Dichtern, Mathematikern und anderen Gelehrten entwickelt, zusammengerufen von Raymond Queneau und François Le Lionnais am 24. November 1960. Man unterhielt sich damals über die Aussicht auf eine radikale Modularisierung literarischer Ästhetik, über ludische, aleatorische und anderweitig regulierende Verfahren. Die Oulipiens (und die Oulipiennes) wussten und wissen nämlich, dass die Freiheit der Kunst nichts mit Willkür zu tun haben will, sondern sich schon immer von Bestimmungen (etwa solchen des Genres, des Versmaßes et cetera) abstoßen musste, um zu sich selbst zu kommen, dass sie solche Bestimmungen also braucht: genau wie Liebe und Leidenschaften nicht das Gegenteil von Zwängen sind (was nur Hippies glauben), sondern mit Zwängen innen und außen ringen wollen, zwischen den Polen rauschhafter Kapitulation und verzweifelter Überwindung. Eine Geschichte mit glücklichem Ausgang verspricht so etwas kaum, und deshalb ist auch "Sphinx" keine, wenn man denn unter Glück die angedrehte Harmonisierung aller Widersprüche versteht. Die Liebe liebt ihre Widersprüche, in "Sphinx" sprechen sie von sich mit mehr Namen als in Liebesgeschichten sonst (zum Beispiel, als Ort zum Tanzen, "Eden").
Was "Sphinx" mit der oulipotischen Aussparung des Geschlechts in die Liebesliteratur einführt, ist ein Zwang, der etwas freisetzt, liebesgemäß, liebesgerecht und liebesausgeliefert; halbwegs ebenbürtig bei dieser formalen Durchdringung des unsagbaren Gegenstands ist dem dreißig Jahre alten Buch heute höchstens das musikalische und konzeptkünstlerische Werk von Terre Thaemlitz - beide wissen mehr über das Menschenunmögliche der Lüste als die gesamte bemühte Kommunikation in den Netzen, Talkshows und Unis der Stunde. Sehr gut also, dass "Sphinx" nun auf Deutsch vorliegt, mit einem klugen Nachwort von Antje Rávic Strubel als Angebot ans Erleben wie ans Verstehen. "Verstehen" heißt hier freilich mehr und Besseres als Durchblick oder Überblick: Es bedeutet, sich zu verwandeln, indem man freiwillig dem fremden Sinn einer nirgends ganz durchsichtigen Liebe in die Falle geht. Der Gewinn dabei heißt Selbsterkenntnis - was wir so verstehen und was nicht, sagt uns, was Liebe von unserer Sprache überhaupt erwarten darf.
Anne Garréta: "Sphinx". Roman.
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Mit einem Nachwort von Antje Rávic Strubel. Edition Fünf, Gräfelfing 2016. 184 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Oulipo-Roman "Sphinx" von Anne Garréta ist ein atemberaubend kühner Versuch, das Unsagbare der Liebe ohne Angst auszusprechen.
Von Dietmar Dath
Liebe schaut und spricht: "Ich war versunken in die Betrachtung des schlafenden, ganz dicht bei mir sitzenden Wesens, dem der Kopf auf die Brust fiel. Schaute auf das wirre Haar, den geschwungenen, schlanken Nacken, der elegant im Schatten der Haarspitzen lag." So liest sich das auf Deutsch, in Worten, die der Übersetzerin Alexandra Baisch eingefallen sind. Das "schlafende, ganz dicht bei mir sitzende Wesen" braucht in der Ursprache dieses Seufzers, bei der Verfasserin Anne Garréta, ein Komma mehr: "cet être endormi là, tout près, assis", und in Emma Ramadans englischer Übersetzung liest man's als "this being, asleep, so close, seated". Wer Liebe zur Sprache bringen will, braucht Einzelheiten, die sich beschreiben lassen, Merkmale, Anzeichen.
Menschen, die im Weltraum ihre Fahrzeuge verlassen haben, berichten von Lichtblitzen im Blickfeld; das sind hochenergetische Elementarteilchen, von intensiver Sonnenaktivität fortgeschleudert und auf die Netzhaut geworfen, die wir auf der Erde nicht zu sehen bekommen. Liebe ist auch eine Sonne, groß, heiß, gefährlich; ein Text kann eine Netzhaut sein, wo Einzelbeobachtungsteilchen Funken schlagen; das Wort kann nicht von ihnen absehen. Aber an A***, die Person, die in der soeben dreisprachig zitierten Erzählung "Sphinx" von einer anderen Person namens "ich" geliebt wird, gleiten gewisse Fragen nach Einzelheiten ab - sie hat nämlich kein grammatisches Geschlecht und damit für die Dauer der Erzählzeit weder ein soziales noch ein biologisches, also auch nichts, was mit dem Schubladenbegriff der "sexuellen Orientierung" etikettiert werden könnte.
Wir erfahren durchaus einiges über A*** und "ich", vom Altersunterschied etwa, vom Herkunftsunterschied (Amerika und Frankreich sind die Hintergründe), vom Beruf (A*** tanzt), auch Ethnisches. Aber alle diese Attribute beider wirken schattenhaft, unzuverlässig, wie angeknabbert von der Auslassung der Geschlechterzuordnung.
Manches, das gesagt wird, lässt zwar vermuten, dass es sich um eine Geschichte zwischen zwei Frauen handeln könnte, aber diese Menschen "lesbisch" zu nennen wäre, weil ihre Passion auf sprachlich so rigoros durchkomponierte Weise zugleich beredt und verschwiegen ist, etwa so sinnvoll, wie wenn man einen Propheten als "religiös" bezeichnen würde. Die Adjektive sind in beiden Fällen zu klein und verraten nur etwas, das allenfalls Unbeteiligte interessieren könnte.
"Sphinx" lässt alles weg, was Unbeteiligte interessieren könnte, nicht nur das grammatische Geschlecht. "Sphinx" lässt in gewisser, geradezu dämonisch-tragisch überwältigende Weise am Ende vielleicht sogar die Liebenden weg, von denen im Text nur die Liebe bleibt.
Anne Garréta, die Verfasserin dieses Textes, ist eine Oulipienne, das heißt: weibliche Kunstschaffende im Kollektiv Oulipo, dem "Ouvroir de Littérature potentielle" oder "Arbeitskreis möglicher Literatur". Dieser Zusammenhang hat sich aus einem Treffen von zehn Dichtern, Mathematikern und anderen Gelehrten entwickelt, zusammengerufen von Raymond Queneau und François Le Lionnais am 24. November 1960. Man unterhielt sich damals über die Aussicht auf eine radikale Modularisierung literarischer Ästhetik, über ludische, aleatorische und anderweitig regulierende Verfahren. Die Oulipiens (und die Oulipiennes) wussten und wissen nämlich, dass die Freiheit der Kunst nichts mit Willkür zu tun haben will, sondern sich schon immer von Bestimmungen (etwa solchen des Genres, des Versmaßes et cetera) abstoßen musste, um zu sich selbst zu kommen, dass sie solche Bestimmungen also braucht: genau wie Liebe und Leidenschaften nicht das Gegenteil von Zwängen sind (was nur Hippies glauben), sondern mit Zwängen innen und außen ringen wollen, zwischen den Polen rauschhafter Kapitulation und verzweifelter Überwindung. Eine Geschichte mit glücklichem Ausgang verspricht so etwas kaum, und deshalb ist auch "Sphinx" keine, wenn man denn unter Glück die angedrehte Harmonisierung aller Widersprüche versteht. Die Liebe liebt ihre Widersprüche, in "Sphinx" sprechen sie von sich mit mehr Namen als in Liebesgeschichten sonst (zum Beispiel, als Ort zum Tanzen, "Eden").
Was "Sphinx" mit der oulipotischen Aussparung des Geschlechts in die Liebesliteratur einführt, ist ein Zwang, der etwas freisetzt, liebesgemäß, liebesgerecht und liebesausgeliefert; halbwegs ebenbürtig bei dieser formalen Durchdringung des unsagbaren Gegenstands ist dem dreißig Jahre alten Buch heute höchstens das musikalische und konzeptkünstlerische Werk von Terre Thaemlitz - beide wissen mehr über das Menschenunmögliche der Lüste als die gesamte bemühte Kommunikation in den Netzen, Talkshows und Unis der Stunde. Sehr gut also, dass "Sphinx" nun auf Deutsch vorliegt, mit einem klugen Nachwort von Antje Rávic Strubel als Angebot ans Erleben wie ans Verstehen. "Verstehen" heißt hier freilich mehr und Besseres als Durchblick oder Überblick: Es bedeutet, sich zu verwandeln, indem man freiwillig dem fremden Sinn einer nirgends ganz durchsichtigen Liebe in die Falle geht. Der Gewinn dabei heißt Selbsterkenntnis - was wir so verstehen und was nicht, sagt uns, was Liebe von unserer Sprache überhaupt erwarten darf.
Anne Garréta: "Sphinx". Roman.
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Mit einem Nachwort von Antje Rávic Strubel. Edition Fünf, Gräfelfing 2016. 184 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.05.2017Liebe ohne
Gender
Endlich wurde Anne Garrétas
„Sphinx“ ins Deutsche übersetzt
Was für ein Irrlicht von einem Text! Mit jedem Umblättern blitzen neue verführerische Hinweise auf, verleiten zu eindeutigen Mann- oder Frau-Assoziationen – und locken einen doch in die Irre. Die französische Schriftstellerin Anne Garréta lässt die Lesenden Seite um Seite genüsslich scheitern. Denn ihr Roman „Sphinx“, diese Geschichte einer schmerzlich schönen Liebe, verschweigt das Naheliegende, das Geschlecht der Liebenden. „Sphinx“, in Frankreich bereits 1986 erschienen und jetzt erst ins Deutsche übersetzt, ist ein packendes literarisches Experiment.
Garréta orientierte sich in ihrem Romandebüt an der Arbeitsweise der 1960 gegründeten Künstlergruppe „Ouvroir de litteŕature potentielle“ kurz OuLiPo, der „Werkstatt für potenzielle Literatur“, – bis zur Aufnahme Garrétas im Jahr 2000 ein reiner Männerklub. Das erklärte Ziel der OuLiPo ist es, Sprache und Erzählen durch selbstauferlegte Einschränkungen auf ein neues Level zu heben. Legendär ist Georges Perecs Roman „La Disparition“, der auf mehr als 300 Seiten kein einziges „E“ enthält.
Garrétas Ansatz geht darüber hinaus und sorgt beim Lesen bis heute für massive Irritationen. Egal ob sie ein wehmütiges Lächeln, einen herausfordernden Blick oder einen Lichtschimmer auf nackter Haut schildert – jedes Bild, das vor dem geistigen Auge entsteht, entlarvt die eigene Wahrnehmung als erschreckend stereotyp und zwanghaft binär. Viel mehr als Frau, Mann, und mit einiger Mühe einen Touch von Transgender hat das Kopfkino schlicht nicht zu bieten.
Ganz anders das schillernde Milieu der Pariser Club- und Cabaret-Szene, das Garréta entwirft. Hier erlebt das junge erzählende „Ich“ auf ausgedehnten nächtlichen Streifzügen eine wohltuende Gegenwelt zum zähen Alltag seines Theologiestudiums. Der plötzliche Drogentod eines DJs in der angesagten Disco „Apocryphe“ verschafft der zurückhaltenden, ewig beobachtenden Hauptfigur dann unverhofft einen Job mitten im Zentrum des pulsierenden Nachtlebens. Eines Abends trifft sie im Cabaret „Eden“ auf „A***“, zehn Jahre älter, Star einer Tanzrevue, ein autochthones Nachtwesen. Zwischen beiden entwickelt sich eine Nähe, die Liebe wird, ohne benannt zu werden. Sie treffen sich häufig, verreisen gemeinsam, provozieren aufgrund ihrer gegensätzlichen Wesensart jede Menge Kopfschütteln.
Die Lovestory entwickelt sich relativ klassisch: In der langen Phase der Freundschaft wirbt „Ich“ hartnäckig und süß altmodisch um seinen Schwarm. A*** dagegen befürchtet, Sex könnte die Liebe ruinieren. Irgendwann wagen sie es doch und durchleben gemeinsam einsam die Höhen und Tiefen einer offenen Beziehung. Dabei spart Garréta die Themen erotische Anziehung und Sex nicht aus, sie erzählt sie losgelöst von eindeutig hetero- oder homoerotischen Bildern.
Beim Lesen flaut der Wunsch nach Eindeutigkeit ab, je mehr einem die Charaktere ans Herz wachsen. Irgendwann dürfen sie sein, was sie sind, zwei Menschen, die sich lieben. Einer spröde, suchend und von jener Sorte Traurigkeit, die ein allzu scharfer Blick auf die Welt mit sich bringt. Einer mit großem Willen zur Leichtigkeit, dem es scheinbar mühelos gelingt, eins zu sein mit sich, seinem Körper und dem selbstgewählten Leben. Beide scheren sich weder um Konventionen noch um ihre unterschiedliche Herkunft und Hautfarbe.
So ist es angenehm selbstverständlich, dass auch Gender und sexuelle Orientierung für sie kein Thema sind. Zugleich reflektiert das grübelnde, oft eifersüchtige Ich allerdings seine unrühmliche Rolle als erzählende Person: Von Anfang an hat es in dem geliebten Menschen vor allem das gesehen, was es sehen wollte, statt zu versuchen, dessen Wesen zu begreifen.
„Sphinx“ wurde 2015 ins Englische und nun ins Deutsche übersetzt. Da läge die klassische Rezensions-Formulierung nahe, Garréta sei 1986 „ihrer Zeit voraus“ gewesen. Das stimmt so nicht. Es ist noch viel schlimmer. „Sphinx“ ist auch unserer Zeit weit voraus, in der Menschen, die sich keinem Gender zuordnen, massiv angefeindet werden und traditionelle Rollenmuster ein grausiges Comeback feiern.
CORNELIA FIEDLER
Anne Garréta: Sphinx. Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Edition fünf, München 2016. 184 Seiten, 19 Euro, E-Book 11,99 Euro.
Sie scheren sich nicht um
Konventionen, erst recht nicht
um Herkunft oder Hautfarbe
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gender
Endlich wurde Anne Garrétas
„Sphinx“ ins Deutsche übersetzt
Was für ein Irrlicht von einem Text! Mit jedem Umblättern blitzen neue verführerische Hinweise auf, verleiten zu eindeutigen Mann- oder Frau-Assoziationen – und locken einen doch in die Irre. Die französische Schriftstellerin Anne Garréta lässt die Lesenden Seite um Seite genüsslich scheitern. Denn ihr Roman „Sphinx“, diese Geschichte einer schmerzlich schönen Liebe, verschweigt das Naheliegende, das Geschlecht der Liebenden. „Sphinx“, in Frankreich bereits 1986 erschienen und jetzt erst ins Deutsche übersetzt, ist ein packendes literarisches Experiment.
Garréta orientierte sich in ihrem Romandebüt an der Arbeitsweise der 1960 gegründeten Künstlergruppe „Ouvroir de litteŕature potentielle“ kurz OuLiPo, der „Werkstatt für potenzielle Literatur“, – bis zur Aufnahme Garrétas im Jahr 2000 ein reiner Männerklub. Das erklärte Ziel der OuLiPo ist es, Sprache und Erzählen durch selbstauferlegte Einschränkungen auf ein neues Level zu heben. Legendär ist Georges Perecs Roman „La Disparition“, der auf mehr als 300 Seiten kein einziges „E“ enthält.
Garrétas Ansatz geht darüber hinaus und sorgt beim Lesen bis heute für massive Irritationen. Egal ob sie ein wehmütiges Lächeln, einen herausfordernden Blick oder einen Lichtschimmer auf nackter Haut schildert – jedes Bild, das vor dem geistigen Auge entsteht, entlarvt die eigene Wahrnehmung als erschreckend stereotyp und zwanghaft binär. Viel mehr als Frau, Mann, und mit einiger Mühe einen Touch von Transgender hat das Kopfkino schlicht nicht zu bieten.
Ganz anders das schillernde Milieu der Pariser Club- und Cabaret-Szene, das Garréta entwirft. Hier erlebt das junge erzählende „Ich“ auf ausgedehnten nächtlichen Streifzügen eine wohltuende Gegenwelt zum zähen Alltag seines Theologiestudiums. Der plötzliche Drogentod eines DJs in der angesagten Disco „Apocryphe“ verschafft der zurückhaltenden, ewig beobachtenden Hauptfigur dann unverhofft einen Job mitten im Zentrum des pulsierenden Nachtlebens. Eines Abends trifft sie im Cabaret „Eden“ auf „A***“, zehn Jahre älter, Star einer Tanzrevue, ein autochthones Nachtwesen. Zwischen beiden entwickelt sich eine Nähe, die Liebe wird, ohne benannt zu werden. Sie treffen sich häufig, verreisen gemeinsam, provozieren aufgrund ihrer gegensätzlichen Wesensart jede Menge Kopfschütteln.
Die Lovestory entwickelt sich relativ klassisch: In der langen Phase der Freundschaft wirbt „Ich“ hartnäckig und süß altmodisch um seinen Schwarm. A*** dagegen befürchtet, Sex könnte die Liebe ruinieren. Irgendwann wagen sie es doch und durchleben gemeinsam einsam die Höhen und Tiefen einer offenen Beziehung. Dabei spart Garréta die Themen erotische Anziehung und Sex nicht aus, sie erzählt sie losgelöst von eindeutig hetero- oder homoerotischen Bildern.
Beim Lesen flaut der Wunsch nach Eindeutigkeit ab, je mehr einem die Charaktere ans Herz wachsen. Irgendwann dürfen sie sein, was sie sind, zwei Menschen, die sich lieben. Einer spröde, suchend und von jener Sorte Traurigkeit, die ein allzu scharfer Blick auf die Welt mit sich bringt. Einer mit großem Willen zur Leichtigkeit, dem es scheinbar mühelos gelingt, eins zu sein mit sich, seinem Körper und dem selbstgewählten Leben. Beide scheren sich weder um Konventionen noch um ihre unterschiedliche Herkunft und Hautfarbe.
So ist es angenehm selbstverständlich, dass auch Gender und sexuelle Orientierung für sie kein Thema sind. Zugleich reflektiert das grübelnde, oft eifersüchtige Ich allerdings seine unrühmliche Rolle als erzählende Person: Von Anfang an hat es in dem geliebten Menschen vor allem das gesehen, was es sehen wollte, statt zu versuchen, dessen Wesen zu begreifen.
„Sphinx“ wurde 2015 ins Englische und nun ins Deutsche übersetzt. Da läge die klassische Rezensions-Formulierung nahe, Garréta sei 1986 „ihrer Zeit voraus“ gewesen. Das stimmt so nicht. Es ist noch viel schlimmer. „Sphinx“ ist auch unserer Zeit weit voraus, in der Menschen, die sich keinem Gender zuordnen, massiv angefeindet werden und traditionelle Rollenmuster ein grausiges Comeback feiern.
CORNELIA FIEDLER
Anne Garréta: Sphinx. Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Edition fünf, München 2016. 184 Seiten, 19 Euro, E-Book 11,99 Euro.
Sie scheren sich nicht um
Konventionen, erst recht nicht
um Herkunft oder Hautfarbe
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