Über Jahre der Sehnsucht und Leidenschaft
Wie geht man vor, um sich das Fremde zum Freund zu machen? Man macht sich auf den Weg. Schritt für Schritt wagt sich Hilla Palm, Arbeiterkind vom Dorf, in das Leben in Köln. In den turbulenten 68ern sucht sie dort heimisch zu werden, erkundet die Welt der Sprache, genießt die Freiheit des Denkens und muss doch erkennen: Ich bin meine Vergangenheit. Erst als sie ihrer Liebe begegnet, findet sie die Kraft für einen neuen Blick auf alte Verletzungen.
Das Schicksal einer jungen Frau vor dem imposanten Epochengemälde der 68er, einer der radikalsten Umbruchphasen in der Geschichte der Bundesrepublik.
Wie geht man vor, um sich das Fremde zum Freund zu machen? Man macht sich auf den Weg. Schritt für Schritt wagt sich Hilla Palm, Arbeiterkind vom Dorf, in das Leben in Köln. In den turbulenten 68ern sucht sie dort heimisch zu werden, erkundet die Welt der Sprache, genießt die Freiheit des Denkens und muss doch erkennen: Ich bin meine Vergangenheit. Erst als sie ihrer Liebe begegnet, findet sie die Kraft für einen neuen Blick auf alte Verletzungen.
Das Schicksal einer jungen Frau vor dem imposanten Epochengemälde der 68er, einer der radikalsten Umbruchphasen in der Geschichte der Bundesrepublik.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Der dritte Band von Ulla Hahns halbfiktionaler Autobiografie lässt für Hilla, das alter Ego der Autorin, bessere Zeiten anbrechen, berichtet Christof Siemes. Die Liebe zu einem linkskatholischen Kommilitonen lässt Hilla halbwegs mit der erlittenen Vergewaltigung abschließen, die erste Politisierung lässt 1968 nicht lange auf sich warten und verheißt Glück im Kollektiv, fasst der Rezensent zusammen. Weil Verliebte nicht zur Revolution taugen, bleiben Hilla und ihr Heiliger allerdings nur "Randfiguren des Aufruhrs", verrät Siemes. Der Titel "Spiel der Zeit" ist gleich mehrfach bedeutsam, erklärt der Rezensent: zum einen ist er ein Zitat aus einem Gedicht des barocken Dichters Gryphius, was exemplarisch für die "Wonnen der Belesenheit", den bildungsbürgerlichen Ballast steht, der, zuweilen etwas notdürftig, in Gesprächen eingestreut wird; zum anderen nimmt und lässt sich die Autorin wirklich alle Zeit der Welt mit ihrer Geschichte, "alles muss gesagt werden", so Siemes, der Hahns Unbehagen an der Kürze nicht nachempfinden kann. Jedenfalls dürften in diesem Tempo noch einige Bücher fehlen, bis Hilla selbst anfängt, Romane zu schreiben, vermutet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2014Weihrauch und Reibekuchen
Die Schriftstellerin Ulla Hahn setzt die Reihe ihrer autobiografischen Romane fort –
„Spiel der Zeit“ führt auf das Jahr 1968 zu und in die Arme eines schöngeistigen Linkskatholiken
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Es war ein denkwürdiger Moment, damals am Anfang der breitschultrigen Achtzigerjahre, als ein hemmungslos charmierter Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die bis dahin unbekannte Dichterin Ulla Hahn vorstellte. Ihr Debütband „Herz über Kopf“ wurde flugs zum Bestseller, und plötzlich war Lyrik schwer angesagt, jedenfalls in Gestalt dieser leichtfüßigen Liebesgedichte mit dezent akademischer Aura. Die Ära Kohl stand unmittelbar bevor, politisches Dichten war obsolet geworden, die Neue Subjektivität für ein breiteres Publikum zu anstrengend. Der spielerische, gemäßigt experimentierfreudige Rückgriff auf traditionelle Formen hatte etwas Beruhigendes, das ewige Thema Liebe sowieso.
Auch war, ein knappes Jahrzehnt nach dem Tod von Ingeborg Bachmann, ein weiblicher Lyrik-Star wieder einmal fällig. Ulla Hahn besetzte, wenngleich unter anderen Vorzeichen, für einige Zeit diese Position. Und kaum jemand ahnte, dass die 1946 geborene Autorin, im Hauptberuf als Literaturredakteurin beim Radio längst auf festen Füßen, sich ihren Weg zum Ruhm sehr hart hatte erkämpfen müssen.
Das erfuhr die überwiegend weibliche Lesergemeinde zwanzig Jahre später, als Hahn den Roman „Das verborgene Wort“ vorlegte, den ersten Teil ihrer halb autobiografischen, halb fiktionalen Lebenserzählung, in der sie, als Hommage an ihre große Kollegin Hilde Domin, verehelichte Palm, sich selbst unter dem Namen Hildegard Palm porträtiert. Aufgewachsen in einem Arbeiterhaushalt im rheinisch-katholischen Provinzmilieu, das in der Nachkriegszeit von extremer Enge und Geistfeindlichkeit geprägt war, hatte sie mit unbändigem Leseeifer ihre intellektuelle Sozialisation selbst in die Hand genommen und mit eiserner Disziplin über Realschulabschluss, Bürolehre, zweiten Bildungsweg und Germanistikstudium ihren frühen Traum von einem Leben für und durch die Literatur verwirklicht.
Das Epos gelangte auf den ersten (höchst erfolgreichen und später verfilmten) sechshundert Seiten bis zum Eintritt der Heldin ins Abendgymnasium. Der zweite, 2009 erschienene und ebenso umfangreiche Band „Aufbruch“ schildert die Jahre bis zum Beginn ihres Universitätsstudiums in Köln. Dort setzt „Spiel der Zeit“ ein, die dritte, abermals 600-seitige Lieferung dieser Geschichte eines unaufhaltsamen Aufstiegs, die im richtigen Leben bekanntlich damit happyendete, dass die Erfolgsautorin Ulla Hahn den Hamburger SPDPolitiker und Literaturliebhaber Klaus von Dohnanyi heiratete und sich dadurch um einen weiteren Schritt von den Entbehrungen und Demütigungen ihrer Jugend entfernte.
Doch bis dahin wird sie in ihrer Erzählung wohl nicht mehr kommen: Der neue Band bricht im Schicksalsjahr 1968 ab, und für die eventuelle Fortsetzung hat die Verfasserin ausdrücklich ein schmales Format angekündigt. Denn ihre epische Rückschau, die zugleich ein Epochengemälde sein will, ist auf ein bestimmtes Ziel hin angelegt: Ulla Hahn möchte ergründen, warum sie während ihres Studiums vorübergehend DKP-Mitglied wurde, und sie glaubt, ihren Lesern jene Entscheidung im Nachhinein plausibel machen zu müssen.
Für eine literarische Unternehmung von derartigen Ausmaßen ist das ein kurioses Motiv, das wir freilich respektieren müssen. Dabei würde all das, was die Protagonistin, kurz „Hilla“ genannt, und weitgehend wohl auch ihre Erfinderin an Traumata und Widerständen, an Versehrungen und Verheerungen zu durchleiden und zu überwinden hatte, allein schon ein groß dimensioniertes Verarbeitungsprojekt rechtfertigen. Dass Schreiben zu einem Teil immer auch Selbsttherapie ist, wird gern, aber vergeblich geleugnet.
Hier, wo den Buchstaben und den Büchern von Anbeginn eine heilende, ja lebenserhaltende Funktion zuerkannt wird, gibt sich die Schreib-Arbeit an den eigenen Erinnerungen unverblümt als persönliche Vergangenheitsbewältigung zu erkennen. Das bedeutet allerdings auch, dass eine Literaturkritik, die ihren Namen verdient, hier am besten ihr Besteck weglegt, vulgo den Löffel abgibt, und sich auf Zehenspitzen entfernt.
Andernfalls müsste sie das fundamentale Problem dieses Romangebäudes in den Blick nehmen, auf das im dritten Band ausgerechnet die Autorin selbst hinweist, ohne es zu wollen. Hilla Palm, ebenso begeisterte wie lernbegierige Studentin der Sprach- und Literaturwissenschaft, schwärmt für Friedrich Schiller und führt gern dessen Diktum im Mund, dass bei einem Kunstwerk die Form den Stoff zu vertilgen habe. Was sie sich darunter vorstellt, erläutert sie nicht. Auf jeden Fall kann man die Grundforderung der ästhetischen Theorie ihres Idols kaum unbekümmerter missachten, als ihr Alter Ego Ulla Hahn es in diesem Prosa-Monument tut.
Es präsentiert sich in jedem seiner Teile als eine überquellende, überwältigende Masse an Stoff, der in manchmal kurzweiliger, dann wieder ermüdender Detailfülle ausgebreitet wird. Formale Erwägungen spielten hier offenbar keine Rolle, und das „Vertilgen“ schon gar nicht – es sei denn, man verwechselt Schillers hochkomplexen Formbegriff mit dem Ziegelsteinformat der Romanbände, der linearen Organisation des Erzählmaterials oder den (offenkundig sehr sparsamen) Kürzungsmaßnahmen des Lektorats.
Das Stoffliche ist in diesem Fall allerdings von großem Dokumentarwert, dabei anrührend bis sentimental, so unbefangen pathetisch wie drastisch, stellenweise amüsant, mitunter unfreiwillig komisch und insgesamt von einer Volksnähe, die dem Werk zumindest im rheinischen Raum seinen Ewigkeitsstatus sichern dürfte. Hilla Palms fiktiver Heimatort Dondorf, realiter die heutige Mittelstadt Monheim, wird zunehmend kenntlich als das literarische Denkmal einer Lebensform, die bis in die späten Sechzigerjahre bei aller provinziellen Borniertheit auch viele menschenfreundliche Züge trug und seither unwiederbringlich verloren ist.
Im gleichen Maße wie Hilla sich emanzipiert, wächst ihre Fähigkeit, der eigenen Familie, schlechthin den „kleinen Leuten“, Toleranz und liebevollen Respekt entgegenzubringen. Auch ihnen hat die Autorin im dritten Band der Trilogie ein Denkmal gesetzt, und das mit solcher Hingabe, dass man sich bisweilen bei Millowitschs unterm Sofa wähnt: Die Sprachverliebtheit, der Hilla, „dat Kenk vun nem Prolete“, letzten Endes ihre Bildungshistorie verdankt, tobt sich hier bis an die Schmerzgrenze in rheinischer Dialektseligkeit aus.
Die Milieuschilderungen aber beziehen sich nun vorwiegend auf das Köln der Sechziger und dessen janusköpfige Maskerade zwischen Wirtschaftswunder und Studentenrevolte, katholischem Klüngel und sexueller Befreiung, Spießertum und augenzwinkernd ausgereizter Libertinage. Hillas Studentenleben, wechselweise umweht von Weihrauchduft, Debattenqualm und Reibekuchendunst, wird überstrahlt von ihrer unwahrscheinlich glücklichen Liebesbeziehung mit Hugo, einem schöngeistigen Linkskatholiken aus steinreichem Hause, dessen Märchenprinz-Anmutung nur durch einen kleinen physischen Makel beschädigt wird. Hugo ist, wie die Autorin verlauten ließ, eine Mischung aus Erfahrungen und Erfindungen, und er erfüllt den Zweck, es der Heldin einmal richtig gut gehen zu lassen, nachdem ihr im vorausgegangenen Band, unter anderem durch eine Vergewaltigung, so übel mitgespielt wurde.
Dass Hugo als Romanfigur wenig glaubhaft ist, muss da in den Hintergrund rücken, genau wie die Zweifel von Generationsgenossen, ob Ulla Hahn in ihrem kölschen Anekdotenrausch das Lebensgefühl der Achtundsechziger wirklich erfasst oder vielmehr aus Archivberichten destilliert habe. Auffällig ist, dass sie bis zum Finale des Romans, der mit Hillas Verlobung endet, durch alle Irrungen und Wirrungen die Perspektive des streng erzogenen, schockempfindlichen Kleinbürgermädchens beibehält. Einsprengsel eigener und fremder Gedichte, ein Geistergespräch mit Ezra Pound und der visionäre Blick auf künftige Romanschreiberei, tapfere Demo-Reportagen, endlose Protokolle politischer Diskussionen oder die Andeutung ausschweifender Liebesnächte mit Hugo wirken wie ostentative Befreiungsschläge einer Braven, die zwar gegen das Leseverbot und andere überkommene Repressionen rebelliert hat, andererseits aber zukunftsträchtige Regeln und Normen gesellschaftlicher Anpassung gut beherrscht.
Vielleicht hat das Bedürfnis der Verfasserin, ihren DKP-Eintritt nachträglich zu rechtfertigen, etwas mit dieser Grundkonstellation zu tun. Dabei hätten wir, aus heutiger Sicht, dagegen nicht das Geringste einzuwenden. Gilt nicht in Köln immer noch die Devise „Jeder Jeck ist anders?“ Keinen Spaß verstehen wir hingegen, wenn es um die Musik der Beatles geht: In „When I’m Sixty-Four“ singt Paul McCartney, nicht John Lennon, wie hier behauptet wird. Und schon schleicht sich ein leiser Verdacht ein, was die Zuverlässigkeit der Erinnerung betrifft: Das „Spiel der Zeit“ muss wohl, selbst unter dokumentarischem Aspekt, mit einem Körnchen Salz genossen werden.
Ulla Hahn: Spiel der Zeit. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2014. 608 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Dass Schreiben zu einem Teil
auch Selbsttherapie ist, wird gern,
aber vergeblich geleugnet
Die Welt der jungen Ulla Hahn: Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Köln 1967, organisiert von Studentengruppen.
Foto: dpa
Ulla Hahn , geboren 1946 im Sauerland, wuchs im rheinländischen Monheim auf. Ihr Lyrik–Debüt „Herz über Kopf“ erschien 1981, ihr erster Roman „Ein Mann im Haus“ 1991.
Foto: Julia Braun
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Schriftstellerin Ulla Hahn setzt die Reihe ihrer autobiografischen Romane fort –
„Spiel der Zeit“ führt auf das Jahr 1968 zu und in die Arme eines schöngeistigen Linkskatholiken
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Es war ein denkwürdiger Moment, damals am Anfang der breitschultrigen Achtzigerjahre, als ein hemmungslos charmierter Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die bis dahin unbekannte Dichterin Ulla Hahn vorstellte. Ihr Debütband „Herz über Kopf“ wurde flugs zum Bestseller, und plötzlich war Lyrik schwer angesagt, jedenfalls in Gestalt dieser leichtfüßigen Liebesgedichte mit dezent akademischer Aura. Die Ära Kohl stand unmittelbar bevor, politisches Dichten war obsolet geworden, die Neue Subjektivität für ein breiteres Publikum zu anstrengend. Der spielerische, gemäßigt experimentierfreudige Rückgriff auf traditionelle Formen hatte etwas Beruhigendes, das ewige Thema Liebe sowieso.
Auch war, ein knappes Jahrzehnt nach dem Tod von Ingeborg Bachmann, ein weiblicher Lyrik-Star wieder einmal fällig. Ulla Hahn besetzte, wenngleich unter anderen Vorzeichen, für einige Zeit diese Position. Und kaum jemand ahnte, dass die 1946 geborene Autorin, im Hauptberuf als Literaturredakteurin beim Radio längst auf festen Füßen, sich ihren Weg zum Ruhm sehr hart hatte erkämpfen müssen.
Das erfuhr die überwiegend weibliche Lesergemeinde zwanzig Jahre später, als Hahn den Roman „Das verborgene Wort“ vorlegte, den ersten Teil ihrer halb autobiografischen, halb fiktionalen Lebenserzählung, in der sie, als Hommage an ihre große Kollegin Hilde Domin, verehelichte Palm, sich selbst unter dem Namen Hildegard Palm porträtiert. Aufgewachsen in einem Arbeiterhaushalt im rheinisch-katholischen Provinzmilieu, das in der Nachkriegszeit von extremer Enge und Geistfeindlichkeit geprägt war, hatte sie mit unbändigem Leseeifer ihre intellektuelle Sozialisation selbst in die Hand genommen und mit eiserner Disziplin über Realschulabschluss, Bürolehre, zweiten Bildungsweg und Germanistikstudium ihren frühen Traum von einem Leben für und durch die Literatur verwirklicht.
Das Epos gelangte auf den ersten (höchst erfolgreichen und später verfilmten) sechshundert Seiten bis zum Eintritt der Heldin ins Abendgymnasium. Der zweite, 2009 erschienene und ebenso umfangreiche Band „Aufbruch“ schildert die Jahre bis zum Beginn ihres Universitätsstudiums in Köln. Dort setzt „Spiel der Zeit“ ein, die dritte, abermals 600-seitige Lieferung dieser Geschichte eines unaufhaltsamen Aufstiegs, die im richtigen Leben bekanntlich damit happyendete, dass die Erfolgsautorin Ulla Hahn den Hamburger SPDPolitiker und Literaturliebhaber Klaus von Dohnanyi heiratete und sich dadurch um einen weiteren Schritt von den Entbehrungen und Demütigungen ihrer Jugend entfernte.
Doch bis dahin wird sie in ihrer Erzählung wohl nicht mehr kommen: Der neue Band bricht im Schicksalsjahr 1968 ab, und für die eventuelle Fortsetzung hat die Verfasserin ausdrücklich ein schmales Format angekündigt. Denn ihre epische Rückschau, die zugleich ein Epochengemälde sein will, ist auf ein bestimmtes Ziel hin angelegt: Ulla Hahn möchte ergründen, warum sie während ihres Studiums vorübergehend DKP-Mitglied wurde, und sie glaubt, ihren Lesern jene Entscheidung im Nachhinein plausibel machen zu müssen.
Für eine literarische Unternehmung von derartigen Ausmaßen ist das ein kurioses Motiv, das wir freilich respektieren müssen. Dabei würde all das, was die Protagonistin, kurz „Hilla“ genannt, und weitgehend wohl auch ihre Erfinderin an Traumata und Widerständen, an Versehrungen und Verheerungen zu durchleiden und zu überwinden hatte, allein schon ein groß dimensioniertes Verarbeitungsprojekt rechtfertigen. Dass Schreiben zu einem Teil immer auch Selbsttherapie ist, wird gern, aber vergeblich geleugnet.
Hier, wo den Buchstaben und den Büchern von Anbeginn eine heilende, ja lebenserhaltende Funktion zuerkannt wird, gibt sich die Schreib-Arbeit an den eigenen Erinnerungen unverblümt als persönliche Vergangenheitsbewältigung zu erkennen. Das bedeutet allerdings auch, dass eine Literaturkritik, die ihren Namen verdient, hier am besten ihr Besteck weglegt, vulgo den Löffel abgibt, und sich auf Zehenspitzen entfernt.
Andernfalls müsste sie das fundamentale Problem dieses Romangebäudes in den Blick nehmen, auf das im dritten Band ausgerechnet die Autorin selbst hinweist, ohne es zu wollen. Hilla Palm, ebenso begeisterte wie lernbegierige Studentin der Sprach- und Literaturwissenschaft, schwärmt für Friedrich Schiller und führt gern dessen Diktum im Mund, dass bei einem Kunstwerk die Form den Stoff zu vertilgen habe. Was sie sich darunter vorstellt, erläutert sie nicht. Auf jeden Fall kann man die Grundforderung der ästhetischen Theorie ihres Idols kaum unbekümmerter missachten, als ihr Alter Ego Ulla Hahn es in diesem Prosa-Monument tut.
Es präsentiert sich in jedem seiner Teile als eine überquellende, überwältigende Masse an Stoff, der in manchmal kurzweiliger, dann wieder ermüdender Detailfülle ausgebreitet wird. Formale Erwägungen spielten hier offenbar keine Rolle, und das „Vertilgen“ schon gar nicht – es sei denn, man verwechselt Schillers hochkomplexen Formbegriff mit dem Ziegelsteinformat der Romanbände, der linearen Organisation des Erzählmaterials oder den (offenkundig sehr sparsamen) Kürzungsmaßnahmen des Lektorats.
Das Stoffliche ist in diesem Fall allerdings von großem Dokumentarwert, dabei anrührend bis sentimental, so unbefangen pathetisch wie drastisch, stellenweise amüsant, mitunter unfreiwillig komisch und insgesamt von einer Volksnähe, die dem Werk zumindest im rheinischen Raum seinen Ewigkeitsstatus sichern dürfte. Hilla Palms fiktiver Heimatort Dondorf, realiter die heutige Mittelstadt Monheim, wird zunehmend kenntlich als das literarische Denkmal einer Lebensform, die bis in die späten Sechzigerjahre bei aller provinziellen Borniertheit auch viele menschenfreundliche Züge trug und seither unwiederbringlich verloren ist.
Im gleichen Maße wie Hilla sich emanzipiert, wächst ihre Fähigkeit, der eigenen Familie, schlechthin den „kleinen Leuten“, Toleranz und liebevollen Respekt entgegenzubringen. Auch ihnen hat die Autorin im dritten Band der Trilogie ein Denkmal gesetzt, und das mit solcher Hingabe, dass man sich bisweilen bei Millowitschs unterm Sofa wähnt: Die Sprachverliebtheit, der Hilla, „dat Kenk vun nem Prolete“, letzten Endes ihre Bildungshistorie verdankt, tobt sich hier bis an die Schmerzgrenze in rheinischer Dialektseligkeit aus.
Die Milieuschilderungen aber beziehen sich nun vorwiegend auf das Köln der Sechziger und dessen janusköpfige Maskerade zwischen Wirtschaftswunder und Studentenrevolte, katholischem Klüngel und sexueller Befreiung, Spießertum und augenzwinkernd ausgereizter Libertinage. Hillas Studentenleben, wechselweise umweht von Weihrauchduft, Debattenqualm und Reibekuchendunst, wird überstrahlt von ihrer unwahrscheinlich glücklichen Liebesbeziehung mit Hugo, einem schöngeistigen Linkskatholiken aus steinreichem Hause, dessen Märchenprinz-Anmutung nur durch einen kleinen physischen Makel beschädigt wird. Hugo ist, wie die Autorin verlauten ließ, eine Mischung aus Erfahrungen und Erfindungen, und er erfüllt den Zweck, es der Heldin einmal richtig gut gehen zu lassen, nachdem ihr im vorausgegangenen Band, unter anderem durch eine Vergewaltigung, so übel mitgespielt wurde.
Dass Hugo als Romanfigur wenig glaubhaft ist, muss da in den Hintergrund rücken, genau wie die Zweifel von Generationsgenossen, ob Ulla Hahn in ihrem kölschen Anekdotenrausch das Lebensgefühl der Achtundsechziger wirklich erfasst oder vielmehr aus Archivberichten destilliert habe. Auffällig ist, dass sie bis zum Finale des Romans, der mit Hillas Verlobung endet, durch alle Irrungen und Wirrungen die Perspektive des streng erzogenen, schockempfindlichen Kleinbürgermädchens beibehält. Einsprengsel eigener und fremder Gedichte, ein Geistergespräch mit Ezra Pound und der visionäre Blick auf künftige Romanschreiberei, tapfere Demo-Reportagen, endlose Protokolle politischer Diskussionen oder die Andeutung ausschweifender Liebesnächte mit Hugo wirken wie ostentative Befreiungsschläge einer Braven, die zwar gegen das Leseverbot und andere überkommene Repressionen rebelliert hat, andererseits aber zukunftsträchtige Regeln und Normen gesellschaftlicher Anpassung gut beherrscht.
Vielleicht hat das Bedürfnis der Verfasserin, ihren DKP-Eintritt nachträglich zu rechtfertigen, etwas mit dieser Grundkonstellation zu tun. Dabei hätten wir, aus heutiger Sicht, dagegen nicht das Geringste einzuwenden. Gilt nicht in Köln immer noch die Devise „Jeder Jeck ist anders?“ Keinen Spaß verstehen wir hingegen, wenn es um die Musik der Beatles geht: In „When I’m Sixty-Four“ singt Paul McCartney, nicht John Lennon, wie hier behauptet wird. Und schon schleicht sich ein leiser Verdacht ein, was die Zuverlässigkeit der Erinnerung betrifft: Das „Spiel der Zeit“ muss wohl, selbst unter dokumentarischem Aspekt, mit einem Körnchen Salz genossen werden.
Ulla Hahn: Spiel der Zeit. Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2014. 608 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Dass Schreiben zu einem Teil
auch Selbsttherapie ist, wird gern,
aber vergeblich geleugnet
Die Welt der jungen Ulla Hahn: Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Köln 1967, organisiert von Studentengruppen.
Foto: dpa
Ulla Hahn , geboren 1946 im Sauerland, wuchs im rheinländischen Monheim auf. Ihr Lyrik–Debüt „Herz über Kopf“ erschien 1981, ihr erster Roman „Ein Mann im Haus“ 1991.
Foto: Julia Braun
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2014Käfer und Raupe verlieben sich
Ulla Hahns dritter Hilla-Roman, "Spiel der Zeit", stürzt die Protagonistin in politische Wirren.
Mehr als eine halbe Million Leser ließen sich 2001 im Roman "Das verborgene Wort" von der Geschichte des Arbeitermädchens Hilla Palm fesseln, das trotz ihrer einfachen Herkunft die Welt der Worte und Bücher für sich entdeckt. Dass es sich bei der Autorin Ulla Hahn um eine prominente Lyrikerin handelte, die hier ihre fiktionalisierte Autobiographie vorlegte, ließ die Erwartungshaltung von vornherein hoch sein - war doch Ulla Hahn von niemand Geringerem als Marcel Reich-Ranicki entdeckt worden, der die längst sprichwörtlich gewordene Behauptung aufstellte, Lyriker(innen) könnten keine Romane schreiben.
Doch Ulla Hahn hatte sich Zeit gelassen für diesen mehr als 600 Seiten langen, wunderbaren Schmöker, und es gelang ihr darin, ein Porträt Deutschlands in der Adenauer-Ära zu zeichnen, das weit über das mitreißend und emphatisch geschilderte Einzelschicksal hinauswies. Sechs Jahre später, 2007, erschien dann das ebenso umfangreiche Nachfolgebuch "Aufbruch", das Hilla Palms Schicksal weiter bis in die Gymnasialzeit und an den Anfang ihres Germanistikstudiums Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik verfolgt. Und jetzt ist mit "Spiel der Zeit" der dritte Teil der Hilla-Palm-Bücher da.
Sprachmächtig und drängend, gerade so, als ob nun schon genug Zeit verloren worden sei, fängt es an, wenn die Autorin die Leser gleich zu Beginn informiert, wo man stehengeblieben war: "Hilla Palm ist aus Dondorf weg, nach Köln, studiert dort Germanistik und Geschichte, wohnt in einem Haus für katholische Studentinnen, dem Hildegard-Kolleg. Und nur wegen ihr mache ich mich jetzt an den dritten Band, denn wie gesagt, ich kann sie doch nicht hängen lassen, verkommen lassen nach dieser Nacht auf der Lichtung im Krawatter Busch. Wo drei Kerle sie betrunken machten und über sie herfielen. Ihr das antaten, wofür sie bis heute das Wort nicht zu denken wagt." Hier wird das Gefühl der Versehrtheit umschrieben, das das junge Mädchen empfindet und doch für sich behält. Bis sie, dies soll hier verraten werden, Hunderte von Seiten später von ihrem Freund und späteren Verlobten Hugo drängend gebeten wird, das Wort "Vergewaltigung" auszusprechen, es einmal tut und dann nie wieder.
Es ist übrigens fast so etwas wie Liebe auf den ersten Blick bei den beiden, die sich im Kölner Karnevalstrubel zum ersten Mal begegnen. Hilla Palm hat sich trotz des Kopfschüttelns ihrer Freundinnen als unförmige Raupe maskiert, und siehe da, ein junger Mann ist ähnlich klobig als Käfer gekommen; man tanzt zu "You really got me" von den Kinks; zwei Wesensverwandte erkennen sich. Wobei es Hilla nicht stört, dass Hugo auch nach dem Ausziehen des Käfergewands einen kleinen Buckel behält: eine körperliche Absonderlichkeit, die in der Fiktion das einzige Korrektiv zu Hugos ansonsten recht märchenprinzhaftem Auftreten darstellt (andererseits: Liebe ist Liebe, was soll man da meckern). Zwischen den beiden entwickelt sich eine sehr enge Beziehung, die von starker intellektueller wie auch erotischer Stimulation geprägt ist - und von Hugos reicher Familie, dem Breidenbach-Clan, überhaupt nicht goutiert wird.
Doch vor der Freundschaft mit dem jungen Mann wird der Ablösungsprozess der jungen Frau von ihrer Familie beschrieben, der Tod der geliebten Oma, das Sich-Zurechtfinden in der Großstadt, die Auseinandersetzung Hillas mit dem strengen und doch auch scheinheiligen Katholizismus, in dem sie aufwuchs. Die letztere Problematik spiegelt sich in der Geschichte um die Freundschaft zur Kollegmitbewohnerin Greta, einer bildschönen Kommilitonin, der die Welt offenzustehen scheint. Jedenfalls, bis sie schwanger wird, abtreibt und dann aus Reue ins Kloster geht - eine Entscheidung, zu der Hilla unwillentlich beigetragen hat.
Die Greta-Szenen gehören zu den berührendsten im Buch. Gretas Eintritt ins Kloster erscheint dabei nicht nur der Protagonistin Hilla "wie in einem Roman aus dem vorigen Jahrhundert", sondern auch dem Leser - und gerade deshalb ist man sich fast sicher, dass diesen extremen Plot in der Tat "das Leben schrieb". Denn so hätte Ulla Hahn ihn bestimmt nicht erfunden.
Überhaupt die Frage nach der "Erfindung": Schon in den ersten beiden Büchern war das Rätselraten um den Anteil von "biographischer Wahrheit" in der Fiktion groß. Freudig wurde mehr oder minder deutlich Verdecktes enthüllt. So ist etwa der Name von Ulla Hahns Alter Ego Hildegard Palm eine Anspielung auf die von der Schriftstellerin verehrte Lyrikerin Hilde Domin, um deren Mädchennamen es sich handelt. Und das erfundene Dondorf klingt nicht zufällig ähnlich wie Mondorf, der Ort, aus dem Ulla Hahn stammt. Diesmal, wo es um ein erwachseneres Bewusstsein geht, um Werturteile gegenüber Personen und Tendenzen, hat Ulla Hahn gleich zu Beginn des Geschehens dem Roman eine poetologische Vorbemerkung vorangestellt, in der sie den Lesern ihr Verhältnis zur Autobiographie darlegt: "Denn für mich, Hillas alter Ego, war gerade das der Anreiz fürs Schreiben: Erfahrungen und Erfindungen so miteinander zu verschmelzen, dass jenseits von Erfahrung und Erfindung ein Drittes entsteht: die Erzählung, der Text."
Leidenschaftlicher, direkter heißt es an anderer Stelle über dieses Verfahren der poetischen Doppelbelichtung: "Meine kleine Hilla, Schwester, die ich beschützen möchte - ach, dass wir nichts mehr beschützen können, was gestern noch heute war ... Ich bin mein Gestern, ich bin meine Vergangenheit, in jedem Augenblick nichts als Vergangenheit - und Hoffnung auf Zukunft."
Fragt man sich also als Leser, ob die Studentin die Zeit tatsächlich so aufgeweckt miterlebt und diskutiert hat, wie Hahn es darstellt, ob sie wirklich so dicht am Geschehen war, so ist dies eine müßige Aktion, denn schließlich geht es darum, Hillas Umfeld zu schildern, um ihre Person auf diese Weise begreiflicher zu machen. So liest man mit Spannung seitenlange, geradezu enzyklopädische Diskussionen um Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke, die APO, Enzensberger, Pound, Mao und - hier vor allem mit Hugo Breidenbach - über Religion. Ein Zeitpanorama fächert sich auf, ebenso ernsthaft wie amüsant.
Der Leser darf mit Hilla und Hugo auch ein Hippiepaar belächeln, Lilo und Tim, die sich die Zeit vertreiben mit Smoke-ins, Sit-ins, diversen Versuchen der Karmaoptimierung und Cannabiszucht. Ein Klischeepärchen? Wenn es solche Leute Ende der sechziger Jahre nicht gegeben hat, wann dann?
Die emotionale Wahrhaftigkeit, die das Buch antreibt, ist auf jeder Seite spürbar; das Buch lebt von der inneren Spannung zwischen der klugen Autorin Ulla Hahn und der jungen Hilla, die von der Autorin an manchen Stellen im Text sogar direkt angesprochen wird. Dabei lässt Hahns poetologisches Konzept der Doppelbelichtung genug Platz für dichterischen Freiraum, was den Lesern zugutekommt.
Es gibt urkomische Passagen über einen Mixer. Hilla hat das gute Stück so begeistert erstanden, dass sie von einem Kaufhaus als bezahlte Interessentin für den Stand des Produktpräsentators angeheuert wird. Später, als sie das praktische Haushaltsgerät der Mutter in Dondorf schenken will, wird der Schnickschnack (beziehungsweise, in Dondorf, der "Kokolores") so misstrauisch beäugt, dass ihn die Tochter für einen Lotteriegewinn ausgeben muss, damit er überhaupt im Haushalt akzeptiert wird. Immerhin: Von da an gibt es bei jedem Hilla-Besuch Säfte, die der Vater aus selbstgezüchtetem Obst und Gemüse herstellt, und so bringt das Wirtschaftswundergerät in diesem Falle die Generationen zusammen.
Neben solchen ulkigen Begebenheiten trifft man im Text aber auch auf faszinierend lyrische Stellen, etwa wenn Ulla Hahn ihre Hilla sprachspielerisch und Ingeborg Bachmann zitierend überlegen lässt, was sie Hugo (noch) nicht zu sagen wagt: "Doch wie würde ich ihm das sagen können, was ich mir ja selbst nur wortlos zugestand, wie etwas eingestehen, ohne den Grund zu nennen, auf den Grund zu gehen, zugrunde zu gehen, mein Teil, es soll verloren gehen."
Doch nicht nur auf diese Weise gibt die Autorin von "Spiel der Zeit" sich als Dichterin zu erkennen; immer wieder sind Gedichte aus ihrem Werk eingestreut, am überraschendsten (und plausibelsten) an der Stelle, als es zum Sex mit Hugo kommt. Anstatt die Liebesnacht zu beschreiben, findet sich - einerseits deutlich, andererseits taktvoll - hier Hahns wohl bekanntestes Gedicht, nämlich das unanständige "Anständige Sonett", beginnend mit den Zeilen: "Komm beiß dich fest ich halte nichts / vom Nippen."
Ein Ausweichen? Nein, es ist vielmehr die schönste Präsentation all dessen, was das "lyrische Ich" vermag. Wenn in der Lyrik "Ich" gesagt wird, bedeutet das schließlich die Aufforderung zum Rollenspiel, eine Maskerade, ein Eintauchen in eine Figur, ein Sich-Anverwandeln in ein fremdes Ich, eben wie durch den Protagonisten in einem Roman - und doch besteht der Reiz für den Leser darin, Autor, Autorin und "lyrisches Ich" zu verwechseln. Es geht also genau darum, wie beim Verfassen einer Autobiographie, zugleich zu enthüllen und zu verbergen. Ulla Hahn ist dies gelungen in einem Buch, das man nicht so leicht vergisst, das einen ein wenig verändert zurücklässt.
SILKE SCHEUERMANN
Ulla Hahn: "Spiel der Zeit". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. 550 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulla Hahns dritter Hilla-Roman, "Spiel der Zeit", stürzt die Protagonistin in politische Wirren.
Mehr als eine halbe Million Leser ließen sich 2001 im Roman "Das verborgene Wort" von der Geschichte des Arbeitermädchens Hilla Palm fesseln, das trotz ihrer einfachen Herkunft die Welt der Worte und Bücher für sich entdeckt. Dass es sich bei der Autorin Ulla Hahn um eine prominente Lyrikerin handelte, die hier ihre fiktionalisierte Autobiographie vorlegte, ließ die Erwartungshaltung von vornherein hoch sein - war doch Ulla Hahn von niemand Geringerem als Marcel Reich-Ranicki entdeckt worden, der die längst sprichwörtlich gewordene Behauptung aufstellte, Lyriker(innen) könnten keine Romane schreiben.
Doch Ulla Hahn hatte sich Zeit gelassen für diesen mehr als 600 Seiten langen, wunderbaren Schmöker, und es gelang ihr darin, ein Porträt Deutschlands in der Adenauer-Ära zu zeichnen, das weit über das mitreißend und emphatisch geschilderte Einzelschicksal hinauswies. Sechs Jahre später, 2007, erschien dann das ebenso umfangreiche Nachfolgebuch "Aufbruch", das Hilla Palms Schicksal weiter bis in die Gymnasialzeit und an den Anfang ihres Germanistikstudiums Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik verfolgt. Und jetzt ist mit "Spiel der Zeit" der dritte Teil der Hilla-Palm-Bücher da.
Sprachmächtig und drängend, gerade so, als ob nun schon genug Zeit verloren worden sei, fängt es an, wenn die Autorin die Leser gleich zu Beginn informiert, wo man stehengeblieben war: "Hilla Palm ist aus Dondorf weg, nach Köln, studiert dort Germanistik und Geschichte, wohnt in einem Haus für katholische Studentinnen, dem Hildegard-Kolleg. Und nur wegen ihr mache ich mich jetzt an den dritten Band, denn wie gesagt, ich kann sie doch nicht hängen lassen, verkommen lassen nach dieser Nacht auf der Lichtung im Krawatter Busch. Wo drei Kerle sie betrunken machten und über sie herfielen. Ihr das antaten, wofür sie bis heute das Wort nicht zu denken wagt." Hier wird das Gefühl der Versehrtheit umschrieben, das das junge Mädchen empfindet und doch für sich behält. Bis sie, dies soll hier verraten werden, Hunderte von Seiten später von ihrem Freund und späteren Verlobten Hugo drängend gebeten wird, das Wort "Vergewaltigung" auszusprechen, es einmal tut und dann nie wieder.
Es ist übrigens fast so etwas wie Liebe auf den ersten Blick bei den beiden, die sich im Kölner Karnevalstrubel zum ersten Mal begegnen. Hilla Palm hat sich trotz des Kopfschüttelns ihrer Freundinnen als unförmige Raupe maskiert, und siehe da, ein junger Mann ist ähnlich klobig als Käfer gekommen; man tanzt zu "You really got me" von den Kinks; zwei Wesensverwandte erkennen sich. Wobei es Hilla nicht stört, dass Hugo auch nach dem Ausziehen des Käfergewands einen kleinen Buckel behält: eine körperliche Absonderlichkeit, die in der Fiktion das einzige Korrektiv zu Hugos ansonsten recht märchenprinzhaftem Auftreten darstellt (andererseits: Liebe ist Liebe, was soll man da meckern). Zwischen den beiden entwickelt sich eine sehr enge Beziehung, die von starker intellektueller wie auch erotischer Stimulation geprägt ist - und von Hugos reicher Familie, dem Breidenbach-Clan, überhaupt nicht goutiert wird.
Doch vor der Freundschaft mit dem jungen Mann wird der Ablösungsprozess der jungen Frau von ihrer Familie beschrieben, der Tod der geliebten Oma, das Sich-Zurechtfinden in der Großstadt, die Auseinandersetzung Hillas mit dem strengen und doch auch scheinheiligen Katholizismus, in dem sie aufwuchs. Die letztere Problematik spiegelt sich in der Geschichte um die Freundschaft zur Kollegmitbewohnerin Greta, einer bildschönen Kommilitonin, der die Welt offenzustehen scheint. Jedenfalls, bis sie schwanger wird, abtreibt und dann aus Reue ins Kloster geht - eine Entscheidung, zu der Hilla unwillentlich beigetragen hat.
Die Greta-Szenen gehören zu den berührendsten im Buch. Gretas Eintritt ins Kloster erscheint dabei nicht nur der Protagonistin Hilla "wie in einem Roman aus dem vorigen Jahrhundert", sondern auch dem Leser - und gerade deshalb ist man sich fast sicher, dass diesen extremen Plot in der Tat "das Leben schrieb". Denn so hätte Ulla Hahn ihn bestimmt nicht erfunden.
Überhaupt die Frage nach der "Erfindung": Schon in den ersten beiden Büchern war das Rätselraten um den Anteil von "biographischer Wahrheit" in der Fiktion groß. Freudig wurde mehr oder minder deutlich Verdecktes enthüllt. So ist etwa der Name von Ulla Hahns Alter Ego Hildegard Palm eine Anspielung auf die von der Schriftstellerin verehrte Lyrikerin Hilde Domin, um deren Mädchennamen es sich handelt. Und das erfundene Dondorf klingt nicht zufällig ähnlich wie Mondorf, der Ort, aus dem Ulla Hahn stammt. Diesmal, wo es um ein erwachseneres Bewusstsein geht, um Werturteile gegenüber Personen und Tendenzen, hat Ulla Hahn gleich zu Beginn des Geschehens dem Roman eine poetologische Vorbemerkung vorangestellt, in der sie den Lesern ihr Verhältnis zur Autobiographie darlegt: "Denn für mich, Hillas alter Ego, war gerade das der Anreiz fürs Schreiben: Erfahrungen und Erfindungen so miteinander zu verschmelzen, dass jenseits von Erfahrung und Erfindung ein Drittes entsteht: die Erzählung, der Text."
Leidenschaftlicher, direkter heißt es an anderer Stelle über dieses Verfahren der poetischen Doppelbelichtung: "Meine kleine Hilla, Schwester, die ich beschützen möchte - ach, dass wir nichts mehr beschützen können, was gestern noch heute war ... Ich bin mein Gestern, ich bin meine Vergangenheit, in jedem Augenblick nichts als Vergangenheit - und Hoffnung auf Zukunft."
Fragt man sich also als Leser, ob die Studentin die Zeit tatsächlich so aufgeweckt miterlebt und diskutiert hat, wie Hahn es darstellt, ob sie wirklich so dicht am Geschehen war, so ist dies eine müßige Aktion, denn schließlich geht es darum, Hillas Umfeld zu schildern, um ihre Person auf diese Weise begreiflicher zu machen. So liest man mit Spannung seitenlange, geradezu enzyklopädische Diskussionen um Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke, die APO, Enzensberger, Pound, Mao und - hier vor allem mit Hugo Breidenbach - über Religion. Ein Zeitpanorama fächert sich auf, ebenso ernsthaft wie amüsant.
Der Leser darf mit Hilla und Hugo auch ein Hippiepaar belächeln, Lilo und Tim, die sich die Zeit vertreiben mit Smoke-ins, Sit-ins, diversen Versuchen der Karmaoptimierung und Cannabiszucht. Ein Klischeepärchen? Wenn es solche Leute Ende der sechziger Jahre nicht gegeben hat, wann dann?
Die emotionale Wahrhaftigkeit, die das Buch antreibt, ist auf jeder Seite spürbar; das Buch lebt von der inneren Spannung zwischen der klugen Autorin Ulla Hahn und der jungen Hilla, die von der Autorin an manchen Stellen im Text sogar direkt angesprochen wird. Dabei lässt Hahns poetologisches Konzept der Doppelbelichtung genug Platz für dichterischen Freiraum, was den Lesern zugutekommt.
Es gibt urkomische Passagen über einen Mixer. Hilla hat das gute Stück so begeistert erstanden, dass sie von einem Kaufhaus als bezahlte Interessentin für den Stand des Produktpräsentators angeheuert wird. Später, als sie das praktische Haushaltsgerät der Mutter in Dondorf schenken will, wird der Schnickschnack (beziehungsweise, in Dondorf, der "Kokolores") so misstrauisch beäugt, dass ihn die Tochter für einen Lotteriegewinn ausgeben muss, damit er überhaupt im Haushalt akzeptiert wird. Immerhin: Von da an gibt es bei jedem Hilla-Besuch Säfte, die der Vater aus selbstgezüchtetem Obst und Gemüse herstellt, und so bringt das Wirtschaftswundergerät in diesem Falle die Generationen zusammen.
Neben solchen ulkigen Begebenheiten trifft man im Text aber auch auf faszinierend lyrische Stellen, etwa wenn Ulla Hahn ihre Hilla sprachspielerisch und Ingeborg Bachmann zitierend überlegen lässt, was sie Hugo (noch) nicht zu sagen wagt: "Doch wie würde ich ihm das sagen können, was ich mir ja selbst nur wortlos zugestand, wie etwas eingestehen, ohne den Grund zu nennen, auf den Grund zu gehen, zugrunde zu gehen, mein Teil, es soll verloren gehen."
Doch nicht nur auf diese Weise gibt die Autorin von "Spiel der Zeit" sich als Dichterin zu erkennen; immer wieder sind Gedichte aus ihrem Werk eingestreut, am überraschendsten (und plausibelsten) an der Stelle, als es zum Sex mit Hugo kommt. Anstatt die Liebesnacht zu beschreiben, findet sich - einerseits deutlich, andererseits taktvoll - hier Hahns wohl bekanntestes Gedicht, nämlich das unanständige "Anständige Sonett", beginnend mit den Zeilen: "Komm beiß dich fest ich halte nichts / vom Nippen."
Ein Ausweichen? Nein, es ist vielmehr die schönste Präsentation all dessen, was das "lyrische Ich" vermag. Wenn in der Lyrik "Ich" gesagt wird, bedeutet das schließlich die Aufforderung zum Rollenspiel, eine Maskerade, ein Eintauchen in eine Figur, ein Sich-Anverwandeln in ein fremdes Ich, eben wie durch den Protagonisten in einem Roman - und doch besteht der Reiz für den Leser darin, Autor, Autorin und "lyrisches Ich" zu verwechseln. Es geht also genau darum, wie beim Verfassen einer Autobiographie, zugleich zu enthüllen und zu verbergen. Ulla Hahn ist dies gelungen in einem Buch, das man nicht so leicht vergisst, das einen ein wenig verändert zurücklässt.
SILKE SCHEUERMANN
Ulla Hahn: "Spiel der Zeit". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. 550 S., geb., 24,99 [Euro].
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»Hahns Sprache fließt über weite Strecken wie ein mitreißender breiter Strom, zeitweise stürzen rheinische Dialoge wie ein Wasserfall über den Leser herab.« Die Zeit, 52/14