Das Schicksal einer jungen Frau vor dem imposanten Epochengemälde der 68er, einer der radikalsten Umbruchphasen in der Geschichte der Bundesrepublik.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Ulla Hahns dritter Hilla-Roman, "Spiel der Zeit", stürzt die Protagonistin in politische Wirren.
Mehr als eine halbe Million Leser ließen sich 2001 im Roman "Das verborgene Wort" von der Geschichte des Arbeitermädchens Hilla Palm fesseln, das trotz ihrer einfachen Herkunft die Welt der Worte und Bücher für sich entdeckt. Dass es sich bei der Autorin Ulla Hahn um eine prominente Lyrikerin handelte, die hier ihre fiktionalisierte Autobiographie vorlegte, ließ die Erwartungshaltung von vornherein hoch sein - war doch Ulla Hahn von niemand Geringerem als Marcel Reich-Ranicki entdeckt worden, der die längst sprichwörtlich gewordene Behauptung aufstellte, Lyriker(innen) könnten keine Romane schreiben.
Doch Ulla Hahn hatte sich Zeit gelassen für diesen mehr als 600 Seiten langen, wunderbaren Schmöker, und es gelang ihr darin, ein Porträt Deutschlands in der Adenauer-Ära zu zeichnen, das weit über das mitreißend und emphatisch geschilderte Einzelschicksal hinauswies. Sechs Jahre später, 2007, erschien dann das ebenso umfangreiche Nachfolgebuch "Aufbruch", das Hilla Palms Schicksal weiter bis in die Gymnasialzeit und an den Anfang ihres Germanistikstudiums Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik verfolgt. Und jetzt ist mit "Spiel der Zeit" der dritte Teil der Hilla-Palm-Bücher da.
Sprachmächtig und drängend, gerade so, als ob nun schon genug Zeit verloren worden sei, fängt es an, wenn die Autorin die Leser gleich zu Beginn informiert, wo man stehengeblieben war: "Hilla Palm ist aus Dondorf weg, nach Köln, studiert dort Germanistik und Geschichte, wohnt in einem Haus für katholische Studentinnen, dem Hildegard-Kolleg. Und nur wegen ihr mache ich mich jetzt an den dritten Band, denn wie gesagt, ich kann sie doch nicht hängen lassen, verkommen lassen nach dieser Nacht auf der Lichtung im Krawatter Busch. Wo drei Kerle sie betrunken machten und über sie herfielen. Ihr das antaten, wofür sie bis heute das Wort nicht zu denken wagt." Hier wird das Gefühl der Versehrtheit umschrieben, das das junge Mädchen empfindet und doch für sich behält. Bis sie, dies soll hier verraten werden, Hunderte von Seiten später von ihrem Freund und späteren Verlobten Hugo drängend gebeten wird, das Wort "Vergewaltigung" auszusprechen, es einmal tut und dann nie wieder.
Es ist übrigens fast so etwas wie Liebe auf den ersten Blick bei den beiden, die sich im Kölner Karnevalstrubel zum ersten Mal begegnen. Hilla Palm hat sich trotz des Kopfschüttelns ihrer Freundinnen als unförmige Raupe maskiert, und siehe da, ein junger Mann ist ähnlich klobig als Käfer gekommen; man tanzt zu "You really got me" von den Kinks; zwei Wesensverwandte erkennen sich. Wobei es Hilla nicht stört, dass Hugo auch nach dem Ausziehen des Käfergewands einen kleinen Buckel behält: eine körperliche Absonderlichkeit, die in der Fiktion das einzige Korrektiv zu Hugos ansonsten recht märchenprinzhaftem Auftreten darstellt (andererseits: Liebe ist Liebe, was soll man da meckern). Zwischen den beiden entwickelt sich eine sehr enge Beziehung, die von starker intellektueller wie auch erotischer Stimulation geprägt ist - und von Hugos reicher Familie, dem Breidenbach-Clan, überhaupt nicht goutiert wird.
Doch vor der Freundschaft mit dem jungen Mann wird der Ablösungsprozess der jungen Frau von ihrer Familie beschrieben, der Tod der geliebten Oma, das Sich-Zurechtfinden in der Großstadt, die Auseinandersetzung Hillas mit dem strengen und doch auch scheinheiligen Katholizismus, in dem sie aufwuchs. Die letztere Problematik spiegelt sich in der Geschichte um die Freundschaft zur Kollegmitbewohnerin Greta, einer bildschönen Kommilitonin, der die Welt offenzustehen scheint. Jedenfalls, bis sie schwanger wird, abtreibt und dann aus Reue ins Kloster geht - eine Entscheidung, zu der Hilla unwillentlich beigetragen hat.
Die Greta-Szenen gehören zu den berührendsten im Buch. Gretas Eintritt ins Kloster erscheint dabei nicht nur der Protagonistin Hilla "wie in einem Roman aus dem vorigen Jahrhundert", sondern auch dem Leser - und gerade deshalb ist man sich fast sicher, dass diesen extremen Plot in der Tat "das Leben schrieb". Denn so hätte Ulla Hahn ihn bestimmt nicht erfunden.
Überhaupt die Frage nach der "Erfindung": Schon in den ersten beiden Büchern war das Rätselraten um den Anteil von "biographischer Wahrheit" in der Fiktion groß. Freudig wurde mehr oder minder deutlich Verdecktes enthüllt. So ist etwa der Name von Ulla Hahns Alter Ego Hildegard Palm eine Anspielung auf die von der Schriftstellerin verehrte Lyrikerin Hilde Domin, um deren Mädchennamen es sich handelt. Und das erfundene Dondorf klingt nicht zufällig ähnlich wie Mondorf, der Ort, aus dem Ulla Hahn stammt. Diesmal, wo es um ein erwachseneres Bewusstsein geht, um Werturteile gegenüber Personen und Tendenzen, hat Ulla Hahn gleich zu Beginn des Geschehens dem Roman eine poetologische Vorbemerkung vorangestellt, in der sie den Lesern ihr Verhältnis zur Autobiographie darlegt: "Denn für mich, Hillas alter Ego, war gerade das der Anreiz fürs Schreiben: Erfahrungen und Erfindungen so miteinander zu verschmelzen, dass jenseits von Erfahrung und Erfindung ein Drittes entsteht: die Erzählung, der Text."
Leidenschaftlicher, direkter heißt es an anderer Stelle über dieses Verfahren der poetischen Doppelbelichtung: "Meine kleine Hilla, Schwester, die ich beschützen möchte - ach, dass wir nichts mehr beschützen können, was gestern noch heute war ... Ich bin mein Gestern, ich bin meine Vergangenheit, in jedem Augenblick nichts als Vergangenheit - und Hoffnung auf Zukunft."
Fragt man sich also als Leser, ob die Studentin die Zeit tatsächlich so aufgeweckt miterlebt und diskutiert hat, wie Hahn es darstellt, ob sie wirklich so dicht am Geschehen war, so ist dies eine müßige Aktion, denn schließlich geht es darum, Hillas Umfeld zu schildern, um ihre Person auf diese Weise begreiflicher zu machen. So liest man mit Spannung seitenlange, geradezu enzyklopädische Diskussionen um Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke, die APO, Enzensberger, Pound, Mao und - hier vor allem mit Hugo Breidenbach - über Religion. Ein Zeitpanorama fächert sich auf, ebenso ernsthaft wie amüsant.
Der Leser darf mit Hilla und Hugo auch ein Hippiepaar belächeln, Lilo und Tim, die sich die Zeit vertreiben mit Smoke-ins, Sit-ins, diversen Versuchen der Karmaoptimierung und Cannabiszucht. Ein Klischeepärchen? Wenn es solche Leute Ende der sechziger Jahre nicht gegeben hat, wann dann?
Die emotionale Wahrhaftigkeit, die das Buch antreibt, ist auf jeder Seite spürbar; das Buch lebt von der inneren Spannung zwischen der klugen Autorin Ulla Hahn und der jungen Hilla, die von der Autorin an manchen Stellen im Text sogar direkt angesprochen wird. Dabei lässt Hahns poetologisches Konzept der Doppelbelichtung genug Platz für dichterischen Freiraum, was den Lesern zugutekommt.
Es gibt urkomische Passagen über einen Mixer. Hilla hat das gute Stück so begeistert erstanden, dass sie von einem Kaufhaus als bezahlte Interessentin für den Stand des Produktpräsentators angeheuert wird. Später, als sie das praktische Haushaltsgerät der Mutter in Dondorf schenken will, wird der Schnickschnack (beziehungsweise, in Dondorf, der "Kokolores") so misstrauisch beäugt, dass ihn die Tochter für einen Lotteriegewinn ausgeben muss, damit er überhaupt im Haushalt akzeptiert wird. Immerhin: Von da an gibt es bei jedem Hilla-Besuch Säfte, die der Vater aus selbstgezüchtetem Obst und Gemüse herstellt, und so bringt das Wirtschaftswundergerät in diesem Falle die Generationen zusammen.
Neben solchen ulkigen Begebenheiten trifft man im Text aber auch auf faszinierend lyrische Stellen, etwa wenn Ulla Hahn ihre Hilla sprachspielerisch und Ingeborg Bachmann zitierend überlegen lässt, was sie Hugo (noch) nicht zu sagen wagt: "Doch wie würde ich ihm das sagen können, was ich mir ja selbst nur wortlos zugestand, wie etwas eingestehen, ohne den Grund zu nennen, auf den Grund zu gehen, zugrunde zu gehen, mein Teil, es soll verloren gehen."
Doch nicht nur auf diese Weise gibt die Autorin von "Spiel der Zeit" sich als Dichterin zu erkennen; immer wieder sind Gedichte aus ihrem Werk eingestreut, am überraschendsten (und plausibelsten) an der Stelle, als es zum Sex mit Hugo kommt. Anstatt die Liebesnacht zu beschreiben, findet sich - einerseits deutlich, andererseits taktvoll - hier Hahns wohl bekanntestes Gedicht, nämlich das unanständige "Anständige Sonett", beginnend mit den Zeilen: "Komm beiß dich fest ich halte nichts / vom Nippen."
Ein Ausweichen? Nein, es ist vielmehr die schönste Präsentation all dessen, was das "lyrische Ich" vermag. Wenn in der Lyrik "Ich" gesagt wird, bedeutet das schließlich die Aufforderung zum Rollenspiel, eine Maskerade, ein Eintauchen in eine Figur, ein Sich-Anverwandeln in ein fremdes Ich, eben wie durch den Protagonisten in einem Roman - und doch besteht der Reiz für den Leser darin, Autor, Autorin und "lyrisches Ich" zu verwechseln. Es geht also genau darum, wie beim Verfassen einer Autobiographie, zugleich zu enthüllen und zu verbergen. Ulla Hahn ist dies gelungen in einem Buch, das man nicht so leicht vergisst, das einen ein wenig verändert zurücklässt.
SILKE SCHEUERMANN
Ulla Hahn: "Spiel der Zeit". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. 550 S., geb., 24,99 [Euro].
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