Das literarische Abenteuer aus Norwegen, das autobiographische Projekt von Karl Ove Knausgård geht weiter: Nach Sterben und Lieben nun Spielen – ein Roman über eine Kindheit, der eine Welt beschreibt, in der Kinder und Erwachsene parallele Leben führen, die sich nie begegnen. Alles beginnt mit einer traditionellen Familie: Vater, Mutter und zwei Jungen, die nach Südnorwegen ziehen, in ein neues Haus in einer neuen Siedlung. Es sind die frühen Siebzigerjahre, die Kinder sind klein, die Eltern jung, die Zukunft scheint offen und verheißungsvoll. Aber irgendwann beginnt sie sich zu schließen, irgendwann wird das, was mit großen Hoffnungen begann, klein und festgelegt. Was ist passiert? Wie konnte es dazu kommen?
»An einem milden und bewölkten Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, ein Bus. Er gehörte der Arendal-Dampfschifffahrtsgesellschaft und war wie alle Busse des Unternehmens hell- und dunkelbraun. Er fuhr über eine Brücke, an einer schmalen Bucht entlang, blinkte rechts und hielt. Die Tür ging auf, eine kleine Familie stieg aus. Der Vater, ein großer und schlanker Mann in einem weißen Hemd und einer hellen Polyesterhose, trug zwei Koffer. Die Mutter, in einem beigen Mantel und mit einem hellblauen Kopftuch, das um die langen Haare geschlungen war, hielt an der einen Hand einen Kinderwagen und an der anderen einen kleinen Jungen. Als der Bus weitergefahren war, hing seine dicke, graue Abgaswolke noch für einen Moment über dem Asphalt.«
»An einem milden und bewölkten Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, ein Bus. Er gehörte der Arendal-Dampfschifffahrtsgesellschaft und war wie alle Busse des Unternehmens hell- und dunkelbraun. Er fuhr über eine Brücke, an einer schmalen Bucht entlang, blinkte rechts und hielt. Die Tür ging auf, eine kleine Familie stieg aus. Der Vater, ein großer und schlanker Mann in einem weißen Hemd und einer hellen Polyesterhose, trug zwei Koffer. Die Mutter, in einem beigen Mantel und mit einem hellblauen Kopftuch, das um die langen Haare geschlungen war, hielt an der einen Hand einen Kinderwagen und an der anderen einen kleinen Jungen. Als der Bus weitergefahren war, hing seine dicke, graue Abgaswolke noch für einen Moment über dem Asphalt.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2014Ein Roman wie Big Data
Karl Ove Knausgårds "Spielen" erzählt in allen Details
Mit der Erinnerung verhält es sich wie mit dem Gang in ein dunkles Gewölbe: Nur punktuell sieht man nach den ersten, mit geweiteten Pupillen bewältigten Metern, was der hin und her wandernde Lichtkegel der Lampe erfasst. Und nach dem Wiederausstieg ins Licht bleibt die Ungewissheit, ob man dem Gesehenen trauen darf.
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård, ein Mann, den das Umschlagfoto in Bukowski-Pose vorstellt, wagt sich für sein monumentales, auf sechs Bände angelegtes Romanprojekt "Min Kamp" (das ist der vom deutschen Verlag gescheute Originaltitel der Reihe) immer wieder in das Gewölbe hinein. Jedes banale Detail schreibt er auf: schonungslos und ehrlich, wie man gemeinhin so sagt. Ein fleißiger Arbeiter im Weinberg des Herrn.
In Norwegen, wo es Knausgård zum Bestseller brachte, hat das zu einer polarisierten, einmal mehr von Jan Kjærstad angeschobenen Debatte darüber geführt, was die Schriftsteller einer neuen Generation, die Marketingabteilungen der Verlage und die Literaturkritik zu leisten in der Lage sind. Als hätten nicht auch schon Montaigne, die Kristiania-Boheme oder Per Olov Enquist über das eigene Leben geschrieben.
Trotzdem scheint von dem Knausgårdschen Realismus-Experiment im Zeitalter der Selbstdarstellung und des digitalen Voyeurismus ein so großer Reiz auszugehen, dass die Begeisterung mit den ersten beiden (bereits ins Deutsche übertragenen) Bänden "Sterben" und "Lieben" mühelos ins Ausland überschwappte. Das erklärte Knausgård selbst so: "Es findet eine Identifikation mit dem Leben an sich statt."
Das mag sein. Widmete sich der Lehrersohn in den beiden Auftaktbänden der Erinnerung an den schwierigen Vater und der durchaus frustrierenden Aufgabe, sich um die eigene Familie zu kümmern, steigt Knausgård nun mit dem dritten Teil "Spielen" erschöpfend ausführlich in die eigene Kindheit. Und wieder triggert jede noch so triviale Entdeckung Karl Ove Knausgårds eine eigene, von den endlosen Stunden in der Schule bis hin zu den handlungsarmen Abenden daheim: "Wenn wir gegessen hatten, sahen wir fern." Er mag ein unbedeutender Egomane und Narziss sein. Aber wir sind es auch.
Allerdings kommt noch etwas dazu. Die Generation nach ihm kann den Rechner einschalten, wenn sie an die Kindheit zurückdenkt. Sie kann die Detailflut ihrer Facebook-, Twitter- und Flickr-Accounts sichten, eines Tages gar Unternehmen befragen, die sämtliche Kindheitsdaten von der Gesundheitsakte bis zu den Notizen der Kindergärtnerin und der Handyfotos der Klassenkameraden in ein Geschäftsmodell gießen lassen. Sie hat die Maschine, die vorgibt, ihr Leben erzählen zu können.
Der 1968 geborene Knausgård hat da vergleichsweise wenig. Lässt man das Soghafte der Sprache und die (im dritten Band leider weniger) starken essayistischen Passagen außen vor, dürfte auch das die breite Faszination für das Projekt zu entschlüsseln helfen. Wir lesen ihn, während wir über "Big Data" reden.
Dabei hat es seinen Sinn, dass die Details im Vergessen verschwinden. "Aus ihrem Mundwinkel lief ein wenig Spucke", heißt es bei Knausgård über dessen ersten, mehr sportlich in Angriff genommenen Kuss. Die Magie des Lebens käme uns ohne das Vergessen, Verdrängen und Geschichtenspinnen abhanden.
Das zu bemerken ist das Schönste an diesem Buch. Zumal es die phantastische Literatur war, Hugh Loftings "Doktor Dolittle" etwa oder Otfried Preußlers "Kleine Hexe", die den Knirps nach dem Zähneputzen und Gute-Nacht-Mama-Rufen aus dem banalen Alltag befreite so wie das unbeobachtete "Spielen" im Grünen bei Tag.
MATTHIAS HANNEMANN
Karl Ove Knausgård: "Spielen". Roman.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2014. 571 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Ove Knausgårds "Spielen" erzählt in allen Details
Mit der Erinnerung verhält es sich wie mit dem Gang in ein dunkles Gewölbe: Nur punktuell sieht man nach den ersten, mit geweiteten Pupillen bewältigten Metern, was der hin und her wandernde Lichtkegel der Lampe erfasst. Und nach dem Wiederausstieg ins Licht bleibt die Ungewissheit, ob man dem Gesehenen trauen darf.
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård, ein Mann, den das Umschlagfoto in Bukowski-Pose vorstellt, wagt sich für sein monumentales, auf sechs Bände angelegtes Romanprojekt "Min Kamp" (das ist der vom deutschen Verlag gescheute Originaltitel der Reihe) immer wieder in das Gewölbe hinein. Jedes banale Detail schreibt er auf: schonungslos und ehrlich, wie man gemeinhin so sagt. Ein fleißiger Arbeiter im Weinberg des Herrn.
In Norwegen, wo es Knausgård zum Bestseller brachte, hat das zu einer polarisierten, einmal mehr von Jan Kjærstad angeschobenen Debatte darüber geführt, was die Schriftsteller einer neuen Generation, die Marketingabteilungen der Verlage und die Literaturkritik zu leisten in der Lage sind. Als hätten nicht auch schon Montaigne, die Kristiania-Boheme oder Per Olov Enquist über das eigene Leben geschrieben.
Trotzdem scheint von dem Knausgårdschen Realismus-Experiment im Zeitalter der Selbstdarstellung und des digitalen Voyeurismus ein so großer Reiz auszugehen, dass die Begeisterung mit den ersten beiden (bereits ins Deutsche übertragenen) Bänden "Sterben" und "Lieben" mühelos ins Ausland überschwappte. Das erklärte Knausgård selbst so: "Es findet eine Identifikation mit dem Leben an sich statt."
Das mag sein. Widmete sich der Lehrersohn in den beiden Auftaktbänden der Erinnerung an den schwierigen Vater und der durchaus frustrierenden Aufgabe, sich um die eigene Familie zu kümmern, steigt Knausgård nun mit dem dritten Teil "Spielen" erschöpfend ausführlich in die eigene Kindheit. Und wieder triggert jede noch so triviale Entdeckung Karl Ove Knausgårds eine eigene, von den endlosen Stunden in der Schule bis hin zu den handlungsarmen Abenden daheim: "Wenn wir gegessen hatten, sahen wir fern." Er mag ein unbedeutender Egomane und Narziss sein. Aber wir sind es auch.
Allerdings kommt noch etwas dazu. Die Generation nach ihm kann den Rechner einschalten, wenn sie an die Kindheit zurückdenkt. Sie kann die Detailflut ihrer Facebook-, Twitter- und Flickr-Accounts sichten, eines Tages gar Unternehmen befragen, die sämtliche Kindheitsdaten von der Gesundheitsakte bis zu den Notizen der Kindergärtnerin und der Handyfotos der Klassenkameraden in ein Geschäftsmodell gießen lassen. Sie hat die Maschine, die vorgibt, ihr Leben erzählen zu können.
Der 1968 geborene Knausgård hat da vergleichsweise wenig. Lässt man das Soghafte der Sprache und die (im dritten Band leider weniger) starken essayistischen Passagen außen vor, dürfte auch das die breite Faszination für das Projekt zu entschlüsseln helfen. Wir lesen ihn, während wir über "Big Data" reden.
Dabei hat es seinen Sinn, dass die Details im Vergessen verschwinden. "Aus ihrem Mundwinkel lief ein wenig Spucke", heißt es bei Knausgård über dessen ersten, mehr sportlich in Angriff genommenen Kuss. Die Magie des Lebens käme uns ohne das Vergessen, Verdrängen und Geschichtenspinnen abhanden.
Das zu bemerken ist das Schönste an diesem Buch. Zumal es die phantastische Literatur war, Hugh Loftings "Doktor Dolittle" etwa oder Otfried Preußlers "Kleine Hexe", die den Knirps nach dem Zähneputzen und Gute-Nacht-Mama-Rufen aus dem banalen Alltag befreite so wie das unbeobachtete "Spielen" im Grünen bei Tag.
MATTHIAS HANNEMANN
Karl Ove Knausgård: "Spielen". Roman.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2014. 571 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Und nun der dritte Teil dieser spannenden Vorabendserie namens "Min Kamp" von Karl Ove Knausgård, deren Thema Alex Rühle auf die Frage "Wer bin ich und wenn ja, warum?" reduziert. Der Rezensent verschlingt das wie nichts, auch wenn er nicht weiß, wo die Wirklichkeit, wo die Einbildungskraft des Autors am Werk ist. Egal, Hauptsache ehrlich, findet Rühle und taucht mit ein in die Welt der 70er, die Kindheitswelt des Autors und auch, wie Rühle feststellt, die eigene. Das liegt am ungefilterten Aufguss, den Kanusgard vorlegt, auch wenn kein Plot erkennbar wird, zwischen Hüpfgummispielen und Comic-Lektüre des Erzählers. Hypnotisch sei der Text, so Rühle, und mehr als oberflächliches Sammelsurium, nämlich eine Art norwegischer Proust, detailreich und das Leben bei der Arbeit zeigend. Also: Zeit nehmen und einsteigen! Rät Rühle.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.01.2014Das absolute Gehör der Erinnerung
Karl Ove Knausgård schreibt mit dem dritten Band sein autobiografisches Erzählprojekt
„Min Kamp“ fort – dieser radikale existenzielle Kassensturz wurde zur literarischen Sensation
VON ALEX RÜHLE
Was ist die Erinnerung? Ein Haufen Trugbilder, retrospektiv zusammenphantasiert im Dunkel unseres Neuronenwusts? Oder doch ein zeitlich gestaffeltes Fotoalbum, in dem die eigene Geschichte objektiv abgespeichert liegt? Karl Ove Knausgård lässt bewusst offen, wie viel Dichtung, wie viel Wahrheit sein riesiges Erinnerungsprojekt „Min Kamp“ enthält, dessen dritter Band nun auf deutsch erschienen ist.
Am Anfang sieht man eine Familie aus einem Bus steigen. Späte Sechzigerjahre, junge Eltern, an der einen Hand der Mutter ein vierjähriger Junge, daneben ein Kinderwagen, in dem der zukünftige Autor liegt, acht Monate alt. Während die Familie nun in Richtung ihrer neuen Wohnung läuft, liefert Knausgård ein paar Snapshots: eine Trabantenstadt am Rand der Natur. Die Mutter im beigen Mantel, der Vater in Polyesterhosen, alle in Richtung neues Leben, Zukunft, fernes Alter stapfend. Aber wie will der achtmonatige Säugling, der hier, auf der südostnorwegischen Insel Tromøy, im Verlauf des Buches zu einem 11-jährigen Jungen heranwachsen wird, all das gesehen haben? „Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist“, schreibt Knausgård warnend und vergleicht das Gedächtnis mit einem servil-verlogenen Dienstleister: „Es tut alles, um seinen Wirt zufriedenzustellen. Manches verschiebt es ins leere Nichts des Vergessens, manches verdreht es bis zur Unkenntlichkeit, manches versteht es galant falsch, manches, und dieses manche ist so gut wie nichts, manches bleibt ihm scharf, glasklar und korrekt in Erinnerung.“
Es ist beeindruckend, was Karl Ove Knausgård aus diesem vermeintlich so Wenigen geschaffen hat. Sechs Bände umfasst sein autobiografisches Experiment, das er im Alter von vierzig Jahren in Angriff nahm. Zwei halbwegs erfolgreiche Romane hatte er bis dahin verfasst, 2008 aber geriet er in eine schwere Schaffenskrise und zog sich zurück, um sich seine eigene Geschichte von der Seele zu schreiben, bis zu zwanzig Seiten täglich.
Knausgård dachte nicht im Traum daran, damit erfolgreich zu sein, im Gegenteil, die sechs Bände wurden in einem Kleinverlag in winziger Auflage veröffentlicht. Es ging ihm bei diesem Klumpatsch nicht mal um ästhetische Schönheit. „Damit Literatur entstehen kann, muss das Markante in Thematik und Stil niedergerissen werden“, verkündete er im ersten Band so apodiktisch wie programmatisch: Kein kunstvoll verdichteter Text soll das hier sein, sondern eine Art existenzieller Kassensturz, die eigene biografische Wahrheit: Wer bin ich und wenn ja, warum? Gleichzeitig war das Ganze paradoxerweise angelegt als ästhetischer Befreiungsakt: Alles ungefiltert aufschreiben, um danach nie mehr fiktional schreiben zu müssen. Scheint geklappt zu haben. Der letzte Band (der auf Deutsch 2015 erscheinen wird), endet mit dem erleichterten Ausruf: „Ich bin so glücklich, dass ich kein Autor mehr bin!“
Das Ganze wurde zur literarischen Überraschungssensation, in Norwegen, einem Land mit weniger als fünf Millionen Einwohnern, verkauften sich mehr als 450 000 Exemplare des Mammuttextes, „Min Kamp“ wurde in dreißig Sprachen übersetzt, jetzt ist wie gesagt der dritte Band auf Deutsch erschienen. „Spielen“ heißt er, umfasst die knausgårdüblichen 570 Seiten und erzählt die ersten Lebensjahre, eine Mittelschichtskindheit, Schulödnis, Kinderfreundschaften, Spiele im Wald, die seltsam steife Welt der Erwachsenen, alles vor der Kulisse der Siebzigerjahre als einem großen Zukunftsversprechen, und dann, mit elf, das jähe Ende dieses Lebenskapitels, spiegelverkehrt zum Anfang: Ein Umzug, wieder steht die Familie da, der Möbelwagen fährt ab, und der Junge weiß, „dass die Häuser und Orte, die hinter mir verschwanden, auch aus meinem Leben verschwinden würden, und zwar für immer. Niemals hätte ich geglaubt, dass mir jedes einzelne Detail der Landschaft und jeder einzelne Mensch, der in ihr wohnte, für alle Zeit präzise und genau im Gedächtnis bleiben würde, eine Art absolutem Gehör der Erinnerungen.“
Also doch die totale Erinnerung?
Nun, Knausgårds Text ist eben beides: Exzessives Erinnerungskonvolut, ein Puzzle namens Alltag aus 80 0000 Winzigkeiten: die Busse, die noch dicke Abgaswolken hinterlassen, Tapetenfarben und ComicHeldennamen, Hüpfgummispiele, Neubautreppenhausgerüche und die Tankstelle, in der sie sich immer Süßigkeiten holen, als chromglitzerndes, magisch in die Nacht strahlendes Architekturevent. Die Hänseleien, nachdem ihm die Mutter für den Schwimmunterricht eine rosane Badekappe gekauft hat; das erste kribbelnde Gefühl des Verliebtseins, das gar nichts von sich selber weiß; die
All das so reich ausgestattet, dass man beim Lesen oft den Eindruck hat, durch die eigene Kindheit zu laufen, durch unser aller Siebzigerjahre. Ja, es stellt sich durch diese opulente Sammelleidenschaft, die den Text streckenweise zu einem Fluss ohne Ufer anschwellen lässt, eine Art hypnotischer Sog ein. Knausgård schreibt selbst einmal über die seltsam schöne Erfahrung endlos langer Urlaubsautofahrten, „wir würden den ganzen Tag und Abend unterwegs sein, und selbst das Vertrauteste des Vertrauten wirkte auf einmal ganz anders.“
Gleichzeitig ist es eben viel mehr als nur zeitgeistiges Oberflächensammelsurium. Denn direkt neben der Spielewelt, dem Wald am Rand der Siedlung, dem Schrottplatz, den Straßen, auf denen damals immer irgendwelche Nachbarskinder unterwegs waren, liegt das Zuhause, ein klaustrophobischer Ort – schließlich wird das Haus regiert vom Vater, einem Lehrer, der seine Kinder Tag um Tag in ein emotionales Kältebad taucht, ein schwarzer Schatten, dem die Jungen ausgeliefert sind und der im Haus eine Angst verbreitet, so dass sich der zehnjährige Karl Ove angewöhnt, bewegungslos auf seinem Bett zu lesen, nur um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Dieser Vater bildet die schwarze Klammer des ganzen Projekts, schließlich begann Knausgård das ganze Unterfangen mit dem grauenhaften Tod dieses Mannes: „Sterben“ erzählte davon, wie sich der Vater über Jahre totgesoffen hat. Im zweiten Band, „Lieben“, beschrieb Knausgård , wie es ihn als Familienvater schier zerreißt zwischen dem sehnlichen Wunsch, selber die Rollen des Vaters und Ehemanns anders, besser, liebevoller auszufüllen als der eigene Vater, und dem tief in ihm verwurzelten ehrgeizigen Streben nach Anerkennung, „Größe“, einem eigenen Werk.
Man könnte sagen, dass „Min Kamp“ in seiner ganzen Form eine Art späte Rache an diesem Vater bildet, „der unentwegt versuchte, alles aus unserem Leben herauszufiltern, was keine direkte Relevanz für die jeweilige Situation hatte: Wir aßen, weil wir essen mussten, die Zeit, die wir mit den Mahlzeiten verbrachten, hatte keinen Wert an sich; wenn wir fernsahen, dann sahen wir fern und sollten weder reden noch etwas anderes nebenher tun; wenn wir in den Garten gingen, mussten wir den Steinplatten folgen, zu diesem Zweck waren sie verlegt worden, während man auf dem Rasen, der so groß und einladend war, weder gehen oder laufen noch liegen durfte.“
Jetzt, über dreißig Jahre später, erobert sich Knausgård den ganzen großen, einladenden Rasen zurück. Er pfeift auf die Steinplatten und läuft mitten durch den Garten. Dass er dabei tiefe Spuren hinterlässt, nimmt er in Kauf: Seine Frau musste vorübergehend in die Psychiatrie, als sie gelesen hatte, wie hemmungslos der Mann ihrer beider Leben ausgestellt hatte. Die Familie seines Vaters wollte gerichtlich verhindern lassen, dass „Sterben“ erschien. im Zusammenhang damit sagte Knausgård einen Satz, der noch mal die beiden Formen des Erinnerns zusammenbringt: „Es war vielleicht nicht wahr, was ich geschrieben habe, aber es war ehrlich.“
Wer plotgetriebene Lektüre sucht, sollte gar nicht erst in diesen wild wuchernden Text hineinlaufen. Aber wer dem Leben gerne bei der Arbeit zusieht, wer Prousts „Recherche“ liebt und weiß, dass große Kunst aus Details besteht, wer es aushält, einem Menschen zuzusehen, den man zu Teilen sehr unsympathisch findet, aber den man trotzdem versteht, der sollte viel Zeit mitbringen: Knausgård hat einen Sogeffekt wie amerikanische Serien.
Was aber sein Vorhaben angeht, mit diesem Buch das fiktionale Schreiben hinter sich zu lassen – das scheint tatsächlich auf Dauer geklappt zu haben, Knausgård lebt heute als Essayist, Übersetzer und Kleinverleger in Südschweden.
Schreiben, um alles Schreiben
hinter sich zu lassen: „Ich bin froh,
dass ich kein Autor mehr bin.“
„Es war vielleicht nicht wahr,
was ich geschrieben habe,
aber es war ehrlich.“
Von Wald umgeben, die Bibliothek im Rücken: Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård in seinem Haus in Ystad in Südschweden im Oktober 2013.
Foto: Joachim Ladefoged/VII
Karl Ove Knausgård: Spielen. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013. 576 Seiten. 22,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Karl Ove Knausgård schreibt mit dem dritten Band sein autobiografisches Erzählprojekt
„Min Kamp“ fort – dieser radikale existenzielle Kassensturz wurde zur literarischen Sensation
VON ALEX RÜHLE
Was ist die Erinnerung? Ein Haufen Trugbilder, retrospektiv zusammenphantasiert im Dunkel unseres Neuronenwusts? Oder doch ein zeitlich gestaffeltes Fotoalbum, in dem die eigene Geschichte objektiv abgespeichert liegt? Karl Ove Knausgård lässt bewusst offen, wie viel Dichtung, wie viel Wahrheit sein riesiges Erinnerungsprojekt „Min Kamp“ enthält, dessen dritter Band nun auf deutsch erschienen ist.
Am Anfang sieht man eine Familie aus einem Bus steigen. Späte Sechzigerjahre, junge Eltern, an der einen Hand der Mutter ein vierjähriger Junge, daneben ein Kinderwagen, in dem der zukünftige Autor liegt, acht Monate alt. Während die Familie nun in Richtung ihrer neuen Wohnung läuft, liefert Knausgård ein paar Snapshots: eine Trabantenstadt am Rand der Natur. Die Mutter im beigen Mantel, der Vater in Polyesterhosen, alle in Richtung neues Leben, Zukunft, fernes Alter stapfend. Aber wie will der achtmonatige Säugling, der hier, auf der südostnorwegischen Insel Tromøy, im Verlauf des Buches zu einem 11-jährigen Jungen heranwachsen wird, all das gesehen haben? „Das Gedächtnis ist keine verlässliche Größe im Leben, aus dem einfachen Grund, dass für das Gedächtnis nicht die Wahrheit am wichtigsten ist“, schreibt Knausgård warnend und vergleicht das Gedächtnis mit einem servil-verlogenen Dienstleister: „Es tut alles, um seinen Wirt zufriedenzustellen. Manches verschiebt es ins leere Nichts des Vergessens, manches verdreht es bis zur Unkenntlichkeit, manches versteht es galant falsch, manches, und dieses manche ist so gut wie nichts, manches bleibt ihm scharf, glasklar und korrekt in Erinnerung.“
Es ist beeindruckend, was Karl Ove Knausgård aus diesem vermeintlich so Wenigen geschaffen hat. Sechs Bände umfasst sein autobiografisches Experiment, das er im Alter von vierzig Jahren in Angriff nahm. Zwei halbwegs erfolgreiche Romane hatte er bis dahin verfasst, 2008 aber geriet er in eine schwere Schaffenskrise und zog sich zurück, um sich seine eigene Geschichte von der Seele zu schreiben, bis zu zwanzig Seiten täglich.
Knausgård dachte nicht im Traum daran, damit erfolgreich zu sein, im Gegenteil, die sechs Bände wurden in einem Kleinverlag in winziger Auflage veröffentlicht. Es ging ihm bei diesem Klumpatsch nicht mal um ästhetische Schönheit. „Damit Literatur entstehen kann, muss das Markante in Thematik und Stil niedergerissen werden“, verkündete er im ersten Band so apodiktisch wie programmatisch: Kein kunstvoll verdichteter Text soll das hier sein, sondern eine Art existenzieller Kassensturz, die eigene biografische Wahrheit: Wer bin ich und wenn ja, warum? Gleichzeitig war das Ganze paradoxerweise angelegt als ästhetischer Befreiungsakt: Alles ungefiltert aufschreiben, um danach nie mehr fiktional schreiben zu müssen. Scheint geklappt zu haben. Der letzte Band (der auf Deutsch 2015 erscheinen wird), endet mit dem erleichterten Ausruf: „Ich bin so glücklich, dass ich kein Autor mehr bin!“
Das Ganze wurde zur literarischen Überraschungssensation, in Norwegen, einem Land mit weniger als fünf Millionen Einwohnern, verkauften sich mehr als 450 000 Exemplare des Mammuttextes, „Min Kamp“ wurde in dreißig Sprachen übersetzt, jetzt ist wie gesagt der dritte Band auf Deutsch erschienen. „Spielen“ heißt er, umfasst die knausgårdüblichen 570 Seiten und erzählt die ersten Lebensjahre, eine Mittelschichtskindheit, Schulödnis, Kinderfreundschaften, Spiele im Wald, die seltsam steife Welt der Erwachsenen, alles vor der Kulisse der Siebzigerjahre als einem großen Zukunftsversprechen, und dann, mit elf, das jähe Ende dieses Lebenskapitels, spiegelverkehrt zum Anfang: Ein Umzug, wieder steht die Familie da, der Möbelwagen fährt ab, und der Junge weiß, „dass die Häuser und Orte, die hinter mir verschwanden, auch aus meinem Leben verschwinden würden, und zwar für immer. Niemals hätte ich geglaubt, dass mir jedes einzelne Detail der Landschaft und jeder einzelne Mensch, der in ihr wohnte, für alle Zeit präzise und genau im Gedächtnis bleiben würde, eine Art absolutem Gehör der Erinnerungen.“
Also doch die totale Erinnerung?
Nun, Knausgårds Text ist eben beides: Exzessives Erinnerungskonvolut, ein Puzzle namens Alltag aus 80 0000 Winzigkeiten: die Busse, die noch dicke Abgaswolken hinterlassen, Tapetenfarben und ComicHeldennamen, Hüpfgummispiele, Neubautreppenhausgerüche und die Tankstelle, in der sie sich immer Süßigkeiten holen, als chromglitzerndes, magisch in die Nacht strahlendes Architekturevent. Die Hänseleien, nachdem ihm die Mutter für den Schwimmunterricht eine rosane Badekappe gekauft hat; das erste kribbelnde Gefühl des Verliebtseins, das gar nichts von sich selber weiß; die
All das so reich ausgestattet, dass man beim Lesen oft den Eindruck hat, durch die eigene Kindheit zu laufen, durch unser aller Siebzigerjahre. Ja, es stellt sich durch diese opulente Sammelleidenschaft, die den Text streckenweise zu einem Fluss ohne Ufer anschwellen lässt, eine Art hypnotischer Sog ein. Knausgård schreibt selbst einmal über die seltsam schöne Erfahrung endlos langer Urlaubsautofahrten, „wir würden den ganzen Tag und Abend unterwegs sein, und selbst das Vertrauteste des Vertrauten wirkte auf einmal ganz anders.“
Gleichzeitig ist es eben viel mehr als nur zeitgeistiges Oberflächensammelsurium. Denn direkt neben der Spielewelt, dem Wald am Rand der Siedlung, dem Schrottplatz, den Straßen, auf denen damals immer irgendwelche Nachbarskinder unterwegs waren, liegt das Zuhause, ein klaustrophobischer Ort – schließlich wird das Haus regiert vom Vater, einem Lehrer, der seine Kinder Tag um Tag in ein emotionales Kältebad taucht, ein schwarzer Schatten, dem die Jungen ausgeliefert sind und der im Haus eine Angst verbreitet, so dass sich der zehnjährige Karl Ove angewöhnt, bewegungslos auf seinem Bett zu lesen, nur um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Dieser Vater bildet die schwarze Klammer des ganzen Projekts, schließlich begann Knausgård das ganze Unterfangen mit dem grauenhaften Tod dieses Mannes: „Sterben“ erzählte davon, wie sich der Vater über Jahre totgesoffen hat. Im zweiten Band, „Lieben“, beschrieb Knausgård , wie es ihn als Familienvater schier zerreißt zwischen dem sehnlichen Wunsch, selber die Rollen des Vaters und Ehemanns anders, besser, liebevoller auszufüllen als der eigene Vater, und dem tief in ihm verwurzelten ehrgeizigen Streben nach Anerkennung, „Größe“, einem eigenen Werk.
Man könnte sagen, dass „Min Kamp“ in seiner ganzen Form eine Art späte Rache an diesem Vater bildet, „der unentwegt versuchte, alles aus unserem Leben herauszufiltern, was keine direkte Relevanz für die jeweilige Situation hatte: Wir aßen, weil wir essen mussten, die Zeit, die wir mit den Mahlzeiten verbrachten, hatte keinen Wert an sich; wenn wir fernsahen, dann sahen wir fern und sollten weder reden noch etwas anderes nebenher tun; wenn wir in den Garten gingen, mussten wir den Steinplatten folgen, zu diesem Zweck waren sie verlegt worden, während man auf dem Rasen, der so groß und einladend war, weder gehen oder laufen noch liegen durfte.“
Jetzt, über dreißig Jahre später, erobert sich Knausgård den ganzen großen, einladenden Rasen zurück. Er pfeift auf die Steinplatten und läuft mitten durch den Garten. Dass er dabei tiefe Spuren hinterlässt, nimmt er in Kauf: Seine Frau musste vorübergehend in die Psychiatrie, als sie gelesen hatte, wie hemmungslos der Mann ihrer beider Leben ausgestellt hatte. Die Familie seines Vaters wollte gerichtlich verhindern lassen, dass „Sterben“ erschien. im Zusammenhang damit sagte Knausgård einen Satz, der noch mal die beiden Formen des Erinnerns zusammenbringt: „Es war vielleicht nicht wahr, was ich geschrieben habe, aber es war ehrlich.“
Wer plotgetriebene Lektüre sucht, sollte gar nicht erst in diesen wild wuchernden Text hineinlaufen. Aber wer dem Leben gerne bei der Arbeit zusieht, wer Prousts „Recherche“ liebt und weiß, dass große Kunst aus Details besteht, wer es aushält, einem Menschen zuzusehen, den man zu Teilen sehr unsympathisch findet, aber den man trotzdem versteht, der sollte viel Zeit mitbringen: Knausgård hat einen Sogeffekt wie amerikanische Serien.
Was aber sein Vorhaben angeht, mit diesem Buch das fiktionale Schreiben hinter sich zu lassen – das scheint tatsächlich auf Dauer geklappt zu haben, Knausgård lebt heute als Essayist, Übersetzer und Kleinverleger in Südschweden.
Schreiben, um alles Schreiben
hinter sich zu lassen: „Ich bin froh,
dass ich kein Autor mehr bin.“
„Es war vielleicht nicht wahr,
was ich geschrieben habe,
aber es war ehrlich.“
Von Wald umgeben, die Bibliothek im Rücken: Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård in seinem Haus in Ystad in Südschweden im Oktober 2013.
Foto: Joachim Ladefoged/VII
Karl Ove Knausgård: Spielen. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013. 576 Seiten. 22,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.
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