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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Im Schatten häuslicher Gewalt und versehrter Gespenster: Hilary Mantels Erzählungsband "Sprechen lernen" als Summe ihrer Sprachkunst
Die als Autorin historischer Romane bekannte und für ihre Trilogie über Thomas Cromwell mehrfach mit dem Bookerpreis ausgezeichnete Hilary Mantel starb im September 2022 überraschend im Alter von siebzig Jahren. Für alle, die die Autorin noch nicht kennen, sind die ein Jahr später nun auf Deutsch erschienenen Erzählungen aus dem Band "Sprechen lernen" die beste Gelegenheit, das zu ändern.
Auf dem Coverfoto des für seinen anthropologischen Blick berühmten britischen Fotografen Martin Parr balancieren zwei Kinder unter bleigrauem Himmel auf der Mauerkrone einer Brücke. Im Hintergrund teilnahmslose Wohnsilos und Backsteingebäude: England in den Fünfzigern und Sechzigern. Wenn die Kinder damals nicht abgestürzt sind, sind sie heute alt. Vielleicht blicken sie dann zurück, wie die Autorin in "Sprechen lernen" auf ihre Kindheit als Angehörige der katholischen irischstämmigen Minderheit in einem Dorf in Derbyshire. Textilfabriken, Arbeiter und deren Ehefrauen, eine unübersichtliche Familie mit zahllosen Cousins und Tanten sowie eine aus beiden Konfessionen mittels Provinzialität destillierte Moral prägen das Bild. "Trotzdem holte meine Mutter, als ich sieben war, ihren Geliebten zu uns ins Haus, und während der nächsten vier Jahre lebte ich mit zwei Vätern unter einem Dach."
"Autoskopisch" nennt die Autorin im 2020 verfassten Vorwort ihre Geschichten. Aus entfernter Perspektive wird die Hülle des eigenen Kinderkörpers mit Wörtern gefüllt. Auch die anderen Figuren wandeln sich kaleidoskopisch um einen festen Kern. Lediglich der Stiefvater "Jack" behält als beständiger Stein des Anstoßes denselben Namen. Durch das kohärent erzählte Sozialgefüge entfaltet "Sprechen lernen" romanartigen Sog. Virtuos wird immer wieder aus leicht verschobenem Blickwinkel eine Leerstelle angesteuert, umkreist und verfehlt. Mal ist es ein versunkenes Dorf, dann sind es auf magische Weise verschwindende Hunde, ein schäbiges Kaufhaus, das die in ihm arbeitenden Frauen zu Gespenstern ihrer selbst ruiniert, oder das beinahe Versinken in einem apokalyptischen Schrottplatz - und über allem liegt der Schatten einer häuslichen Gewalt, die stets im letzten Moment dem sprachlichen Zugriff entschlüpft.
Kränklich, vorpubertär changierend zwischen den Geschlechtern, einmal als Junge, sonst als Mädchen auftretend, gräbt sich die rückblickende Erzählstimme zurück in den poetischen Blick eines heranwachsenden Kindes. Wie es darüber nachdenkt, den Bruder zu ertränken, und mit den Demütigungen hadert, denen es wegen seines Geschlechts, des Verhaltens der Mutter, Herkunft und Akzent ausgesetzt ist. Schwindelerregend leichthändig und oft irrsinnig komisch lässt Mantel ihre kindlichen Alter Egos lernen, Dinge nicht zu sagen oder zumindest richtig falsch zu antworten - wie die Erwachsenen es vorgeben und vorleben.
Sprache ist alles, daher zeichnet "Sprechen lernen" Kindheit als linguistisches Absurdistan voller komisch-sadistischer Herausforderungen, an denen Kinder nur scheitern können. Den neuen Mann der Mutter plötzlich statt "Jack" "Daddy-Jack" zu nennen und gleichzeitig statt "schwarz" "farbig" zu sagen wird dem neunjährigen Erzählerinnen-Ich vor dem Besuch bei einem aus Afrika stammenden ehemaligen Arbeitskollegen des Stiefvaters eingeschärft: "Schwarz, sagte meine Mutter, ist nicht der Ausdruck, den höfliche Leute benutzen." Während die Erwachsenen verkrampft die Hautfarben der Kinder von Jacob mit seiner weißen Frau Eva diskutieren, malt das Kind zusammen mit Jacobs Nichte Tabby und stellt fest, dass auch in deren Bildern die Farben Braun, Schwarz und Rosa keine Rolle spielen, während gleichzeitig in ihrer Sprache rußiges Metall und der Abendhimmel nur noch als "sch***z" erscheinen dürfen. Aus der Welt, in der "in allen Erwachsenenkehlen der Saft verrottender Lügen brodelte, wie in einem Mülleimer im August", kriechen die Mädchen durch Stacheldraht zwischen aufgetürmte Autowracks, in deren Schatten sich die Liebkosung reifer Pflaumen und schmaler Handrücken vermischt, das Kind "Teilzeitkannibale" werden möchte und einen "sepiafarbenen Mund" betrachtet, der das "reife Fleisch" genießt. Ein Garten Eden präpubertär entzeitlichter Erotik öffnet sich in der rassismusdurchdrungenen Welt - um gleich darauf zum fast tödlichen Höllenlabyrinth zu werden.
Sprache dient nicht nur dazu, die Welt stückweise zu ergreifen, sondern auch, um von deren Klassismus ein- oder aussortiert zu werden. Die titelgebende Erzählung zeichnet die zungenbrecherische Shakespeare-Dressage durch eine abgetakelte Provinzschauspielerin als universelle Unterordnung unter den südenglischen Zungenschlag, samt gezierter Gestik mit abschließendem Initiationsritus in Stöckelschuhen. Das Erzählerinnen-Ich vermag sich dem nur mit einem Weinkrampf zu entziehen, "sehnsüchtig an jene verlassenen Kinder" denkend, "die von Wölfen gesäugt und großgezogen werden und ihr Leben lang stumm bleiben . . . wäre es nicht möglich, den Mund geschlossen zu halten und stattdessen etwas zu schreiben?".
Trotz seines genauen, meist schonungslosen, mitunter liebevollen, aber nie sentimentalen Blicks auf die nordenglische Arbeiterklasse ist "Sprechen lernen" ein universelles Buch über die fragile Verbindung von Sprache und Selbst. Ein Buch voller linguistischer Finesse und "sch***em" britischen Humor, bei dem Gespenster natürlich nicht fehlen dürfen. Auch die große Versehrtheit, die die Geschichten umkreisen, bleibt diffus wie ein Gespenst, von dem wir nie erfahren, was es wirklich ist. TINA HARTMANN
Hilary Mantel: "Sprechen lernen". Erzählungen.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont Verlag, Köln 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
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