Die Singularität der Ermordung der europäischen Juden durch das Deutsche Reich wirft die Frage auf, inwieweit und ab welchem Punkt sich die deutsche Entwicklung von der anderer Staaten in Europa abkoppelte. Michael Mayer vergleicht deshalb erstmals systematisch die "Judenpolitik" des Deutschen Reichs mit der des zweitwichtigsten modernen Industriestaates auf dem Kontinent: Frankreich. Die Vichy-Regierung schwankte in ihrer Politik zwischen der Verwirklichung einer autochthonen Politik und der Anpassung an deutsche Forderungen. Mit Hilfe eines Vergleichs kann der Autor wichtige neue Antworten zur Struktur des NS-Staates und Vichy-Frankreichs sowie zu deren Politik gegenüber den Juden finden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2011Schnellbrief und Braunbuch
Die "Unabhängige Historikerkommission" des Auswärtigen Amts verletzt wissenschaftliche Standards und pflegt Vorurteile
Die im Sommer 2005 vom damaligen Außenminister Fischer berufene "Unabhängige Historikerkommission" versteht ihr Werk als "wissenschaftlich gesicherte Grundlage für die eigene Meinungsbildung" und als "neue und aussagekräftige Darstellung". Um diese Aussagekraft zu steigern, griff Kommissionssprecher Eckart Conze vor der Buchübergabe an Außenminister Westerwelle zu der griffigen Formel, das Auswärtige Amt der Nazi-Zeit sei eine "verbrecherische Organisation" gewesen. Die Wucht der damit erreichten medialen Aufmerksamkeit täuscht aber nicht über die Mängel der Studie "Das Amt" hinweg.
Im ersten Teil ("Die Vergangenheit des Amts") wird der Eindruck erweckt, die Vernichtung der europäischen Juden sei zwischen dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und dem AA einvernehmlich geplant worden - mit Diplomaten als treibender Kraft. Ohne Anmerkungen und ohne Angabe von Quellen wird behauptet: "Das Schicksal der deutschen Juden wurde am 17. September 1941 besiegelt", während eines Treffens Hitlers mit Reichsaußenminister von Ribbentrop: "Das Auswärtige Amt ergriff die Initiative zur Lösung der ,Judenfrage' auf europäischer Ebene."
Das dreißigköpfige Kommissions-, Mitautoren- und Rechercheure-Team versteht jene Erlasse an die Auslandsvertretungen, mit denen das AA nach Hitlers "Machtergreifung" antijüdische Aktionen und Gesetze rechtfertigte, als "beredte Zeugnisse der Selbstgleichschaltung". Diese sei zügig vorangeschritten: "Weder hatten die Diplomaten erkennbar gegen die Repressions- und Gewaltpraxis in Deutschland protestiert, noch hatten sie sich der Anpassung verweigert. Eine scheinbar unpolitische Beamtenmentalität, in der Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit, Effizienz und Staatstreue zählten, aber auch die aus dem Kaiserreich tradierte Anpassungs- und Unterordnungsbereitschaft sowie nicht zuletzt ein ausgeprägtes Standesbewusstsein hatten es dem Gros der Beamten im Auswärtigen Dienst ermöglicht, relativ rasch und zielstrebig zum nationalsozialistischen Staat zu finden."
Zum Thema Parteimitgliedschaft, das 2005 Anlass für den Nachruf-Streit im Amt war und zur Einsetzung der Historikerkommission führte, gibt es kein eigenes Kapitel, sondern nur ein paar verstreute Beobachtungen. Es wird erwähnt, dass die Botschafter Ulrich von Hassell und Friedrich Werner von der Schulenburg gleich 1933 in die NSDAP eintraten: "Die Duplizität bleibt in doppelter Hinsicht bemerkenswert", denn "sie werden später beide zum Widerstandskreis des 20. Juli 1944 zählen und hingerichtet werden". Eine "reine Parteimitgliedschaftsarithmetik" habe nur bedingten Erklärungswert: "Individuelles Handeln vermag sie nicht auszuleuchten."
Im Großen und Ganzen erzählt die Kommission über die Mitwirkung des Amtes bei der Judenverfolgung und Judenvernichtung das nach, was durch die Edition der "Akten zur deutschen auswärtigen Politik" (ADAP) sowie durch Untersuchungen von Christopher Browning (1978), Hans-Jürgen Döscher (1987) sowie Magnus Brechtken (1997) und Sebastian Weitkamp (2008) bekannt ist. In kleineren Abschnitten werden - nicht immer auf der Höhe der Sekundärliteratur - die besetzten Gebiete (ohne die Sowjetunion) abgehandelt.
An den Ausführungen über Frankreich zeigt sich, wie ein zentrales Schriftstück entstellt wiedergegeben und unzureichend gedeutet wird. Es geht um die seit dem Wilhelmstraßenprozess 1948/49 kontrovers diskutierte Reaktion des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker auf die "Abschiebung" von Juden aus Frankreich Ende März 1942: "Die Zustimmung des Auswärtigen Amts zur Deportation der 6000 Juden nach Auschwitz wurde Eichmann in einem Schreiben Rademachers mitgeteilt, das die Paraphen Luthers, Weizsäckers und Woermanns trug." Ernst Woermann und Martin Luther waren Unterstaatssekretäre, der eine Karrierediplomat und Leiter der Politischen Abteilung, der andere ein Speditionskaufmann, der über Ribbentrop ins Amt kam und die neu eingerichtete "Abteilung Deutschland" leitete, zu der auch Franz Rademachers Referat "Judenfrage, Rassenpolitik" gehörte.
Die Paraphen befinden sich nicht - wie von den Autoren behauptet - auf dem Schreiben, sondern auf dem Entwurf. Als Quelle gibt die Kommission "Browning (1978)" an. Weiter wird berichtet, Weizsäcker habe den Entwurf Rademachers "in einer Hinsicht" geändert: "Wo es hieß, das Amt erhebe ,keine Bedenken' gegen die geplante Aktion, war Weizsäcker nur zu der Formulierung bereit, dass vonseiten des AA ,kein Einspruch' erhoben werde." Für diese Änderung Weizsäckers verweist man auf "Döscher (1987)". Der erwähnte hingegen "zwei einschränkende Textänderungen", also noch eine weitere Einfügung Weizsäckers über "polizeilich näher charakterisierte" Juden. Döscher war aufgefallen, dass das im Band II, Serie E der ADAP wiedergegebene Dokument 56 ohne Kennzeichnung der Korrekturen Weizsäckers in der von Rademacher unterschriebenen Fassung gedruckt ist. Und er interpretierte Weizsäckers Vorgehen: "Diese Präzisierung lässt vermuten, dass Weizsäcker mit Bedacht den Kreis der ,abzuschiebenden' Juden auf Kriminelle beschränken wollte."
Im Kapitel "Vor Gericht" im zweiten Teil der Studie "Das Amt" wird der Rademacher-Schnellbrief nochmals erwähnt: "Weizsäcker hatte das Schreiben selbst noch redigiert und die Formulierung ,keine Bedenken' in ,keinen Einspruch' umgewandelt." Als Fundort wird jetzt das in den ADAP enthaltene Dokument 56 - wo Weizsäckers handschriftliche Änderungen nicht zu finden sind - und Sekundärliteratur genannt. Es wird also nicht das Original im Politischen Archiv des AA zu Rate gezogen.
Der Entwurf des Schnellbriefs ist übrigens seit 2007 als Faksimile leicht zugänglich in dem Band "In den Akten, in der Welt. Ein Streifzug durch das Politische Archiv des Auswärtigen Amts" (Vandenhoeck & Ruprecht). Dort analysiert Martin Kröger das Schriftstück ausführlich. Der im Politischen Archiv tätige und forschende Zeithistoriker resümiert: "Der Staatssekretär legte wohl absichtlich Nachdruck in die Tatsache, dass es sich um Kriminelle handelte. Eichmann selbst hatte doch die Juden als ,staatspolizeilich in Erscheinung getreten' bezeichnet und von Sühneanschlägen für vorangegangene Anschläge gegen deutsche Soldaten geschrieben. Lag es da nicht nahe, die Juden vorsichtshalber zu kriminalisieren, bevor man sie deportierte? Derartige Argumente - rückblickend scheinen sie bloß zur Beruhigung der Skrupel angesichts des eigenen Tuns geeignet - erweisen sich gleich bei der nächsten ,Judenaktion' als bedeutungslos." Als SS-Obersturmbannführer Eichmann im Juli 1942 den Transport von 90 000 Juden aus Westeuropa "in täglich verkehrenden Sonderzügen zu je 1000 Personen" ankündigte, zeichnete Weizsäcker ab, dass das AA "grundsätzlich keine Bedenken" hege. Laut Kröger zweifelten die Richter im Wilhelmstraßenprozess nicht daran, dass Weizsäcker über die Tötungsabsichten Bescheid wusste. Man müsse davon ausgehen, dass das Tribunal mit dieser Einschätzung richtig gelegen habe, weil die Ereignisse vom März 1942 einen "Versuchslauf" auf dem Weg zur "Endlösung" darstellten: "Statt sich zu bedenken, half die Diplomatie hieran aktiv mit."
Die Historikerkommission behauptete in einer Antwort auf ihre Kritiker am 10. Dezember 2010 in der "Süddeutschen Zeitung", man habe die in der ADAP edierten Schriftstücke stets mit den Originaldokumenten verglichen. Als Beispiel wird ausgerechnet der Rademacher-Schnellbrief genannt und dabei wieder einmal der auf Weizsäcker zurückgehende Einschub unterschlagen, dass es sich bei den Deportierten um "polizeilich näher charakterisierte" Juden handeln sollte. Daher muss man annehmen, dass die Kommission das Original nie einsah.
Michael Mayer weist in seiner exzellenten Studie "Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und ,Judenpolitik' in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich" darauf hin, dass die langjährig sozialisierten Eliten hier wie dort von einem Unterschied zwischen "guten" konservativen und "schlechten" ausländischen, linken oder "kriminellen" Juden ausgingen. Gegenüber "schlechten Juden" habe man sicherheitspolizeiliche Maßnahmen erwogen und akzeptiert. Ohne die Brutalität in der Zustimmung Weizsäckers zu Maßnahmen gegen "polizeilich näher charakterisierte" Juden zu unterschätzen, müsse man zwischen den einzelnen Akteuren innerhalb und außerhalb des AA unterscheiden. Mayer spricht von einem "Segregationsantisemitismus". Nach Hitlers Machtantritt sei die scheinlegale Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung von "der traditionellen Ministerialbürokratie mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen verwirklicht" und "mitgetragen" worden. Die eklatanten Unterschiede zwischen dem traditionellen "Segregationsantisemitismus" und dem nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus hätten nach dem Zweiten Weltkrieg dazu geführt, "dass in der Memoirenliteratur der traditionellen Eliten die Behauptung aufgestellt wurde, dass der Judenverfolgung grundlegend Widerstand entgegengebracht wurde. Das entsprach in nuce sogar meist der Wahrheit, nur ,übersahen' es die Akteure geflissentlich, auf ihre eigene Mitverantwortung bei der Ausarbeitung der Rassengesetze zu verweisen."
Mit 25 Seiten denkbar knapp ausgefallen sind im Buch "Das Amt" angesichts des Gesamtumfangs die Ausführungen über "Spuren der Resistenz, Formen des Widerstands". Erwähnung finden die Anstrengungen Weizsäckers 1938 zur Verhinderung eines "großen Krieges" gegen die Westmächte sowie davon unabhängige und parallel laufende Staatsstreichpläne des Diplomaten Erich Kordt. Gewürdigt werden jene zwölf Diplomaten, die ihre Gegnerschaft zum Regime mit dem Leben bezahlten. Auf die Binsenweisheit, dass man nicht vom "Widerstand des Auswärtigen Amts" sprechen dürfe, folgt das Resümee: "Zum einen handelte es sich um einen sehr kleinen Kreis. Zum anderen lagen die Gravitationszentren der Opposition außerhalb des Amtes."
Im Unterkapitel "Außenseiter: Fritz Kolbe und Gerhard Feine" wird Kolbes mutige Agententätigkeit für die Vereinigten Staaten skizziert. Besonders eingegangen wird darauf, dass Feine im Zusammenwirken mit dem schweizerischen Geschäftsträger in Budapest, Carl Lutz, 1944 Tausenden von ungarischen Juden das Leben rettete. Dass Lutz nach dem Kriege in Bern vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten degradiert und ihm die Pension wegen Amtsanmaßung gestrichen wurde, fällt unter den Kommissionstisch - ebenso wie die Nachkriegskarriere Feines, der 1959 als Botschafter in Kopenhagen starb. Dies passe - so der Feine-Enkel und Zeithistoriker Daniel Koerfer - nicht in das gezielt düstre Bild vom Bonner AA, das die Kommission zeichnet. Dafür wird zu Recht beklagt, dass das AA die Wiedereinstellung des "Verräters" Kolbe ablehnte. Zusammenfassend heißt es: "Individueller Konformismus, oppositionelle Gesinnung, aktiver Widerstand und vorsätzlicher Landesverrat gingen fließend ineinander über."
Im zweiten Teil des Buchs "Das Amt und die Vergangenheit" sind die Kapitel über die Auflösung des alten Dienstes und den Wilhelmstraßenprozess die aufschlussreichsten wegen der ausgewerteten Korrespondenzen des Weizsäcker-Anwalts Hellmut Becker. Das dann im März 1951 gegründete Auswärtige Amt der Bundesrepublik brachte es schon im Herbst desselben Jahres in die Schlagzeilen durch eine Artikel-Serie in der "Frankfurter Rundschau": "Ihr naht Euch wieder . . . Einblicke in die Personalpolitik des Bonner Auswärtigen Amts". Laut Autor Michael Mansfeld klang es wie ein "Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn man zu der Erkenntnis kommt, dass in den Zeugenständen und im Zeugenflügel der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg die Wiege der heutigen Koblenzer Straße zu suchen ist". Viele Zeitungen und Rundfunksender goutierten diese Ansicht, während "Die Zeit" - wie schon im Wilhelmstraßenprozess - sich entschieden auf die Seite der Bonner Diplomaten aus vergangenen Berliner Zeiten stellte und dort verharrte aus Bewunderung für den in Nürnberg gegen seinen Willen zum "Mann des Widerstands" stilisierten Weizsäcker und dessen Söhne, und zwar bis zum Tode von Marion Gräfin Dönhoff im Jahr 2002.
Bundeskanzler Adenauer nahm am 22. Oktober 1952 zum Bericht des Bundestagsausschusses Nr. 47 Stellung, der 21 personalpolitische Einzelfälle des neuen AA geprüft hatte. Er hob hervor, dass fünf Diplomaten als "Männer echten Widerstandes anerkannt" worden seien: Hasso von Etzdorf, Albrecht von Kessel, Peter Pfeiffer, Theodor Kordt und Gottfried von Nostitz; nur drei seien "ungeeignet zur Weiterverwendung". Über die Wilhelmstraße urteilte er: "Dieses Instrument ist später von der nationalsozialistischen Regierung missbraucht und zum Teil verdorben worden." Dennoch forderte er den Bundestag auf: "Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei Schluss machen." Sogar die Historikerkommission muss einräumen: "In einer Zeit, in der selbst Staatssekretärsposten der Bundesbehörden sukzessive von ehemaligen Pgs besetzt wurden und sich unter dem Schlagwort vom ,überparteilichen Fachbeamtentum' in praktisch allen Verwaltungsbereichen ungehemmt Seilschaften breitmachen konnten, wirkte die leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Altlasten des AA fast wie ein Anachronismus."
Um den einseitigen Umgang der Kommission mit einer einzelnen "Altlast" zu beleuchten, empfiehlt sich ein Blick auf Hasso von Etzdorf, der seine Karriere 1965 als Botschafter in London beendete. Er war Leutnant im Ersten Weltkrieg, gehörte bis 1933 der DNVP an, trat im Juni 1933 der NSDAP und im Januar 1938 der SA bei. Bereits in den fünfziger Jahren war er Zielscheibe von Attacken aus Ost-Berlin, bis hin zum "Braunbuch" von 1965. In der Studie "Das Amt" spielt er im ersten Teil nur eine winzige Rolle. Er dürfe als exemplarischer "Konjunkturritter" gelten, obwohl seine frühe NSDAP-Mitgliedschaft "auf Gruppendruck erfolgt sein" könne. Überhaupt nichts erfährt der Leser über die - durch Etzdorfs "Handakte" und durch Franz Halders "Kriegstagebuch" dokumentierte - Schlüsselfunktion Etzdorfs als Vertreter des Auswärtigen Amts beim Oberkommando des Heeres. Der Rittmeister der Reserve war direkter Verbindungsmann zwischen dem Staatssekretär des AA und dem Chef des Generalstabs des Heeres. Unerwähnt bleibt das von Etzdorf und Erich Kordt verfasste Memorandum "Das drohende Unheil", mit dem beide Diplomaten im Oktober 1939 hohe Offiziere zum Sturz Hitlers bewegen wollten. Verschwiegen werden Etzdorfs Kontakte zu Hassell und zum Generalquartiermeister Eduard Wagner. Wenn Etzdorf auch nicht zu den handelnden Personen des 20. Juli 1944 gezählt werden wollte und sollte, hatten ihn einzelne Widerstandszirkel ins Vertrauen gezogen.
Im Bericht der Kommission über den Wilhelmstraßenprozess ist viel von der Verteidigungstaktik Hellmut Beckers und seiner Zeugenvorbereitung die Rede. Hier findet sich wiederum nichts über Etzdorfs Engagement, obwohl er als stellvertretender Leiter des Deutschen Büros für Friedensfragen am 17. Juni 1949 dem Rechtsanwalt den "Vorschlag eines Kollektivschritts zugunsten Herrn von Weizsäckers", zu richten an den Staatssekretär des State Department in Washington, unterbreitete. Laut beigefügtem Schriftstück wollten "die Unterzeichner" als Zeichen der Solidarität bei der Regierung der Vereinigten Staaten erwirken, "dass es jedem von uns gestattet werde, an der Strafe, die gegen Herrn von Weizsäcker ausgesprochen wurde, dadurch teilzunehmen, dass Herr von Weizsäcker für jeden Monat, den einer von uns an seiner Stelle und als Bürge für ihn im Gefängnis verbringt, auf Parole auf freien Fuß gesetzt wird". Becker war davon wenig überzeugt und erwiderte, man habe es in den Vereinigten Staaten mit vielen "von Grund auf falsch orientierten Menschen" zu tun, "die wirklich der Ansicht sind, dass die ,Wilhelmstraße' eine Inkarnation des Bösen war". Überdies sei der schwierigste Punkt die Auswahl der Unterzeichner: "Denn es ist wirklich eine kaum lösbare Aufgabe, wen man hieran beteiligen, wen ausschließen soll."
Dem Buch "Das Amt" hätte insgesamt eine präzisere und unvoreingenommene Betrachtung einzelner Diplomaten sowie der von ihnen genutzten oder ungenutzten Handlungspielräume gutgetan. Eine solche Kritik weist die Kommission mittlerweile von sich mit der Behauptung, man habe keine Personen-, sondern eine Institutionen-Geschichte geschrieben. Doch zur Geschichte der Institution hätten Organisationspläne ebenso gehört wie Erklärungen über Zuständigkeiten und Verwaltungsabläufe. Dies alles wird nicht geboten, weil sich das Buch für die Zeit vor 1945 auf die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, für die Zeit nach 1945 mit aneinandergereihten Mini-Biographien auf eine angeblich "braune" Personalpolitik konzentrierte. Die Zugehörigkeit zum alten Amt - so gesteht die Kommission zu - habe nicht bedeutet, "dass man nach 1945 automatisch an den alten Idealen und Orientierungsmustern festhielt". Dennoch werden die großen Verdienste mancher Wilhelmstraßen-Leute um die Außenpolitik der Bundesrepublik ignoriert oder marginalisiert.
Die westlichen Verbündeten der Bundesrepublik hätten auf Attacken gegen die Personalpolitik des AA gelassen reagiert und gewusst, dass "etwa die Angaben über NSDAP- und sonstige Mitgliedschaften in NS-Organisationen im Rahmen ostdeutscher Propagandaaktionen im Prinzip korrekt waren", schreibt die Kommission. Und hier legt Conze im Mitarbeiterblättchen des Ministeriums "internAA" vom Dezember 2010 ebenfalls zuspitzend nach: "So waren die Vorwürfe, die insbesondere die DDR gegen das diplomatische Spitzenpersonal der Bundesrepublik erhob, in der Regel völlig zutreffend. Dass die Vorwürfe von kommunistischer Seite kamen, half den Beamten eher, als es ihnen schadete." Damit wird bestätigt, dass sich die Studie "Das Amt" an DDR-Pamphleten orientierte, in denen, propagandistisch geschickt, Richtiges mit Lügen und Entstellungen vermischt war.
Der von Conze und Frei in den Medien erhobene Vorwurf, das Auswärtige Amt habe seine Vergangenheit bis in Joschka Fischers Amtszeit hinein "vertuscht", trifft die "Alten" von der Wilhelmstraße ebenso wie die "Neuen" von der Koblenzer Straße/Adenauerallee. Unerwähnt bleibt bei dieser Unterstellung einer vergangenheitspolitischen Konspiration vollkommen, dass sich eine (nach Meinung des Rezensenten nur bis in die achtziger Jahre nachweisbare) Verklärung der Wilhelmstraße nie vom AA allein aufrechterhalten ließ. Ausgangspunkt war neben dem Wilhelmstraßenprozess das von Hans Rothfels verfasste (und die Historikerzunft lange beeinflussende) Buch "Die deutsche Opposition gegen Hitler". Wie hatte Ernst von Weizsäcker 1949 nach der "teilweisen" Lektüre im Gefängnis seiner Frau geschrieben: "Merkwürdig, wie die ,Widerstands'-Literatur schon fast nicht mehr zu übersehen ist. Schon schreibt einer vom andern ab. Man kann dabei gut beobachten, wie geschichtliche Thesen geprägt werden. Und da sollen sich die Historiker zum Schluss herausfinden."
Jedenfalls beruht der Jubel der Kommission darüber, dass man endlich das Bild vom "sauberen Amt" und vom "Hort des Widerstands" zerstört habe, auf einer peinlichen Selbstüberschätzung und auch auf Anbiederung. Ein Beispiel dafür ist die Bemerkung Freis im Dezemberheft der "Blätter für deutsche und internationale Politik" von der "vergangenheitspolitischen ,Ampel' im Amt" (der grüne Fischer, der gelbe Westerwelle, der rote Steinmeier) - verknüpft mit der Hoffnung der Kommission, "dass dieser neue Konsens Bestand haben wird". Wer aber glaubt, die Akzeptanz eines fehlerhaften Buchs so anmahnen und seine Kritiker als Verteidiger der Täter, als "Stimme der Amtspensionäre" mundtot machen zu können, stellt seine wissenschaftliche Seriosität in Frage.
RAINER BLASIUS.
Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Karl Blessing Verlag, München 2010. 879 S., 34,95 [Euro].
Michael Mayer: Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und "Judenpolitik" in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich. R. Oldenbourg Verlag, München 2010. 479 S., 64,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die "Unabhängige Historikerkommission" des Auswärtigen Amts verletzt wissenschaftliche Standards und pflegt Vorurteile
Die im Sommer 2005 vom damaligen Außenminister Fischer berufene "Unabhängige Historikerkommission" versteht ihr Werk als "wissenschaftlich gesicherte Grundlage für die eigene Meinungsbildung" und als "neue und aussagekräftige Darstellung". Um diese Aussagekraft zu steigern, griff Kommissionssprecher Eckart Conze vor der Buchübergabe an Außenminister Westerwelle zu der griffigen Formel, das Auswärtige Amt der Nazi-Zeit sei eine "verbrecherische Organisation" gewesen. Die Wucht der damit erreichten medialen Aufmerksamkeit täuscht aber nicht über die Mängel der Studie "Das Amt" hinweg.
Im ersten Teil ("Die Vergangenheit des Amts") wird der Eindruck erweckt, die Vernichtung der europäischen Juden sei zwischen dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und dem AA einvernehmlich geplant worden - mit Diplomaten als treibender Kraft. Ohne Anmerkungen und ohne Angabe von Quellen wird behauptet: "Das Schicksal der deutschen Juden wurde am 17. September 1941 besiegelt", während eines Treffens Hitlers mit Reichsaußenminister von Ribbentrop: "Das Auswärtige Amt ergriff die Initiative zur Lösung der ,Judenfrage' auf europäischer Ebene."
Das dreißigköpfige Kommissions-, Mitautoren- und Rechercheure-Team versteht jene Erlasse an die Auslandsvertretungen, mit denen das AA nach Hitlers "Machtergreifung" antijüdische Aktionen und Gesetze rechtfertigte, als "beredte Zeugnisse der Selbstgleichschaltung". Diese sei zügig vorangeschritten: "Weder hatten die Diplomaten erkennbar gegen die Repressions- und Gewaltpraxis in Deutschland protestiert, noch hatten sie sich der Anpassung verweigert. Eine scheinbar unpolitische Beamtenmentalität, in der Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit, Effizienz und Staatstreue zählten, aber auch die aus dem Kaiserreich tradierte Anpassungs- und Unterordnungsbereitschaft sowie nicht zuletzt ein ausgeprägtes Standesbewusstsein hatten es dem Gros der Beamten im Auswärtigen Dienst ermöglicht, relativ rasch und zielstrebig zum nationalsozialistischen Staat zu finden."
Zum Thema Parteimitgliedschaft, das 2005 Anlass für den Nachruf-Streit im Amt war und zur Einsetzung der Historikerkommission führte, gibt es kein eigenes Kapitel, sondern nur ein paar verstreute Beobachtungen. Es wird erwähnt, dass die Botschafter Ulrich von Hassell und Friedrich Werner von der Schulenburg gleich 1933 in die NSDAP eintraten: "Die Duplizität bleibt in doppelter Hinsicht bemerkenswert", denn "sie werden später beide zum Widerstandskreis des 20. Juli 1944 zählen und hingerichtet werden". Eine "reine Parteimitgliedschaftsarithmetik" habe nur bedingten Erklärungswert: "Individuelles Handeln vermag sie nicht auszuleuchten."
Im Großen und Ganzen erzählt die Kommission über die Mitwirkung des Amtes bei der Judenverfolgung und Judenvernichtung das nach, was durch die Edition der "Akten zur deutschen auswärtigen Politik" (ADAP) sowie durch Untersuchungen von Christopher Browning (1978), Hans-Jürgen Döscher (1987) sowie Magnus Brechtken (1997) und Sebastian Weitkamp (2008) bekannt ist. In kleineren Abschnitten werden - nicht immer auf der Höhe der Sekundärliteratur - die besetzten Gebiete (ohne die Sowjetunion) abgehandelt.
An den Ausführungen über Frankreich zeigt sich, wie ein zentrales Schriftstück entstellt wiedergegeben und unzureichend gedeutet wird. Es geht um die seit dem Wilhelmstraßenprozess 1948/49 kontrovers diskutierte Reaktion des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker auf die "Abschiebung" von Juden aus Frankreich Ende März 1942: "Die Zustimmung des Auswärtigen Amts zur Deportation der 6000 Juden nach Auschwitz wurde Eichmann in einem Schreiben Rademachers mitgeteilt, das die Paraphen Luthers, Weizsäckers und Woermanns trug." Ernst Woermann und Martin Luther waren Unterstaatssekretäre, der eine Karrierediplomat und Leiter der Politischen Abteilung, der andere ein Speditionskaufmann, der über Ribbentrop ins Amt kam und die neu eingerichtete "Abteilung Deutschland" leitete, zu der auch Franz Rademachers Referat "Judenfrage, Rassenpolitik" gehörte.
Die Paraphen befinden sich nicht - wie von den Autoren behauptet - auf dem Schreiben, sondern auf dem Entwurf. Als Quelle gibt die Kommission "Browning (1978)" an. Weiter wird berichtet, Weizsäcker habe den Entwurf Rademachers "in einer Hinsicht" geändert: "Wo es hieß, das Amt erhebe ,keine Bedenken' gegen die geplante Aktion, war Weizsäcker nur zu der Formulierung bereit, dass vonseiten des AA ,kein Einspruch' erhoben werde." Für diese Änderung Weizsäckers verweist man auf "Döscher (1987)". Der erwähnte hingegen "zwei einschränkende Textänderungen", also noch eine weitere Einfügung Weizsäckers über "polizeilich näher charakterisierte" Juden. Döscher war aufgefallen, dass das im Band II, Serie E der ADAP wiedergegebene Dokument 56 ohne Kennzeichnung der Korrekturen Weizsäckers in der von Rademacher unterschriebenen Fassung gedruckt ist. Und er interpretierte Weizsäckers Vorgehen: "Diese Präzisierung lässt vermuten, dass Weizsäcker mit Bedacht den Kreis der ,abzuschiebenden' Juden auf Kriminelle beschränken wollte."
Im Kapitel "Vor Gericht" im zweiten Teil der Studie "Das Amt" wird der Rademacher-Schnellbrief nochmals erwähnt: "Weizsäcker hatte das Schreiben selbst noch redigiert und die Formulierung ,keine Bedenken' in ,keinen Einspruch' umgewandelt." Als Fundort wird jetzt das in den ADAP enthaltene Dokument 56 - wo Weizsäckers handschriftliche Änderungen nicht zu finden sind - und Sekundärliteratur genannt. Es wird also nicht das Original im Politischen Archiv des AA zu Rate gezogen.
Der Entwurf des Schnellbriefs ist übrigens seit 2007 als Faksimile leicht zugänglich in dem Band "In den Akten, in der Welt. Ein Streifzug durch das Politische Archiv des Auswärtigen Amts" (Vandenhoeck & Ruprecht). Dort analysiert Martin Kröger das Schriftstück ausführlich. Der im Politischen Archiv tätige und forschende Zeithistoriker resümiert: "Der Staatssekretär legte wohl absichtlich Nachdruck in die Tatsache, dass es sich um Kriminelle handelte. Eichmann selbst hatte doch die Juden als ,staatspolizeilich in Erscheinung getreten' bezeichnet und von Sühneanschlägen für vorangegangene Anschläge gegen deutsche Soldaten geschrieben. Lag es da nicht nahe, die Juden vorsichtshalber zu kriminalisieren, bevor man sie deportierte? Derartige Argumente - rückblickend scheinen sie bloß zur Beruhigung der Skrupel angesichts des eigenen Tuns geeignet - erweisen sich gleich bei der nächsten ,Judenaktion' als bedeutungslos." Als SS-Obersturmbannführer Eichmann im Juli 1942 den Transport von 90 000 Juden aus Westeuropa "in täglich verkehrenden Sonderzügen zu je 1000 Personen" ankündigte, zeichnete Weizsäcker ab, dass das AA "grundsätzlich keine Bedenken" hege. Laut Kröger zweifelten die Richter im Wilhelmstraßenprozess nicht daran, dass Weizsäcker über die Tötungsabsichten Bescheid wusste. Man müsse davon ausgehen, dass das Tribunal mit dieser Einschätzung richtig gelegen habe, weil die Ereignisse vom März 1942 einen "Versuchslauf" auf dem Weg zur "Endlösung" darstellten: "Statt sich zu bedenken, half die Diplomatie hieran aktiv mit."
Die Historikerkommission behauptete in einer Antwort auf ihre Kritiker am 10. Dezember 2010 in der "Süddeutschen Zeitung", man habe die in der ADAP edierten Schriftstücke stets mit den Originaldokumenten verglichen. Als Beispiel wird ausgerechnet der Rademacher-Schnellbrief genannt und dabei wieder einmal der auf Weizsäcker zurückgehende Einschub unterschlagen, dass es sich bei den Deportierten um "polizeilich näher charakterisierte" Juden handeln sollte. Daher muss man annehmen, dass die Kommission das Original nie einsah.
Michael Mayer weist in seiner exzellenten Studie "Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und ,Judenpolitik' in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich" darauf hin, dass die langjährig sozialisierten Eliten hier wie dort von einem Unterschied zwischen "guten" konservativen und "schlechten" ausländischen, linken oder "kriminellen" Juden ausgingen. Gegenüber "schlechten Juden" habe man sicherheitspolizeiliche Maßnahmen erwogen und akzeptiert. Ohne die Brutalität in der Zustimmung Weizsäckers zu Maßnahmen gegen "polizeilich näher charakterisierte" Juden zu unterschätzen, müsse man zwischen den einzelnen Akteuren innerhalb und außerhalb des AA unterscheiden. Mayer spricht von einem "Segregationsantisemitismus". Nach Hitlers Machtantritt sei die scheinlegale Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung von "der traditionellen Ministerialbürokratie mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen verwirklicht" und "mitgetragen" worden. Die eklatanten Unterschiede zwischen dem traditionellen "Segregationsantisemitismus" und dem nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus hätten nach dem Zweiten Weltkrieg dazu geführt, "dass in der Memoirenliteratur der traditionellen Eliten die Behauptung aufgestellt wurde, dass der Judenverfolgung grundlegend Widerstand entgegengebracht wurde. Das entsprach in nuce sogar meist der Wahrheit, nur ,übersahen' es die Akteure geflissentlich, auf ihre eigene Mitverantwortung bei der Ausarbeitung der Rassengesetze zu verweisen."
Mit 25 Seiten denkbar knapp ausgefallen sind im Buch "Das Amt" angesichts des Gesamtumfangs die Ausführungen über "Spuren der Resistenz, Formen des Widerstands". Erwähnung finden die Anstrengungen Weizsäckers 1938 zur Verhinderung eines "großen Krieges" gegen die Westmächte sowie davon unabhängige und parallel laufende Staatsstreichpläne des Diplomaten Erich Kordt. Gewürdigt werden jene zwölf Diplomaten, die ihre Gegnerschaft zum Regime mit dem Leben bezahlten. Auf die Binsenweisheit, dass man nicht vom "Widerstand des Auswärtigen Amts" sprechen dürfe, folgt das Resümee: "Zum einen handelte es sich um einen sehr kleinen Kreis. Zum anderen lagen die Gravitationszentren der Opposition außerhalb des Amtes."
Im Unterkapitel "Außenseiter: Fritz Kolbe und Gerhard Feine" wird Kolbes mutige Agententätigkeit für die Vereinigten Staaten skizziert. Besonders eingegangen wird darauf, dass Feine im Zusammenwirken mit dem schweizerischen Geschäftsträger in Budapest, Carl Lutz, 1944 Tausenden von ungarischen Juden das Leben rettete. Dass Lutz nach dem Kriege in Bern vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten degradiert und ihm die Pension wegen Amtsanmaßung gestrichen wurde, fällt unter den Kommissionstisch - ebenso wie die Nachkriegskarriere Feines, der 1959 als Botschafter in Kopenhagen starb. Dies passe - so der Feine-Enkel und Zeithistoriker Daniel Koerfer - nicht in das gezielt düstre Bild vom Bonner AA, das die Kommission zeichnet. Dafür wird zu Recht beklagt, dass das AA die Wiedereinstellung des "Verräters" Kolbe ablehnte. Zusammenfassend heißt es: "Individueller Konformismus, oppositionelle Gesinnung, aktiver Widerstand und vorsätzlicher Landesverrat gingen fließend ineinander über."
Im zweiten Teil des Buchs "Das Amt und die Vergangenheit" sind die Kapitel über die Auflösung des alten Dienstes und den Wilhelmstraßenprozess die aufschlussreichsten wegen der ausgewerteten Korrespondenzen des Weizsäcker-Anwalts Hellmut Becker. Das dann im März 1951 gegründete Auswärtige Amt der Bundesrepublik brachte es schon im Herbst desselben Jahres in die Schlagzeilen durch eine Artikel-Serie in der "Frankfurter Rundschau": "Ihr naht Euch wieder . . . Einblicke in die Personalpolitik des Bonner Auswärtigen Amts". Laut Autor Michael Mansfeld klang es wie ein "Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn man zu der Erkenntnis kommt, dass in den Zeugenständen und im Zeugenflügel der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg die Wiege der heutigen Koblenzer Straße zu suchen ist". Viele Zeitungen und Rundfunksender goutierten diese Ansicht, während "Die Zeit" - wie schon im Wilhelmstraßenprozess - sich entschieden auf die Seite der Bonner Diplomaten aus vergangenen Berliner Zeiten stellte und dort verharrte aus Bewunderung für den in Nürnberg gegen seinen Willen zum "Mann des Widerstands" stilisierten Weizsäcker und dessen Söhne, und zwar bis zum Tode von Marion Gräfin Dönhoff im Jahr 2002.
Bundeskanzler Adenauer nahm am 22. Oktober 1952 zum Bericht des Bundestagsausschusses Nr. 47 Stellung, der 21 personalpolitische Einzelfälle des neuen AA geprüft hatte. Er hob hervor, dass fünf Diplomaten als "Männer echten Widerstandes anerkannt" worden seien: Hasso von Etzdorf, Albrecht von Kessel, Peter Pfeiffer, Theodor Kordt und Gottfried von Nostitz; nur drei seien "ungeeignet zur Weiterverwendung". Über die Wilhelmstraße urteilte er: "Dieses Instrument ist später von der nationalsozialistischen Regierung missbraucht und zum Teil verdorben worden." Dennoch forderte er den Bundestag auf: "Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei Schluss machen." Sogar die Historikerkommission muss einräumen: "In einer Zeit, in der selbst Staatssekretärsposten der Bundesbehörden sukzessive von ehemaligen Pgs besetzt wurden und sich unter dem Schlagwort vom ,überparteilichen Fachbeamtentum' in praktisch allen Verwaltungsbereichen ungehemmt Seilschaften breitmachen konnten, wirkte die leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Altlasten des AA fast wie ein Anachronismus."
Um den einseitigen Umgang der Kommission mit einer einzelnen "Altlast" zu beleuchten, empfiehlt sich ein Blick auf Hasso von Etzdorf, der seine Karriere 1965 als Botschafter in London beendete. Er war Leutnant im Ersten Weltkrieg, gehörte bis 1933 der DNVP an, trat im Juni 1933 der NSDAP und im Januar 1938 der SA bei. Bereits in den fünfziger Jahren war er Zielscheibe von Attacken aus Ost-Berlin, bis hin zum "Braunbuch" von 1965. In der Studie "Das Amt" spielt er im ersten Teil nur eine winzige Rolle. Er dürfe als exemplarischer "Konjunkturritter" gelten, obwohl seine frühe NSDAP-Mitgliedschaft "auf Gruppendruck erfolgt sein" könne. Überhaupt nichts erfährt der Leser über die - durch Etzdorfs "Handakte" und durch Franz Halders "Kriegstagebuch" dokumentierte - Schlüsselfunktion Etzdorfs als Vertreter des Auswärtigen Amts beim Oberkommando des Heeres. Der Rittmeister der Reserve war direkter Verbindungsmann zwischen dem Staatssekretär des AA und dem Chef des Generalstabs des Heeres. Unerwähnt bleibt das von Etzdorf und Erich Kordt verfasste Memorandum "Das drohende Unheil", mit dem beide Diplomaten im Oktober 1939 hohe Offiziere zum Sturz Hitlers bewegen wollten. Verschwiegen werden Etzdorfs Kontakte zu Hassell und zum Generalquartiermeister Eduard Wagner. Wenn Etzdorf auch nicht zu den handelnden Personen des 20. Juli 1944 gezählt werden wollte und sollte, hatten ihn einzelne Widerstandszirkel ins Vertrauen gezogen.
Im Bericht der Kommission über den Wilhelmstraßenprozess ist viel von der Verteidigungstaktik Hellmut Beckers und seiner Zeugenvorbereitung die Rede. Hier findet sich wiederum nichts über Etzdorfs Engagement, obwohl er als stellvertretender Leiter des Deutschen Büros für Friedensfragen am 17. Juni 1949 dem Rechtsanwalt den "Vorschlag eines Kollektivschritts zugunsten Herrn von Weizsäckers", zu richten an den Staatssekretär des State Department in Washington, unterbreitete. Laut beigefügtem Schriftstück wollten "die Unterzeichner" als Zeichen der Solidarität bei der Regierung der Vereinigten Staaten erwirken, "dass es jedem von uns gestattet werde, an der Strafe, die gegen Herrn von Weizsäcker ausgesprochen wurde, dadurch teilzunehmen, dass Herr von Weizsäcker für jeden Monat, den einer von uns an seiner Stelle und als Bürge für ihn im Gefängnis verbringt, auf Parole auf freien Fuß gesetzt wird". Becker war davon wenig überzeugt und erwiderte, man habe es in den Vereinigten Staaten mit vielen "von Grund auf falsch orientierten Menschen" zu tun, "die wirklich der Ansicht sind, dass die ,Wilhelmstraße' eine Inkarnation des Bösen war". Überdies sei der schwierigste Punkt die Auswahl der Unterzeichner: "Denn es ist wirklich eine kaum lösbare Aufgabe, wen man hieran beteiligen, wen ausschließen soll."
Dem Buch "Das Amt" hätte insgesamt eine präzisere und unvoreingenommene Betrachtung einzelner Diplomaten sowie der von ihnen genutzten oder ungenutzten Handlungspielräume gutgetan. Eine solche Kritik weist die Kommission mittlerweile von sich mit der Behauptung, man habe keine Personen-, sondern eine Institutionen-Geschichte geschrieben. Doch zur Geschichte der Institution hätten Organisationspläne ebenso gehört wie Erklärungen über Zuständigkeiten und Verwaltungsabläufe. Dies alles wird nicht geboten, weil sich das Buch für die Zeit vor 1945 auf die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, für die Zeit nach 1945 mit aneinandergereihten Mini-Biographien auf eine angeblich "braune" Personalpolitik konzentrierte. Die Zugehörigkeit zum alten Amt - so gesteht die Kommission zu - habe nicht bedeutet, "dass man nach 1945 automatisch an den alten Idealen und Orientierungsmustern festhielt". Dennoch werden die großen Verdienste mancher Wilhelmstraßen-Leute um die Außenpolitik der Bundesrepublik ignoriert oder marginalisiert.
Die westlichen Verbündeten der Bundesrepublik hätten auf Attacken gegen die Personalpolitik des AA gelassen reagiert und gewusst, dass "etwa die Angaben über NSDAP- und sonstige Mitgliedschaften in NS-Organisationen im Rahmen ostdeutscher Propagandaaktionen im Prinzip korrekt waren", schreibt die Kommission. Und hier legt Conze im Mitarbeiterblättchen des Ministeriums "internAA" vom Dezember 2010 ebenfalls zuspitzend nach: "So waren die Vorwürfe, die insbesondere die DDR gegen das diplomatische Spitzenpersonal der Bundesrepublik erhob, in der Regel völlig zutreffend. Dass die Vorwürfe von kommunistischer Seite kamen, half den Beamten eher, als es ihnen schadete." Damit wird bestätigt, dass sich die Studie "Das Amt" an DDR-Pamphleten orientierte, in denen, propagandistisch geschickt, Richtiges mit Lügen und Entstellungen vermischt war.
Der von Conze und Frei in den Medien erhobene Vorwurf, das Auswärtige Amt habe seine Vergangenheit bis in Joschka Fischers Amtszeit hinein "vertuscht", trifft die "Alten" von der Wilhelmstraße ebenso wie die "Neuen" von der Koblenzer Straße/Adenauerallee. Unerwähnt bleibt bei dieser Unterstellung einer vergangenheitspolitischen Konspiration vollkommen, dass sich eine (nach Meinung des Rezensenten nur bis in die achtziger Jahre nachweisbare) Verklärung der Wilhelmstraße nie vom AA allein aufrechterhalten ließ. Ausgangspunkt war neben dem Wilhelmstraßenprozess das von Hans Rothfels verfasste (und die Historikerzunft lange beeinflussende) Buch "Die deutsche Opposition gegen Hitler". Wie hatte Ernst von Weizsäcker 1949 nach der "teilweisen" Lektüre im Gefängnis seiner Frau geschrieben: "Merkwürdig, wie die ,Widerstands'-Literatur schon fast nicht mehr zu übersehen ist. Schon schreibt einer vom andern ab. Man kann dabei gut beobachten, wie geschichtliche Thesen geprägt werden. Und da sollen sich die Historiker zum Schluss herausfinden."
Jedenfalls beruht der Jubel der Kommission darüber, dass man endlich das Bild vom "sauberen Amt" und vom "Hort des Widerstands" zerstört habe, auf einer peinlichen Selbstüberschätzung und auch auf Anbiederung. Ein Beispiel dafür ist die Bemerkung Freis im Dezemberheft der "Blätter für deutsche und internationale Politik" von der "vergangenheitspolitischen ,Ampel' im Amt" (der grüne Fischer, der gelbe Westerwelle, der rote Steinmeier) - verknüpft mit der Hoffnung der Kommission, "dass dieser neue Konsens Bestand haben wird". Wer aber glaubt, die Akzeptanz eines fehlerhaften Buchs so anmahnen und seine Kritiker als Verteidiger der Täter, als "Stimme der Amtspensionäre" mundtot machen zu können, stellt seine wissenschaftliche Seriosität in Frage.
RAINER BLASIUS.
Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Karl Blessing Verlag, München 2010. 879 S., 34,95 [Euro].
Michael Mayer: Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und "Judenpolitik" in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich. R. Oldenbourg Verlag, München 2010. 479 S., 64,80 [Euro].
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"Die Arbeit überzeugt restlos, nicht nur in der Quellenerfassung und Durchführung, sondern gerade durch ihre vergleichende Anlage, die auf einem sorgfältig durchdachten Konzept beruht und unsere Erkenntnisse über die "Judenpolitik" in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich substanziell erweitert." Dr. Martin Moll, Journal der Juristischen Zeitgeschichte, Heft 1/2011 "Exzellente Studie", FAZ, 13. 1.2011 "Ambitious archive-based book...unique analysis...heuristic challenge", Karl Schleunes, University of North Carolina Shofar Book Reviews "Insgesamt ist bemerkenswert, wie der Autor Kapitel für Kapitel immer wieder die Parallelen zwischen den Aktivitäten der Ministerialbürokratie im Deutschen Reich, vorzugsweise des Ministeriums des Innern, und der Vichy-Frankreich, natürlich zeitversetzt, herausarbeitet und frappierende Übereinstimmungen konstatiert, die nicht nur darauf zurückzuführen sind, dass ein Druck von der Besatzungsmacht ausgeübt wurde. Das Werk erfüllt voll und ganz den gestellten Anspruch, `die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Verfolgung der Juden´ in beiden Ländern, wie es im Geleitwort heißt, aufzuzeigen." Gerhard J. Teschner, Historisch-politisches Buch 58 (2010), S. 495f. "Exzellent recherchiertes und äußerst quellenfundiert geschriebenes Buch. (...) Die antisemitische Politik des französischen Vichy-Regimes in ihrer Verschränkung mit der deutschen Verfolgung der Juden war bislang ein Desiderat der Geschichtsforschung. Michael Mayer hat diese Forschungslücke mit seiner Studie geschlossen." Anne Klein, Universität Köln, Einsicht. Bulletin des Fritz-Bauer-Instituts 5 (2011), S. 78f. "Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Verfolgung der Juden zwischen NS-Deutschland und Vichy-Frankreich wurden bisher nirgendwo derart quellenbasiert und analytisch klar präsentiert." Horst Möller, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, und Georges-Henri Soutou, Professor em. an der Université de Paris IV - Sorbonne