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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg: Hanspeter Born über Marcel Pilet-Golaz
Die Zeiten, da in der Schweiz über ihr Verhalten im Zweiten Weltkrieg gestritten wurde, sind vorbei. Am Ende des Kalten Krieges war das verschonte Land auf die Anklagebank der Weltöffentlichkeit gelangt. Die Auseinandersetzungen hatten moralische, finanzielle und politische Folgen. Der Schriftsteller Adolf Muschg philosophierte über "Auschwitz in der Schweiz", die Banken beglichen ihre Schulden, und der Staat setzte eine Historikerkommission ein.
Doch auch noch über Hanspeter Borns Biographie des Außenministers im Weltkrieg, Marcel Pilet-Golaz, legen sich die langen Schatten der Vergangenheitsdebatten. Der Verfasser ist ein renommierter Journalist, der mit Büchern über den österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim als Nachrichtenoffizier der Wehrmacht und über einen Mordfall, bei dessen Darstellung er die Unschuld des verurteilten Täters aufzeigte, Aufsehen erregt hatte. Auch bei Marcel Pilet-Golaz geht es Born um Gerechtigkeit: Er will den Politiker rehabilitieren, dessen Rede nach dem Zusammenbruch Frankreichs als Aufruf zur Anpassung gedeutet wurde.
Die Geschichtsschreibung der Schweiz hat sich vor allem mit den Lügen und Mythen rund um den Krieg befasst. Es wurde viel und notwendige Aufarbeitung geleistet, doch für Pilet-Golaz interessierte sich kaum jemand, der Fall schien geregelt: Er war der "helvetische Pétain", während sein ebenfalls aus dem französischsprachigen Waadtland stammender Gegenspieler General Henri Guisan als Lichtgestalt des Widerstands und "eidgenössischer Charles de Gaulle" verehrt wurde. Guisans "Rütli-Rapport", mit dem er den Wehrwillen der Nation beschwor, entsprach de Gaulles Aufruf vom 18. Juni. Dem konservativen Pilet-Golaz blieb der Part des Kollaborateurs, dem im Nachhin- ein sogar ideologische Motive unterstellt wurden. Die Parallelen sind umso prägender geworden, als in beiden Ländern die Aufarbeitung nach Jahrzehnten der Verdrängung und Verklärung begann. Hanspeter Born ist der erste Publizist, der den noch immer unbearbeiteten privaten Nachlass von Marcel Pilet-Golaz konsultierte.
Bezüglich der ominösen Rede fällt er keinen Freispruch. Aber er stellt sie durchaus differenziert in den welt- und innenpolitischen Zusammenhang. Pilet-Golaz, der zeitweise in Leipzig studiert hatte und Deutschland gut kannte, war kein Sympathisant des Hitlerregimes, auch kein Faschist, aber ein elitärer Föderalist. Die Schweiz war von Lieferungen (Kohle) abhängig, die nach der Kapitulation Frankreichs jederzeit gestoppt werden konnten. In ihren Nachbarländern regierten Hitler, Mussolini und Pétain.
Ausführlicher als mit dem Inhalt der Rede beschäftigt sich der Autor in seinem Plädoyer mit ihrer Rezeption. Pilet-Golaz sprach von einem "guide sûr et dévoué" und meinte damit, argumentiert Born, den "trittsicheren Bergführer, der den Weg weist". Dass es um die Schweizer Regierung ging, war allen klar. In der deutschen Version wurde daraus "ein sicherer und hingebender Führer". Diese Übersetzung verstärkte die Passagen, in denen sich der Politiker tatsächlich in die faschistische Terminologie ("innere Wiedergeburt") verirrte, die der "geistigen Landesverteidigung" der Schweiz nicht ganz fremd war.
Man kann bei der Rede allenfalls mildernde Umstände einräumen. Aber Pardon wird noch immer nicht gegeben: Ein Schweizer Rezensent suggerierte sogar, dass Born möglicherweise Briefe, die er doch gefunden haben müsse und "die Aufschluss geben, wie Pilet-Golaz im Innersten funktionierte, . . . bewusst unter dem Deckel hält".
Die Qualität dieses Buchs ist eine andere: Born schildert das Jahr 1940 als Chronik der Ereignisse. Er beschreibt die Luftkämpfe an der Grenze und beleuchtet die Beziehungen zwischen Guisan und Pilet-Golaz, der die vom General gewünschte Vorzensur ablehnte. Berlin forderte die "Verdunkelung" - an den Lichtern konnten sich die englischen Piloten orientieren - und machte immer wieder Druck auf die Schweiz. Born, der ein Gespür für Szenen und Dramatik hat, beschreibt die Machtverhältnisse, die Stimmung im Lande und die Ereignisse in einem fesselnd zu lesendem Buch, wie es kein Historiker zu schreiben wagen darf.
Sein Titel ist missverständlich: Für "Staatsmänner" gibt es im politischen System der Schweiz keinen Platz, auch im Krieg hat sich Pilez-Golaz nicht als solcher entpuppt. Eine gewisse Größe darf man ihm nicht absprechen. Als Stalin die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen verweigerte, trat Pilez-Golaz im November 1944 überraschend zurück. Er hatte erkannt, dass er für die Normalisierung der Beziehungen zu den Siegermächten, die über die Schweiz verärgert waren, zur Belastung wurde. Er starb 1958 in Paris.
JÜRG ALTWEGG.
Hanspeter Born: "Staatsmann im Sturm".
Pilet-Golaz und das Jahr 1940.
Münster Verlag, Basel 2020. 514 S., geb., 28,-.
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