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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Warum sich die Konflikte weiter zuspitzen
Politische Differenzen zwischen Stadt und Land manifestierten sich bei der Bundestagswahl 2021 deutlicher als früher: In Metropolen wurde vermehrt "grün" gewählt. Auf dem Land legte die AFD zu. Lukas Haffert interpretiert diese Wahlergebnisse als neuerliche Stadt-Land-Polarisierung, die sich seit den 1980er-Jahren nach langjährigem Rückgang von Ungleichheiten verschärft habe. Er erklärt die Entwicklung mit der rasanten Veränderung von ökonomischer Struktur, kulturellen Werten und Lebensweisen in den großen Städten, die sich von denen auf dem Land immer mehr unterscheiden. In seinem Buch diskutiert er unter der verspielt klingenden, schon einmal 2019 von einer gesundheitspolitischen Studie verwendeten Überschrift "Stadt Land Frust" sozioökonomische Zusammenhänge und politische Folgen dieser Antinomie und was dagegen zu tun ist.
Der 1988 geborene Autor durchforstet dafür akribisch Wahlergebnisse und das geographische Profil von Parteien. Der promovierte Volkswirt interessiert sich vor allem für Fragen politischer Geographie und spart bei seiner Analyse nicht mit Zahlen, Tabellen, Schaubildern und Verweisen. Es geht auch darum, wie Stadt-Land-Konflikte von den Parteien lokal mobilisiert werden, welchen Effekt das für das politische System hat und ob sich die oft wegen inhaltlicher Ferne gegenüber dem Land kritisierte Berliner Regierung einseitig urbane Politik leisten kann, die Gegensätzen weitere Sprengkraft verleiht. Haffert mischt in seiner Betrachtung historische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Ansätze. Für Ökonomen interessant ist vor allem das zentrale Kapitel 4, das von Wissensökonomie und kreativer Klasse als Multiplikator in den maßgeblichen großen Städten weltweit handelt.
Den Konflikt zwischen Stadt und Land verortet Haffert in praktisch allen westlichen Ländern als prägendes Phänomen. Für den aktuellen Zeitpunkt und seine Schärfe macht er zwei eng verzahnte Verschiebungen in den Gesellschaften von heute verantwortlich: ihren postindustriellen Wandel zu einer wissenschaftsbasierten Dienstleistungsökonomie und parallel dazu ihre weltoffene Lebensweise. Haffert schreibt: "Wirtschaftlich sind diese Gesellschaften heute Wissensökonomien, in denen Austausch und Vernetzung die wichtigsten Quellen ökonomischer Prosperität sind. Wirtschaftliches Wachstum entsteht inzwischen vor allem durch Innovation, und Innovation entsteht dort, wo drei Faktoren zusammenkommen: ein großer Pool gut ausgebildeter Arbeitskräfte, besonders innovative und produktive Firmen sowie leistungsstarke Universitäten." Das aber sei hauptsächlich in großen, international vernetzten Städten der Fall. Als soziale Norm kristallisiere sich an diesen Sammelstellen der akademischen Mittelschicht ein kosmopolitischer Lebensstil - mit Identitätsthemen und dem Wunsch nach Diversität, Offenheit und Toleranz, aber auch mit bestimmten Konsummustern und kulturellen Interessen. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung teile dort solche Werte und Wünsche und mache es dadurch überhaupt erst möglich, bestimmte Konsum- und Kulturangebote vorzuhalten.
Als Profiteure dieser Entwicklung sieht der Autor weltweit Metropolen wie New York, London, Paris und Tokio, in Deutschland Großstädte wie Hamburg, München, Frankfurt und Düsseldorf, "wo die produktivsten Firmen ihre Zentralen haben und die höchsten Löhne zahlen. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt in diesen Städten weit über dem Landesdurchschnitt, und mit ihrem Umland dominieren sie die nationale Ökonomie." Gewinner seien zudem immer mehr Städte mit Universitäten: Deren Forschung werde zum Nukleus wirtschaftlicher Prosperität, indem sie forschungsorientierte Unternehmen anlocken, die sich im Umfeld ansiedeln. "Zudem bringen Universitäten die Absolventen hervor, die nach ihrem Studium in diesen Unternehmen arbeiten." Ballungseffekte bewirken offenbar zugleich ein soziokulturelles Milieu mit besonderer Lebensqualität, das andere Hochqualifizierte anzieht und die Agglomeration verstärkt. Als deutsche Beispiele universitärer "Smart Citys" nennt Haffert Heidelberg, Münster, Jena und neuerdings - auch wegen Biontech - Mainz.
Im Gegensatz dazu mutierten ländliche Räume in einer Abwärtsspirale zu Verliererregionen, weil immer mehr junge, gut qualifizierte Einwohner, nicht zuletzt Frauen, das Gebiet verlassen. Das mache es für Firmen unattraktiv, sich auf dem Land anzusiedeln. Zurück bleibe eine schrumpfende, überalterte Bevölkerung. Die wenig überraschende Einsicht: "Ökonomischer Erfolg lockt Wissensarbeiter an, ökonomische Stagnation vertreibt sie."
Haffert prophezeit, dass AFD und Grüne weiterhin "Pol-Parteien" des Stadt-Land-Gegensatzes in Deutschland bleiben. Er sieht kaum eine Chance, die ökonomische, kulturelle und politische Frontstellung zurückzudrehen. "Wie der Blick in andere Länder zeigt, spricht viel dafür, dass sich diese Tendenzen noch verstärken . . . und es vergebliche Liebesmüh sein dürfte, Strategien zu suchen, um diese Phänomene wieder zum Verschwinden zu bringen." Haffert empfiehlt, "mehr über den Umgang mit als über die Ursachen von Stadt- und Land-Konflikten nachzudenken". Die Transformation der deutschen Wirtschaft von der Industrie zur Digitalwirtschaft sei jedenfalls noch lange nicht abgeschlossen und werde die aktuellen Tendenzen weiter verschärfen. "All das lässt erwarten, dass der Konflikt die nächsten Bundestagswahlen noch stärker prägen dürfte als die des Jahres 2021." ULLA FÖLSING
Lukas Haffert: Stadt Land Frust. Eine politische Vermessung. C. H. Beck, Edition Mercator, München 2022, 190 Seiten, 15 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, Uwe Ebbinghaus
"Lukas Haffert irritiert auf angenehme Weise ... mit "Think out oft he Box" und das ist ziemlich viel wert."
Deutschlandfunk Kultur, Thomas Gross
"Lukas Haffert diskutiert sozioökonomische Zusammenhänge und politische Folgen dieser Antinomie und was dagegen zu tun ist."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ulla Fölsing
"Der Konflikt zwischen Stadt und Land wird auch in Deutschland immer schärfer. (...) Welche Rolle diese Distanz mittlerweile in der Politik spielt und was es tatsächlich auf sich hat mit der inhaltlichen Ferne der Bundespolitik zu den Belangen ländlicher Regionen, das hat der Politikwissenschaftler und Ökonom Lukas Haffert untersucht."
Deutschlandfunk, Catrin Stövesand
"setzt sich deutlich von den meisten einschlägigen wissenschaftlichen Untersuchungen ab"
ORF Kontext, Stefan May