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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Kein Geschichtsbuch, sondern ein Remix: Jason Reynolds erzählt vom Rassismus in Amerika
"Waaaaaaaas?" Wenn Jason Reynolds seinen jugendlichen Lesern nahebringen will, welche Hintergründe der Rassismus in den Vereinigten Staaten hat, dann schreibt der bekannte amerikanische Jugendbuchautor nicht einfach in gewohnt unterhaltender, gut verständlicher, oft mitreißender Manier. In seinem neuesten Buch "Stamped" meint man ihn förmlich seinen Text performen zu sehen: Es scheint ihn nicht auf seinem Schreibtischsessel oder an seinem Rednerpult zu halten, er predigt, bestürmt und beschwichtigt, er gestikuliert, er ringt die Hände, die ganze Sprache dieses Buchs - von seinen vielen Ausrufen bis zur Entschuldigung für kompliziertere Wörter wie "Segregationisten" oder "Assimilationisten" - ist so auf einen Akt der Beschwörung zugeschnitten, dass nicht viel fehlt, und man müsste es bloß ans Ohr halten, um seine Botschaft zu vernehmen. Dabei ist die Botschaft dieses Buchs nicht einmal einzig, wie unfassbar, wie empörend, wie bestürzend präsent und wirkmächtig der Rassismus in den Vereinigten Staaten - denn hierauf konzentriert sich "Stamped" - war und immer noch ist, sondern welches Kalkül, welches Doppelspiel, welche Behauptungen ihn bis heute mit verblüffender Beständigkeit und Wiederkehr ausmachen.
Dabei sei "Stamped" nicht etwa ein Geschichtsbuch, das beteuert Jason Reynolds ein ums andere Mal, sondern ein Remix: ein Spiel mit Versatzstücken des vier Jahre älteren Buchs "Gebrandmarkt - Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika" von Ibram X. Kendi. Mitreißend ist auch dieses Werk für erwachsene Leser, erzählerisch stark und analytisch scharf, dabei stellt hier der erste Satz gleich klar, worum es geht: "Jeder Historiker schreibt zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt und ist von dessen Auswirkungen betroffen", setzt es an.
Mit Abwägungen dieser Art, mit dem Hinterfragen auch der eigenen Position hält Jason Reynolds indes sich und seine Leser nicht groß auf. Auch Namen und Ereignisse, die zumindest in den Vereinigten Staaten wohl alle Jugendlichen kennen, werden nicht weiter erläutert: Rosa Parks wird einmal beiläufig beim Namen genannt, die Jim-Crow-Gesetze werden offenbar als bekannt vorausgesetzt. Jüngere Leser der deutschen Übersetzung wären hier für eine Einordnung bestimmt dankbar. Darauf, was es für diese Leser heißt, aus der aktuellen Situation in Deutschland und mit dem hiesigen historischen Gepäck den Blick auf Geschichte und Gegenwart eines ganz anderen Landes zu richten, beantwortet auch das Vorwort der deutschen Journalistin und Schriftstellerin Alice Hasters nicht. Ihr genügt es, mit "Stamped" Rassismus nicht als "Importprodukt aus den USA" zu sehen, sondern als ein europäisches Konstrukt, das von hier aus "in die Welt exportiert wurde". Und sich in den Vereinigten Staaten unter den Bedingungen der Kolonisierung Nordamerikas, des Unabhängigkeits- und des Bürgerkriegs oder der auf Sklavenarbeit beruhenden Plantagenwirtschaft entwickelt hat.
Dabei sind die Kendi-Samples, die Reynolds für seinen Remix ausgesucht hat, durchaus erhellend: Als "erster Rassist" rechtfertigte Gomes Eanes de Azurara in seinen Schriften als Chronist des portugiesischen Königs in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Versklavung von Afrikanern als missionarischen Akt: Es sei Auftrag Gottes, die "Wilden" zum christlichen Glauben zu bekehren. Rund zweihundert Jahre später haben die Puritaner John Cotton und Richard Mather diese Idee auf die spezifischen Bedürfnisse ihrer Neuen Welt angewandt. Der enge Bezug von Sklaverei, Unterdrückung und Rassismus, von Überlegenheitsbegründungen und der Rechtfertigung von Gewalt gegen Schwarze zu religiösen Überzeugungen lässt sich über die Jahrhunderte nachzeichnen.
Doch Jason Reynolds beleuchtet mit dem Material von Ibram X. Kendi nicht nur die ideologische Fundierung von Rassismus, sondern auch seinen praktischen Nutzen - und zudem den politischen Zwiespalt, in den etwa die Frage führte, ob die Schwarzen bei der Festlegung der Abgeordnetenzahlen einzelner Bundesstaaten Ende des 18. Jahrhunderts mitgezählt werden sollten: Einerseits wollten die Südstaaten die dort lebenden Sklaven nicht zur Bevölkerung zählen, weil das höhere steuerliche Abgaben zur Folge gehabt hätte, andererseits hätte eine höhere Zahl den politischen Einfluss vergrößert. Ein Drei-Fünftel-Kompromiss war die Folge: Fünf Sklaven sollten als drei Personen zählen. Ideologisch bestärkte diese Formel die Assimilationisten in ihrer Ansicht, schwarze Menschen könnten durch immer weitere Anpassung an die Maßstäbe der Weißen immer mehr zu "richtigen Menschen" werden, zugleich stützte sie die Überzeugung der Segregationisten von einer grundsätzlichen Minderwertigkeit der Sklaven. Die Linie, die Kendi und Reynolds mit der Idee einer "Verbesserung durch Selbstverbesserung", die schwarze Amerikaner zu den besseren Weißen machen sollte, von den Abolitionisten bis in die Gegenwart ziehen, gehört zu den hierzulande noch zu wenig beleuchteten Positionen im rassistischen Diskurs. "Peinliche" Spuren davon finden Kendi und Reynolds selbst in Barack Obamas berühmter Rede "A More Perfect Union" im Wahlkampf 2008.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatte Abraham Lincoln ein Wahlrecht für "zumindest die 'intelligenten'" unter den schwarzen Amerikanern in Aussicht gestellt, drei Tage später wurde er Opfer eines Attentats, und sein Nachfolger Andrew Johnson machte diese Versprechen umgehend wieder rückgängig. Freiheit, kommentiert Jason Reynolds, sei in Amerika wie Treibsand: "An der Oberfläche wirkte er stabil, bis ein Schwarzer Mensch darauf zu stehen versuchte. Dann tat sich ein tiefer Abgrund darunter auf." Ein beklemmender Eindruck, der in Varianten bis in die Gegenwart Bestand zu haben scheint.
Auch für erwachsene Leser erhellend sind die Ausführungen zur populärkulturellen Sekundierung rassistischer Tendenzen durch Filme wie "Planet der Affen" und Filmhelden wie Tarzan und Rocky, die mühelos als gesellschaftliche Kommentare verstanden wurden, als sie in Amerika in die Kinos kamen. Rockys Gegner Apollo Creed etwa stellen Kendi und Reynolds vor als Sinnbild für "die Empowerment-Bewegung, die aufstrebende Schwarze Mittelschicht und den echten Schwergewichtsweltmeister von 1976, den Stolz der Schwarzen Männlichkeit und der Black-Power-Bewegung, Muhammad Ali". Gegen ihn verteidigt der Titelheld, so die Lesart, zum einen Recht und Ordnung, aber auch Stolz und Würde des weißen Mannes.
1986 belegte der "Anti-Drug Abuse Act" unter Präsident Reagan den Besitz von fünf Gramm Crack mit einer Haftstrafe von mindestens fünf Jahren. Die gleiche Strafe sollte für den Besitz von fünfhundert Gramm - der hundertfachen Menge - Kokain verhängt werden. Fünf Gramm konnte man bei einem Konsumenten finden, fünfhundert kaum bei anderen als bei Dealern. Dabei geht es um die "gleiche Droge, nur in anderer Form", schreibt Reynolds. Der entscheidende Unterschied: Crack ist eine unter "Schwarzen oder armen Menschen" verbreitete Droge, Koks eher unter Weißen und reichen Konsumenten.
Ihre Fortsetzung findet diese rassistische Tendenz der Analyse von Kendi und Reynolds gemäß bei Bill Clinton, unter dessen Präsidentschaft ein "Violent Crime and Law Enforcement Act" für dreimalig Verurteilte besonders schwere Strafen vorsah. "Bei den Straftaten handelte es sich meist um nicht gewalttätige Drogendelikte", hält Jason Reynolds fest, "und bei den Straftätern meistens um Schwarze Männer". Die Gefängnisse Amerikas füllten sich wie nie zuvor.
In "Stamped" erzählt Jason Reynolds die gesellschaftlichen Diskurslinien, kulturelle Phänomene und politische Konstellationen aus den Analysen Ibram X. Kendis so schlicht wie ergreifend nach und lädt sie dabei rhetorisch auf. Das Buch führt nicht nur Jugendlichen die Entwicklung von Rassismus und Antirassismus in Amerika plastisch vor Augen. Und den Bedarf eines ähnlichen Buchs mit dem Fokus auf die deutsche Geschichte - vom Kolonialismus über die hiesigen Ausprägungen der Rassenlehre, von Antisemitismus, Antiziganismus und der NS-Ideologie insgesamt bis zur Fremdenfeindlichkeit im Umgang mit Gastarbeitern und Geflüchteten. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Jason Reynolds, Ibram X. Kendi: "Stamped".
Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt und Heike Schlatterer. Dtv, München 2021. 256 S., geb., 17,- Euro. Ab 14 J.
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